Hoffnung keimt auf, wenn sich Feministen nicht mehr »queer«, sondern »materialistisch« nennen. Das vergangene Jahr darf mit Sicherheit als das Jahr des sogenannten »materialistischen Feminismus« bezeichnet werden: Seine Vertreter wurden von TOP Berlin zum Symposium geladen, die Humboldt-Universität organisierte ihnen einen dreitägigen Kongress, und eine Wiener Tagung zum Thema zog laut Veranstaltern über 600 Besucher an. Koschka Linkerhand, die als Frontfrau des materialistischen Feminismus durch die Republik tourt, veröffentlichte im letzten Jahr ihren Sammelband Feministisch streiten, das Handbuch der neuen Bewegung. Dass immer größere Teile der radikalen Linken Abstand nehmen von queerer Theorie und Praxis, ist erfreulich. Doch während die heutigen Feministen die Fehler der Dritten Welle der Frauenbewegung nach und nach erkennen, wiederholen sie wider besseren Wissens die der Zweiten.
Keine feministische Veranstaltung und kein noch so kurzer Text kommen ohne den Verweis auf das übermächtige Patriarchat aus, das in allen Ecken lauere und einfach nicht klein zu kriegen sei. Was sich hinter dem Begriff verbirgt, interessiert dabei nur die Wenigsten. Denn längst wissen alle, dass »patriarchatskritisch« zu sein, keine inhaltliche Aussage ist, sondern eine Selbstverortung, die die Zugehörigkeit zur eigenen Szene bekräftigt. Der Kampf gegen das Patriarchat ist der feministische Kitt, der sozial engagierte Akademiker und Punks mit »Macker aufs Maul«-Buttons zusammenbringt. Einige Feministen werfen Provinzpunkern ihr männliches Gehabe vor, andere arbeiten sich am Frauenbild der Neuen Rechten ab und ein paar Wenige üben angeblich sogar Islamkritik. Die einen reflektieren ununterbrochen sprachliche Sexismen, andere beten das Verhältnis von Geschlecht und Kultur in der Dialektik der Aufklärung rauf und runter. Wieder andere wollen im Anschluss an Roswitha Scholz zeigen, dass der Wert lieber Hosen als Röcke trägt. So verschieden die Themen linksliberaler und linksradikaler Feministen auch sein mögen, sie finden immer wieder zusammen, weil sie genau wissen, wo der gemeinsame Feind steht.11 Was gerade seinen Aufstieg feiert, ist eine neue linke Sammlungsbewegung – Aufstehen gegen das Patriarchat.
Das Patriarchat ist tot …
Wenn man auf die Frage, was nun dieses Patriarchat sei, vielleicht doch mal eine Antwort erhält, wird diese ungefähr folgendermaßen ausfallen: Es handle sich um die allgemeine Männerherrschaft, um eine gesamtgesellschaftliche Struktur, die Frauen systematisch benachteilige. Jedenfalls würden wir alle in patriarchalen Verhältnissen leben – darin sind sich zahlreiche Antideutsche, Die Zeit und Heiko Maas einig. Ganz anders würden das die Ikonen der Ersten Frauenbewegung sehen. Für sie stand der Begriff des Patriarchats für eine bestimmte historische Konstellation.
Louise Otto-Peters, die bekannteste Vertreterin der bürgerlichen Ersten Frauenbewegung in Deutschland, bezeichnete 1866 in Das Recht der Frauen auf Erwerb ausschließlich die spätfeudale Familie als »patriarchal«. Im frühen 19. Jahrhundert war das ganze Leben noch auf die Hausgemeinschaft beschränkt – man wohnte und arbeitete am selben Ort. Paradigmatisch für die spätfeudale Familie ist das Haus des Zunfthandwerkers, in dem der Meister, seine Frau und die Kinder sowie der Geselle und der Lehrling alle unter einem Dach lebten und produzierten. Dabei nahm der Vater – in diesem Falle der Meister – eine besondere Stellung ein: Er lenkte die Geschäfte des Hauses. Seine Macht basierte auf persönlichem Zwang gegenüber den anderen Familienmitgliedern; er bestimmte, wie der Laden läuft; alle mussten sich ihm unterordnen. Der Vater war Feudalherr im Kleinen. Gleichzeitig hatte er jedoch die Verantwortung, für das Auskommen aller zu sorgen. Im Unterschied zum heutigen Mann, der oft genug nicht mal für sein eigenes Leben Verantwortung übernehmen will, musste der Vater in der patriarchalen Familie die ganze Hausgemeinschaft organisieren. Der Begriff des Patriarchats begann seine feministische Laufbahn also in seiner wörtlichen Bedeutung, als Verallgemeinerung vom »herrschenden Vater« der Familie im frühen 19. Jahrhundert. Für die Erste Frauenbewegung bezeichnete das Patriarchat ein bestimmtes Familiensystem, das sich zu ihrer Zeit schon aufgelöst hatte.
