„Ein Stein wird geschmissen/
Demokratie in Gefahr/
Alles, was der Stura sagt/
Ist wahr“ (frei nach „…But Alive“)
Die Freude ist groß. Nach der Auflösung der AG Antifa durch den Stura der Uni Halle stießen nicht nur Felix Stock und Co. von der Offenen Linken Liste, der Grünen Hochschulgruppe und den Uni-Jusos an; auch die einschlägigen Nazikreise überschlagen sich seither in Begeisterung. Das passiert nicht nur in den obligatorischen Kommentarspalten, wo die Mitglieder der AG Antifa ins Arbeitslager gewünscht, als „Viehzeug“ und „Dreck“ bezeichnet werden, sondern auch in offiziellen Stellungnahmen. So meldeten sich auch die Hardcorenazis vom „Dritten Weg“ zu Wort: „Dass nun endlich die [sic!] ‚AK Antifa‘ aufgelöst wird, ist längst überfällig…“
Solche Reaktionen waren abzusehen. Auch deshalb dürfte es am Abend des Verbots der AG Antifa zu einer Spontandemonstration gegen die objektive Anti-Antifa-Arbeit des Stura gekommen sein. Dabei soll ein Stein in ein Fenster des Sturagebäudes geflogen sein. Laut Polizeimeldung gab es keine Verletzten; einige Stunden später sprach der Stura bereits von mehreren Leichtverletzten. Morgen werden es sicher schon Dutzende Schädel-Hirn-Traumata gewesen sein. Aus der, wie es in jüngster Zeit so schön postmodern heißt, „Perspektive“ der Sturamehrheit ist das möglicherweise noch nicht einmal ganz falsch. Da die Lautsprecher der OLLi, der GHG und der Jusos anscheinend nicht gelernt haben, zwischen Innen und Außen zu unterscheiden, verwechseln sie jeden Widerspruch mit einer schweren Verletzung: „Ihr habt uns sehr, sehr wehgetan, weil ihr euch nicht freiwillig gelöscht habt, ey!“
Auffällig ist zudem die breite Empörung über den Stein. Auch sie reicht von der Jugendwerkhof- und Mauerschützenpartei „Die Linke“ über die SPD, die sich immer noch nicht von ihrer Rolle bei der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts distanziert hat, bis zum „Dritten Weg“. Er beklagt sich darüber, dass der Stura „jetzt den Zorn der roten Banden“ ernte. Eine linke Aktivistin, die gern auch mal als DJ im örtlichen Bürgerradio „Radio Corax“ und im Club „Charles Bronson“ auflegt, führte eine doppelte Opferrolle rückwärts auf und verglich die Spontandemonstration sogar mit dem antisemitischen Anschlag von Halle, bei dem ein Neonazi zu Yom Kippur 2019 die Besucher der Synagoge im Paulusviertel ermorden wollte. Zwei Menschen wurden von ihm erschossen. Dieser mehr als geschmacklose Vergleich zeigt noch einmal die vollkommene geistige Entgrenzung des Milieus: In seinem Drang, sich selbst als Opfer zu präsentieren, schreckt es noch nicht einmal davor zurück, einen antisemitischen Anschlag zu relativieren. Die Morde werden verharmlost, indem sie mit Glasbruch verglichen werden.
Über diese wachsame Verharmlosung eines der schwersten antisemitischen Verbrechen der deutschen Nachkriegszeit gab es bisher allerdings keine Empörung. Auch haben sich die Linke, die SPD und die Grünen bisher nicht von der objektiven Anti-Antifa-Arbeit ihrer studentischen Nachwuchstruppen distanziert. Die Empörung über die zumeist transaktivistischen Gewaltaufrufe, Gewaltandrohungen und anderen Straftaten, mit denen das Verbot der AG Antifa vorbereitet und begleitet wurde, hielt sich entweder in engen Grenzen oder blieb zumeist vollkommen aus. Da sie zur Vor- und Beigeschichte der aktuellen Entwicklung gehören, seien zumindest einige von ihnen hier dokumentiert.
September 2021: Freunde der AG Antifa verteilen beim CSD in Halle Flyer, um für ein Vortrag zur Kritik von Ausprägungen des Transaktivismus zu werben (siehe September 2021). Einer der Verteiler wird dabei von Sarah Einzel, der Landessprecherin der Grünen Jugend in Sachsen-Anhalt, körperlich angegangen. Einzel ist auch an der Organisation der Proteste vom September 2021 beteiligt.