Der technische Fortschritt der Produktionsmittel führte zu massiven Veränderungen in der Produktionssphäre, so dass der feudalen Lebensweise der Boden entzogen wurde. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die Auflösung traditioneller Hausgemeinschaften, ausgelöst durch Industrialisierung und Aufhebung des Zunftzwangs. Produziert wurde jetzt vermehrt in der Fabrik oder zumindest in größeren Betrieben. Wer weiter als kauziger Handwerksmeister zuhause arbeiten wollte, bekam das Diktat des Marktes zu spüren. Mit der Veränderung der Produktionsverhältnisse bildeten sich neue Formen familiären Zusammenlebens heraus: die bürgerliche und die proletarische Familie. Wohnung und Arbeitsort waren jetzt räumlich getrennt. Die Familie entstand als Privatbereich, Kindererziehung und gegenseitige Fürsorge zwischen den Familienmitgliedern gewannen an Gewicht. Das Ideal der romantischen Liebe setzte sich durch. Weder dem proletarischen noch dem bürgerlichen Vater gelang es noch, die Rolle des Patriarchen in der traditionellen Familie zu besetzen. Die Herrschaft des kleinen Feudalherrn war unwiderruflich gebrochen.12 Die Erste Frauenbewegung bezeichnete deshalb die entstehenden bürgerlichen Verhältnisse nicht mehr als patriarchal. Für sie war das Patriarchat Indikator dafür, die Veränderungen der Familienformen und Geschlechterbeziehungen durch die einsetzende kapitalistische Entwicklung verständlich zu machen.
… es lebe das Patriarchat!
Mit dem Aufkommen der Zweiten Frauenbewegung Ende der 1960er-Jahre änderte sich die Bedeutung von ›Patriarchat‹ schlagartig: Sie wurde von konkreten gesellschaftlichen Zuständen abgelöst. Seitdem bezeichnet der Begriff überhaupt nichts Wirkliches mehr, sondern ist zum Label verkommen, unter dem gedankenlos sämtliche Benachteiligungen von Frauen eingeordnet werden. Indem über alle Räume, Zeiten und gesellschaftlichen Dimensionen hinweg verallgemeinert wird, geht die Fähigkeit zur Differenzierung verloren. Der Patriarchatsbegriff wird damit leer und unbrauchbar. Wer bei jeder Gelegenheit mit ihm um sich wirft, erweist dem feministischen Anliegen einen Bärendienst. Eine fundierte Analyse des Geschlechterverhältnisses wird so verunmöglicht. Sie müsste gerade die weltweiten Unterschiede und historischen Veränderungen zu ihrem Ausgangspunkt machen und die Frage stellen, warum, wo und wie Frauen konkret benachteiligt werden.
Diese Kritik an der Universalisierung des Patriarchatsbegriffs war bereits in der Zweiten Frauenbewegung präsent – vertreten durch ihren vernünftigeren Teil, der die Gesellschaftskritik nicht so leichtfertig auf dem Altar der feministischen Einheit opferte. Karin Hausen, eine Pionierin der historischen Geschlechterforschung, erklärte etwa 1986 in ihrem Artikel Patriarchat. Vom Nutzen und Nachteil eines Konzepts für Frauengeschichte und Frauenpolitik, der Ausdruck werde »inflationär als Flickwort« verwendet. Sobald man mit seinem Latein am Ende ist, muss eben das übermächtige Patriarchat als stumpfe Welterklärung herhalten. Noch heute machen sich die Wenigsten die Arbeit, dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Egal worum es geht – sei es Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt oder Genitalverstümmelung – schuld ist immer das Patriarchat.