September 2021: Die AG Antifa lädt zu einer Veranstaltung mit Hannah Kassimi und Vojin Sasa Vukadinovic ins VL ein, bei der einige Entwicklungen des Transaktivismus kritisiert werden sollen. Schon im Vorfeld gibt es Drohungen, Gewalt- und Störaufrufe. Vom Account der damaligen Sturavorsitzenden Klara Stock (bald wahlweise Felix oder Klara) wird das intern mit dem Stura besprochene Sicherheitskonzept der AG Antifa an die Öffentlichkeit weitergegeben. Es erscheint mit Stocks Mailadresse in den sozialen Netzwerken. Stock gibt die Beatrix von Storch („Ich bin auf der Maus ausgerutscht!“) und behauptet, nichts damit zu tun zu haben. Die Nachricht sei von ihrem Account aus weitergeleitet worden, als sie kurz nicht am Rechner saß. Am Tag des Vortrags gibt es eine Demonstration zum VL, an deren Spitze Stock läuft, die Demonstranten fordern in ihren Sprechchören, „Banden zu bilden“, die AG Antifa „platt“ zu machen und ihr „auf die Fresse!“ zu geben. Besuchern des Vortrags werden von Demonstranten, die sich vor dem VL versammeln, wiederholt Schläge angedroht. Bei der Demonstration verteilen Mitglieder des AK „Queer einsteigen“ im Stura Flugblätter, auf denen Lügen über die AG Antifa verbreitet werden: Sie würde mit dem Rechtsaußen Jürgen Elsässer zusammenarbeiten, lade antisemitische Referenten ein usw. Es kommt wahrscheinlich nur aufgrund der Polizei, die von der AG Antifa im Vorfeld in Kenntnis gesetzt wurde, nicht zu Übergriffen auf Teilnehmer der Vortragsveranstaltung. Die Flyer wurden zuvor im Stura von Glen Siegemund gedruckt. Glen Siegemund, Initiator von “Call me by my name”, war zu dem Zeitpunkt neben Klara Stock zweiter vorsitzender Sprecher des Stura.
Oktober 2021: Kurz nach dem Vortrag finden sich am VL Schmierereien, mit denen zur Gewalt gegen politische Gegner aufgerufen wird („Terfs boxen!“).
November 2021: Angehörige des Milieus erkundigen sich offensiv nach der Adresse eines jungen Antifaschisten, der sich in den sozialen Netzwerken kritisch zur Störung der Veranstaltung der AG Antifa und dem Verbotsantrag geäußert hat.
Februar 2022: Am VL finden sich erneut Schmierereien, in denen zur Gewalt gegen sogenannte „TERFS“ und insbesondere die Autorin und Referentin Naida Pintul aufgerufen wird („Terfs boxen“, „Hetenknechtung“).
März 2022: Angehörige des Milieus bedrohen zum Teil noch minderjährige Antifaschisten abends auf öffentlicher Straße und werfen ihnen vor, transfeindlich zu sein.
März 2022: Während des Demonstrationszug zum internationalen Frauenkampftag wurden mehrere Graffiti auf den Boden gesprüht, u.a. „Terfs boxen“ und „Kill your lokal Täter“.
April 2022: Das „Radikale Flinta-Kollektiv“ ruft zu einer Demonstration mit dem Titel „Raise your Voice against Terfs“ auf. Im Vorfeld tauchen an mehreren Stellen der Stadt Parolen mit Gewaltaufrufen wie „Terfs jagen“ und „Terfs boxen“ auf. Im Mobilisierungsvideo sind Vermummte in Militanzposen zu sehen, im Mobilisierungssong heißt es: „Jetzt gibt’s endlich auf die Fresse!“
April 2022: Eine Angehörige des Milieus postet öffentlich Morddrohungen auf Instagram: „Ich gehe heute in die Reile [gemeint ist das kulturelle Zentrum ‚Reilstraße‘] und ershoote den ersten Schwanz, den ich von den Krauts [gemeint ist die AG No Tears for Krauts, die bei der oben genannten Demo Flugblätter verteilte] wieder erkenne.“
Mai 2022: Auf den „Linken Laden“ und das Frauenzentrum „Dornrosa“ wird ein Anschlag mit Farbbeuteln verübt. Dazu wird die Parole „Terfs boxen“ an die Wände geschmiert. Im Frauenzentrum hatte kurz zuvor ein von der Gruppe Artemis veranstalteter Vortrag stattgefunden, in dem sich kritisch mit Intersektionalität und der Debatte um das Kopftuch auseinandergesetzt wurde. Der „Linke Laden“ gilt als Treffpunkt der Linksjugend, die diesen Vortrag zuvor in der Martin-Luther-Universität veranstalten wollte, der Raum wurde aber nach Intervention des Stura gestrichen. Das „Radikale Flinta-Kollektiv“, dem auch Stura-Sprecher Anton Borrmann und Felix Stock, einer der zentralen Protagonisten des Verbots der AG Antifa, angehören und das unbestätigten Gerüchten zufolge für den Anschlag verantwortlich sein soll, distanziert sich halbherzig davon. Zugleich heißt es in seiner Stellungnahme: „Schmieraktionen und Farbangriffe finden wir verständlich, aber an anderen Adressen.“ Das „Radikale Flinta-Kollektiv“ hieß kurz zuvor noch „Militantes Flinta-Kollektiv“.