Hausen blieb dabei jedoch nicht stehen, sondern erklärte auch, warum die Begriffslosigkeit für ihre Zeitgenossen so verlockend war. Ihr zufolge ist die Rede vom Patriarchat »ein politisch nützlicher Kampfbegriff«. Sie fügte hinzu: »Die Kampfansage gegen das ›Patriarchat‹ und die ›patriarchalischen‹ Verhältnisse [dienen] als gemeinsamer Nenner der politischen und wissenschaftlichen Mobilisierung und Verständigung«. Dem schloss sich Gudrun-Axeli Knapp, die in den 1980er- und 90er-Jahren die Frauenforschung mit an der Kritischen Theorie geschultem Denken herausforderte, in Die vergessene Differenz von 1988 an: »Unübersehbar ist […] die politische Bindefunktion des Konzepts [Patriarchat], die mit einer starken affektiven Besetzung verbunden ist. Auf die Aufforderung, zu differenzieren – so meine Erfahrung in der Lehre und in Diskussionen in autonomen Zusammenhängen – wird daher häufig mit Angst vor Orientierungsverlust und Abwehr von Theorie reagiert.«
Dass Hausens und Knapps Analyse noch mehr als drei Jahrzehnte später von bestechender Aktualität ist, stellt ein Armutszeugnis für den Feminismus aus. Der schwammige Patriarchatsbegriff, den die Frauenbewegung seit der Zweiten Welle mit sich herumschleppt, hat noch nie dabei geholfen, die Gesellschaft zu verstehen, weil er alle wichtigen Fragen zudeckt. Er dient vielmehr als Welterklärung, mit der sich jede inhaltliche Leerstelle überdecken lässt, sowie als Kampfbegriff, der die feministische Szene zusammenhält, weil er so unkonkret bleibt, dass sich jeder unter ihm vorstellen kann, was er will. Mit ihm lässt sich hervorragend Politik machen: Wenn irgendetwas »patriarchal« genannt wird, weiß zwar niemand genau, was das bedeutet – der moralischen Empörung kann man sich aber sicher sein.
Die sogenannte Islamkritik der materialistischen Feministen belegt, dass sich seit den 1980er Jahren nicht viel verändert hat. Koschka Linkerhand erzählt in Feministisch streiten: Die Entrechtung von Frauen durch den Islam sei schlimm, und das Kopftuch als Symbol auch. Jedoch sei die Situation von Frauen im Islam strukturell der im Westen ähnlich, weil es in beiden Fällen das Patriarchat sei, das sie unterdrücke. Deshalb kommt sie zu dem Schluss, Burka und Spitzen-BH seien nur zwei Seiten derselben Medaille.13 Von Islamkritik zu sprechen, um dann islamische Frauenfeindlichkeit zu relativieren, indem man hauptsächlich angebliche Gemeinsamkeiten mit dem Westen erfindet, ist übler Zynismus. Die systematische Unbestimmtheit des Begriffs vom Patriarchat basiert nicht nur auf einer falschen Analyse, sondern tendiert bereits zum Verrat an unter dem Islam leidenden Frauen.14 Zuallererst hätte man festzustellen, dass es sich um völlig unterschiedliche Verhältnisse handelt, dass also das islamische Frauenbild vom westlichen strikt zu unterscheiden ist.
Revolutionärer Geschlechterkampf
So modern sich die materialistischen Feministen auch geben, so alt ist ihre Verwendung des Patriarchatsbegriffs – und so alt sind ihre theoretischen Grundlagen. Den Großteil hat man sich von der EXIT!-Theoretikerin Roswitha Scholz geborgt. Ihre sogenannte »Wert-Abspaltungs-Kritik« aus den 1990er-Jahren besagt, dass die kapitalistische Gesellschaft nur bestehen könne, weil Männer Frauen strukturell ausbeuten. Der Wert sei männlich und habe eine abgespaltene Schattenseite, die weiblich sei. Deshalb sei die Produktionssphäre – die Arbeit im Betrieb, wo man viel Geld verdiene – Sache der Männer. Die Reproduktionssphäre – Kindererziehung, Pflege, Haushalt sowie Interesse am Anderen, das man heute nur noch als »emotionale Arbeit« kennt – sei Sache der Frauen. Diese Trennung männlicher und weiblicher Sphären sei die Grundlage des allgemeinen Patriarchats, das immer weiter bestehen müsse, solange die kapitalistische Gesellschaft existiert, weil der Wert selbst ja männlich sei. Es wird behauptet, alle Menschen würden im warenproduzierenden Patriarchat leben, und die Unterdrückung der Frau ermögliche erst dies Produktionsverhältnis.
Die materialistischen Feministen haben diese Thesen in Gänze übernommen. Nur: Mit der Wertkritikerin Scholz lässt sich keine Revolution machen, schon gar kein Aktivismus begründen. Denn Scholz wartet weiterhin stur auf das (kurz bevorstehende) Ende kapitalistischer Vergesellschaftung. Deshalb muss ein zweites Standbein her: das politische Subjekt Frau. Die Idee dahinter ist, dass sich alle Frauen als Schwestern begreifen müssten, die das gleiche Los teilen. Sie sollen sich als Frauen begegnen, organisieren, gegenseitig unterstützen und gemeinsam gegen die Männer auf die Barrikaden gehen. Dieses Konzept einer nach innen schützenden und nach außen aggressiven Schwesternschaft zwischen allen Frauen ist ebenfalls ein Erbe der zweiten Frauenbewegung, für das nicht zuletzt Alice Schwarzers Kleiner Unterschied von 1975 steht.
Beide Elemente zusammengenommen – das Patriarchat als universelles Strukturprinzip der Gesellschaft und das Kollektivsubjekt Frau, das es umwerfen soll – ergeben recht genau den Stand des Feminismus in den Siebzigerjahren. Die frühe Zweite Frauenbewegung machte Männer und Frauen zu zwei Klassen der Gesellschaft, die sich unversöhnlich gegenüberstünden. Eindrucksvolles Beispiel dafür ist Shulamith Firestones Frauenbefreiung und sexuelle Revolution von 1970, das als einer der großen Klassiker des Feminismus gilt.15 Auch die französische Feministin Christine Delphy, die bereits 1976 einen Artikel mit Für einen materialistischen Feminismus überschrieb, blies das Patriarchat zum Hauptwiderspruch der Gesellschaft auf.16 Über die unterdrückte Klasse der Frauen erzählten die Feministen der 1970er Jahre genau das, was Linke seit jeher über die Arbeiterklasse sagen. Das heißt, dass Frauen im selben Sinne eine unterdrückte Klasse seien wie Arbeiter. Alle Mitglieder des unterdrückten Geschlechts befänden sich objektiv in der gleichen Lage. Frauen hätten deshalb ein geteiltes Interesse daran, das bestehende System umzuwerfen. Nur sie könnten die Falschheit der Verhältnisse erkennen, weil sie einen bestimmten Standpunkt und geteilte Erfahrungen hätten. Deshalb müssten sich Frauen organisieren, um im gemeinsamen Kampf gegen ihre Unterdrücker eine Revolution zu erfechten, die sie emanzipiert und die gesellschaftliche Herrschaft abschafft.
Die frühe Zweite Frauenbewegung richtete also den Geschlechterkampf nach dem Vorbild des Klassenkampfes aus. Das politische Subjekt Frau entspricht dem Proletarier, das Geschlechterverhältnis ersetzt das Kapitalverhältnis. Dieses Denken greift der aktuelle materialistische Feminismus wieder auf. Begründet liegt es seinerseits in den spezifischen Voraussetzungen der Zweiten Frauenbewegung Ende der 1960er Jahre.