Juli 2022: Aus einem Schrank im Sturagebäude werden mehrere Kisten mit Büchern gestohlen, die die AG Antifa bei ihren Veranstaltungen auf einem Büchertisch anbietet. Der Schrank wird aufgebrochen, Zugang zum Sturagebäude haben nur Mitglieder des Sturas. Der Schaden beträgt mehr als 1.500 Euro.
Juli 2022: Das „Radikale FLinta-Kollektiv“, dem mehrere Personen aus dem Umfeld der Sturamehrheit nahestehen und angehören, ruft zum BDS-nahen „Internationalen Queer Pride“ nach Berlin auf. Dort wird das Existenzrecht Israels in Frage gestellt. Bereits auf dem Werbebanner steht groß „Free Palestine!“.
Es bleibt die Frage, warum sich die Linke, die SPD und die Grünen nicht über all diese Vorfälle oder die zahlreichen Lügen, Unterstellungen und Falschbehauptungen, die hier nicht einzeln aufgeführt werden können, distanziert haben. Warum war also das Erschrecken über einen Stein im Sturafenster so groß, während die anderen Dinge kaum beachtet wurden? Am Prinzip des Legalismus und des Gewaltverzichts kann es nicht gelegen haben: Dazu haben die Organisationen, die bei anderer Gelegenheit und aus welchen richtigen oder falschen Gründen auch immer zu Straßen- und Autobahnblockaden aufrufen, an der gewaltsamen Beendigung der Revolution von 1918/19 oder des Aufstands vom 17. Juni 1953 beteiligt waren, für den Einsatz deutscher Bomber über Jugoslawien verantwortlich sind und deren Nachwuchs mehr als klammheimlich über den Hashtag Kantholz gefeixt hat, nämlich selbst nur ein funktionales Verhältnis.
Der Schreck dürfte andere Gründe haben: Durch den Steinwurf scheinen die Organisationen, die zu den wichtigsten Instanzen dieser neudeutschen Entwicklung gehören, daran erinnert worden zu sein, dass man persönlich und institutionell nicht nur für seine Entscheidungen und Handlungen verantwortlich ist, sondern auch dafür verantwortlich gemacht werden kann. In dem Maß, in dem sich die Religion aus der Welt zurückgezogen hat, ist die Sorge, sich vor einer höheren Instanz rechtfertigen zu müssen, kleiner geworden. Durch die Veränderungen in den Bereichen Produktion, Soziales und Erziehung sind zugleich einige innere Instanzen wie das Gewissen und das Über-Ich erodiert. Da man ihnen von Kindheit an immer alles hat durchgehen lassen und sie sich bei allen Anwürfen der Außenwelt ständig selbst als Opfer missverstehen, ist ihnen nur noch bedingt bewusst, dass ihre Taten auch für sie selbst Konsequenzen haben können. Der Stein hat ihnen das Prinzip der Verantwortung drastisch vor Augen geführt. Egal, was man von dieser Methode halten mag, ob man sich nun von solchen Aktionen distanziert, wie es die AG Antifa schon vor vielen Wochen getan hat (http://agantifa.com/2021/11/zu-den-solidarisierungen-mit-uns/), oder nicht: Das Problem ist weniger das zerbrochene Fenster. Der Stura wird es mit den Mitteln, die er durch die Auflösung der AG Antifa und die damit verbundene Streichung Dutzender gesellschaftskritischer Veranstaltungen einspart, schnell ersetzen können. Das Problem ist vielmehr, dass die durch den Stein angestoßene Erkenntnis nicht lang anhalten und schnell wieder im Sumpf des Selbstmitleids verschwinden wird.
Andrea Brunsfeld
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[…] Der Stein des Anstoßes. Ein Diskussionsbeitrag zur Spontandemonstration gegen die Auflösung der AG…Bonjour Tristesse, 25.07.2022 […]