Marx feministisch gelesen
Die späten 1960er Jahre waren die Zeit der europäischen Studentenbewegungen und der New Left in den USA. Die New Left knüpfte nicht an den Marxismus der alten Arbeiterbewegung an – der war ohnehin tot –, sondern nahm Impulse aus der Bürgerrechtsbewegung auf. Es wurde weniger über die Befreiung aller Menschen gesprochen als über die Unterschiede zwischen den Menschen, insbesondere über Hautfarbe, Geschlecht und Sexualität. Auch in Deutschland wurde der Universalismus, die Idee der einen Menschheit, durch den Partikularismus abgelöst, der jedem Grüppchen sein Stück vom Kuchen garantieren soll. In dieser Verschiebung spiegelt sich unter anderem wider, dass man die Grenzen des ökonomischen Wachstums bereits erahnen konnte. Ohne den Siegeszug des Partikularismus lässt sich die Entstehung der Zweiten Frauenbewegung nicht erklären. Im gleichen Maße war sie jedoch ein Zerfallsprodukt der 68er-Bewegung.
Die deutsche Studentenbewegung war mit dem Ziel angetreten, die Verhältnisse umzuwerfen. Recht schnell wurde jedoch klar, dass daraus nichts werden sollte. Spätestens als alle Proteste gegen die Notstandsgesetze und der Generalstreik in Frankreich gescheitert waren, musste man einsehen, dass die Revolution nicht auf der Tagesordnung stand. Aus dem Gefühl der Niederlage suchten verschiedene Gruppen unterschiedliche Auswege. Den endgültigen Zerfall der Studentenbewegung markieren die RAF, die K-Gruppen und die Neuen Sozialen Bewegungen. Letztere gaben die Kritik der Gesellschaft zugunsten partikularer Themenfelder wie Frieden oder Atomkraft auf.
Der Beginn der Zweiten Frauenbewegung hängt eng zusammen mit dem Zerfall der Studentenbewegung. Sie wendete sich einer der Partikularitäten zu, die nun zu dominieren begannen – dem Geschlecht. Ihre Voraussetzungen waren dabei recht günstig: Erstens erlangten junge Frauen in den 1960er Jahren ein neues Selbstbewusstsein. Ihnen erschienen die letzten im Zerfall begriffenen Schranken daher als vollkommen unzeitgemäß, sodass sich ein großes Potenzial für die neue Bewegung ergab. Zweitens hatten die männlichen Genossen des SDS bewiesen, dass ihnen die Anliegen von Frauen nicht allzu wichtig waren. Das Aufbegehren der Frauen gegen sie, zu dessen Symbol der Tomatenwurf Sigrid Rügers auf Hans-Jürgen Krahl bei der 23. Delegiertenkonferenz des SDS wurde, war nachvollziehbar und öffentlich vermittelbar.
All diese Faktoren trugen dazu bei, dass das Geschlecht politisch so zentral werden konnte. Während die neu entdeckte Partikularität ihren eigenen Stellenwert erhielt, musste sie allerdings mit den Kategorien vermittelt werden, die man schon kannte. Da gesellschaftskritisches Denken noch mit dem Erbe von Marx und Engels verfilzt war, wurde das Patriarchat kurzerhand zum Strukturprinzip der Gesellschaft erklärt und der Geschlechterkampf nach der Schablone des Klassenkampfs geformt. So mutete der Feminismus revolutionär an und konnte an bisherige Überzeugungen anknüpfen. Dass die Protagonisten der frühen Zweiten Frauenbewegung mit Marxschen Begriffen hantierten, dürfte weniger daran gelegen haben, dass diese so gut auf den Gegenstand gepasst hätten, als an ihrem bekannten und revolutionären Klang.
Der heutige materialistische Feminismus knüpft mit seinen Kategorien an die Zweite Frauenbewegung an. Das Patriarchat als universelles Strukturprinzip der Gesellschaft und das politische Subjekt Frau sind relativ einfache Übertragungen des marxistischen Vokabulars, mit denen man in der Linken gut Anschluss findet und sich einen gesellschaftskritischen Anstrich verpassen kann. Zum Verständnis des Geschlechterverhältnisses tragen sie hingegen kaum etwas bei. Damit werden die Fehler der Zweiten Frauenbewegung schlichtweg wiederholt.
Neue Fronten, alte Einheit
Zwar ist der materialistische Feminismus keineswegs so neu wie er behauptet und wärmt vieles auf, was aus der Zweiten Frauenbewegung bekannt ist. Sein Kontext ist aber ein anderer. Heute finden die allermeisten Feminismus ganz wichtig, obwohl und weil sich die gesellschaftliche Situation von Frauen in den letzten 50 Jahren verbessert hat. Der größte Gegner des materialistischen Feminismus ist deshalb auch nicht die angeblich so sexistische Gesellschaft, sondern der Queerfeminismus. Ihn will man vor allem übertrumpfen. Die Chancen dafür stehen gut, zumal man seinen Anhängern mit der Beschwörung von weiblicher Identität und Schwesternschaft ein gutes Stück entgegenkommt, das heißt, vieles mit ihm teilt.
Der Kampf gegen die konkurrierende Queer-Strömung prägt die materialistischen Feministen. Sie belobhudeln vor allem die eigene Bewegung und versuchen, möglichst viele Anhänger hinter sich zu scharen, machen also Politik im schlechtesten Sinne. Dadurch wird das, worauf es ankäme, zweitrangig: das Begreifen der Gesellschaft. Das würde unter anderem bedeuten, Begriffe – wie den des Patriarchats – nicht als Universalwaffe, sondern mit einem klaren Erkenntnisinteresse zu verwenden. In dieser Hinsicht könnten heutige Feministen einiges von der Ersten Frauenbewegung und gewissen Teilen der Zweiten lernen.
Die Chancen dafür wiederum stehen aber denkbar schlecht, denn der materialistische Feminismus recycelt eine weitere unselige Tradition der Zweiten Frauenbewegung: Seine Betonung der Schwesternschaft zwischen allen Frauen ist nicht bloß Ausdruck eines verkehrten Verständnisses der Gegenwart, sondern ebenso der Suche nach weiblichem Zusammenhalt geschuldet. Als Basis für den Feminismus empfiehlt Koschka Linkerhand in Feministisch streiten neben »Schwesterlichkeit« auch »Leidenschaft«, ein »solidarisches und enthusiastisches Zusammenhalten« sowie einen »liebevollen oder gar erotischen Umgang unter Frauen«. Sie schreibt: »Feminismus entsteht dort, wo Frauen die Lust und Notwendigkeit spüren, sich aufeinander als Frauen zu beziehen und einzulassen«. All das sind wichtige Voraussetzungen für eine lesbische Beziehung, nicht aber für Gesellschaftskritik. Zu diesem Bedürfnis einer gefühlsmäßigen Verbundenheit wurde in der feminismuskritischen Frauenzeitschrift Die Schwarze Botin bereits alles gesagt. In deren erster Ausgabe von 1976 erklärten die Herausgeber zu ihrer »Beziehung zur Frauenbewegung«, sie »beginnt für uns da, wo der klebrige Schleim weiblicher Zusammengehörigkeit sein Ende hat.«
Paul-Holger Seiden
Verwendete und weiterführende Literatur:
Christine Delphy: Close to Home. A Materialist Analysis of Women’s Oppression, Amherst 1984.
Die Schwarze Botin: Schleim oder Nichtschleim, das ist hier die Frage. An Stelle eines Vorwortes, in: Die Schwarze Botin, Bd. 1, 1976, teilweise nachgedruckt in: Ilse Lenz (Hg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008.
Shulamith Firestone: Frauenbefreiung und sexuelle Revolution, Frankfurt a.M. 1975.
Karin Hausen: Patriarchat. Vom Nutzen und Nachteil eines Konzepts für Frauengeschichte und Frauenpolitik, in: Journal für Geschichte 1986, Nr. 5.
Gudrun-Axeli Knapp: Die vergessene Differenz, in: Feministische Studien, Bd. 6, Nr. 1, 1988, nachgedruckt in: Gudrun-Axeli Knapp: Im Widerstreit. Feministische Theorie in Bewegung, Wiesbaden 2012.
Koschka Linkerhand (Hg.): Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen, Berlin 2018.
Louise Otto-Peters: Das Recht der Frauen auf Erwerb. Blicke auf das Frauenleben der Gegenwart, Berlin 2015.
Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1982.
Roswitha Scholz: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef 2000.
Alice Schwarzer: Der kleine Unterschied und seine großen Folgen. Frauen über sich. Beginn einer Befreiung, Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2002.
Alice Schwarzer (Hg.): Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz, Köln 2002.
Anmerkungen:
11 Linkerhand macht daraus auch gar kein Geheimnis. In der Einleitung zu Feministisch streiten erklärt sie: »[Es] muss im Vordergrund stehen, dass – bei aller notwendigen innerfeministischen Kritik – der Feind das Patriarchat ist, nicht die andere Feministin.« Damit ist übrigens gleich mitgesetzt, dass es Kritik nur innerfeministisch geben darf. Was das für die Kritik Außenstehender bedeutet, beleuchtet das Flugblatt der AG No Tears for Krauts in diesem Heft.
12 Zum historischen Wandel der Familienformen vergleiche Heidi Rosenbaums Studie Formen der Familie.
13 Im Kapitel Nestbeschmutzerinnen. Zum Stand der feministischen Islamkritik schließt sich Linkerhand der Behauptung Alice Schwarzers an, dass »Verhüllung und Entblößung von Frauenkörpern zwei Seiten derselben patriarchalen Medaille sind«, die im Vorwort zu Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz auftaucht. Dort verkennt auch Schwarzer die elementaren Unterschiede zwischen westlichem und islamischem Frauenbild, zumal sie fortfährt, dass auf der Medaille »geschrieben steht: Frauen sind der Besitz der Männer«.
14 Es reicht schon jetzt so weit, dass Linkerhand auf Abstand geht zu den Islamkritikern Necla Kelek und Ayaan Hirsi Ali, weil sie unter anderem »für patriarchale Strukturen im Westen unempfindlich« seien.
15 Das Buch ist auch bekannt unter seinem englischen Originaltitel The Dialectic of Sex. The Case for Feminist Revolution.
16 Der Text heißt im französischen Original Pour un feminisme materialiste und findet sich in englischer Übersetzung im Sammelband Close to Home. A Materialist Analysis of Women’s Oppression.
Für oder wider Scholzes These, dass die abgespaltene Seite der Produktion dieselbe erst ermögliche, kann ich nichts sagen. Ein Stück weit zu ihren Gunsten scheint es mir jedoch nicht möglich einen Patriarchatsbegriff auf die häusliche Feudalproduktion zu begrenzen. In der nachfeudalen Zeit deswegen nicht, weil die gelangweilte Hausfrau des wohlhabenden Bürgers und die unter anderer ökonomischer Bedeutung fortgesetzte Frauenarbeit im Haus des Arbeiters zumindest auch als Überreste des Patriarchats zu verstehen wären. In der vorfeudalen Zeit, wie auch danach, wäre zwar Patrilineratität nicht mit Patriarchat zu verwechseln, dennoch der Maßstab der wirklichen Möglichkeiten und rechtlichen Setzung heranzuziehen, weshalb wohl einige
Gesellschaften, sei es in verschiedener Ausdifferenzierung Rom zu verschiedenen Zeiten oder das antike Griechenland patriarchal zu nennen sind. Gerade solche relative Kontinuität in der Geschichte, sollte
das bürgerliche und proletarische Verhältnis nicht zum völlig anderen erklären, sondern ein herrschaftliches Verhältnis über die Frau auch dort erkennen lassen, wo es nicht in völlig untergeordneter Arbeitsbeteiligung im Haushalt besteht, sondern am wirklichen Machtverhältnis eines einzelnen Mannes, vorallem als Familienoberhaupt, über seine Frau und weitere weiblichen Familienmitglieder.
Rechtlich reicht dies auch weit in die bürgerliche Zeit, dessen prominentester Überrest wohl das Männerwahlrecht gewesen sein dürfte.
Was sollte es am Begriff des Patriarchats sein, das ein solch ausgedehnteres Verständnis auf Recht und praktische Teilhabe, bzw dessen fortdauernde Reste verunmöglicht?
Du sagst es schon selbst: Wenn die Hausfrau des Gutverdieners vor allem häusliche Arbeit verrichtet – übrigens ist diese Familienform ein Auslaufmodell – dann ist das ein Überrest des Patriarchats. Ein Überrest von etwas ist nun etwas anderes als das Ding selbst. Aber diejenigen, die vom Patriarchat reden, bezeichnen damit ja die heutige Gesellschaft.
Der Patriarchatsbegriff ist genau dort richtig, wo er ein eindeutiges Erkenntnisinteresse verfolgt. So etwa um aufzuschließen, dass die Geschlechterrollen einmal zu Bedinungen der Gesellschaftsordnung festgezurrt waren.
Davon kann heute aber längst keine Rede mehr sein. Was es gibt, sind verschiedene Benachteiligungen von Frauen sowie allerlei verschenkte Potenziale zwischen den Geschlechtern. Wer das als „Patriarchat“ bezeichnet, spreizt diese versprengten Phänomene zum gesellschaftlichen Strukturprinzip auf – das impliziert einerseits die Bedeutung des Begriffs selbst, andererseits seine Verwendungsgeschichte.
Ich verstehe die Frage nicht ganz.
„Wir leben im Zeitalter der alleinerziehenden Muetter, der Lebensabschnittspartnerschaften und der Singles – Papa ist schon lange tot und deshalb froh, wenn er mal den Kinderwagen schieben darf.“
(Wolfgang Pohrt)
Dass es eine Herrschaft des Patriarchats gab, bestreitet niemand. Doch da die Erhoehung der Kapitalakkumulation Synthesis gesellschaftlicher Vermittlung ist, waere es nicht im Sinne der Profitmaximierung, Banalitäten wie das Geschlecht, die Herkunft, die Kultur oder Religion als Ausschlusskriterien in einer zunehmend polyzentrisch und grenzenlos werdenden Welt zu setzen.
Warum haelt die Frau am patriarchalen Familienoberhaupt fest? Warum laesst sie sich nicht scheiden?
Holla Holger, wie begründest du bei solchen Statistiken, die zeigen, dass in vielen kapitalistischen Ländern ca 50% der Frauen arbeiten und Frauen durchschnittlich ca 2 Stunden mehr Hausarbeit verrichten, dass das Patriarchat nach deinen Begriffen ein Auslaufmodell ist?
(https://www.catalyst.org/research/women-in-the-workforce-global/)
Wie erklärst du dir Misogynie und Antifeminismus bei den neuen Rechten?
Kannst du, außer lückenhafte feministische Theorien zu kritisieren, selbst sinnvolle Theorien über Ungleichheit anbieten? Theorien, die sich auf wirkliche Widersprüche stützen, und damit wirklich feministischer Praxis nützen können? Oder willst du dich ernsthaft gegen feministische Praxis stellen?
Schleimige Grüße
Ola Hilde,
auch wenn es bequem ist, auf das ausgestorbene Patriarchat alle Ängste und Sorgen zu projizieren, scheint es so, als würde das Festhalten an der Verteufelung des Patriarchats doch zumindest traditionelle Anknüpfungspunkte in einer unübersichtlichen Welt und gemeinschaftsstiftender Kitt für isolierte Einzelne im Kampf gegen das Böse bieten können. Sich gegen die Kenntnisnahme radikaler Veränderungen zu sperren, die sich anhand der Existenzweise von Frauen in den letzten hundert Jahren beobachten lässt, spricht für einen gegen Erkenntnis abgedichteten Zugang zur Welt.
Im Übrigen verrät die Entweder-Oder-Rhetorik – für oder gegen den Feminismus – viel über die feministische Resistenz gegenüber Kritik im Allgemeinen.
Über die in ihrer Wirkung absolut überschätzte Neue Rechte zu schwadronieren, ist wenig ergiebig, zumal der Diskussionsgegenstand im obigen Text ein anderer ist.
Sachsen-Anhalt ist unfreiwillig Vorreiter im Kampf für den Feminismus:
https://www.deutschlandfunk.de/gleichberechtigung-in-sachsen-anhalt-verdienen-frauen-mehr.766.de.html?dram:article_id=394127
Ist die Wirklichkeit in Sachsen-Anhalt deshalb irgendwie besser?