Die beiden folgenden Texte wurden am 14. Oktober 2021 als Vorträge auf einer Diskussionsveranstaltung des Arbeitskreises Antifaschismus mit dem Titel „Homophobie, Frauenfeindlichkeit und Verwertung. Zum queertheoretischen Aktivismus“ gehalten. Für eine bessere Lesbarkeit wurden sie leicht überarbeitet. (2/2)
Der Triumph der Gleichheit.
Vom Verschwinden der Geschlechter
1.
Als ich gefragt wurde, ob ich heute hier sprechen würde, musste ich nicht lange überlegen. Das lag auch daran, dass ich vor vielen Jahren selbst Mitglied des AK Antifaschismus im Stura war, der die heutige Diskussion organisiert hat, und seine Arbeit sehr schätze. Das gilt nicht nur für seine Interventionen gegen alle Arten von Antisemitismus, sondern ganz allgemein dafür, dass er sich jedem Konformismus verweigert. Der Arbeitskreis scheint mir in der Regel lieber in guter aufklärerischer Tradition Dinge zu hinterfragen als irgendwo mitzumachen. Das ist eine Tugend, die viel zu wenig verbreitet ist.
Vor allem aber habe ich zugesagt, weil der Anlass dieser Vortragsrunde ein Skandal ist. Es dürfte allen Anwesenden bekannt sein: Bei einer Veranstaltung des AK Antifaschismus, bei der die Gendertheorie und ihre praktischen Folgen kritisch beleuchtet werden sollten, wurden die Referentin und der Referent von Gegendemonstranten niedergebrüllt (die Referentin bezeichnenderweise stärker als der Referent), Besuchern wurden von Anhängern der Gendertheorie Schläge angedroht, in Sprechchören wurde zur Gewalt aufgerufen. Vorangegangen war eine Denunziationskampagne, bei der auch nicht vor offenen Lügen zurückgeschreckt wurde. Kritiker des eigenen Weltbilds sollten mit den Mitteln der angedrohten Saalschlacht, der Einschüchterung und Desinformation mundtot gemacht werden. Dass sich der Studierendenrat nicht vollumfänglich hinter seinen Arbeitskreis gestellt hat, halte ich für ein besorgniserregendes Zeichen der Zeit – selbst wenn er inhaltliche Kritik an der Veranstaltung gehabt haben sollte. Auch wenn es idealistisch klingen mag und ich selbstverständlich um die Ambivalenzen des akademischen Betriebs weiß: Meinungsfreiheit, Gedankenaustausch und die Auseinandersetzung mit Ideen, die nicht ins eigene Weltbild passen, sind die Voraussetzung von Wissenschaft, die diesen Namen verdient. Sie gehören zugleich zu den Grundlagen einer zivilen Campus-Kultur, wie Condoleezza Rice, Professorin für Politikwissenschaft in Stanford, einmal gesagt hat. Niemand hat das Recht, so Rice, geistig nicht herausgefordert und damit intellektuell auch beleidigt zu werden: Nur vermittels der narzisstischen Kränkung, dass das bisher Geglaubte unvollständig, unvollkommen oder sogar falsch ist, entsteht Erkenntnisfortschritt.
Dass ich gebeten wurde, hier zu sprechen, geht auf einen Text zurück, den ich vor ziemlich genau zehn Jahren veröffentlicht habe. Dort habe ich versucht, einige der Fragen zu beantworten, um die es auch heute gehen soll. Mein Fokus lag damals zwar weniger auf Trans- und Intersexualität als auf dem Erfolgskurs der Gendertheorie und dem Niedergang des Patriarchats. Ich glaube trotzdem, dass sich meine damaligen Ideen auf diese Fragen übertragen lassen. Darum werde ich mich im Folgenden auch weitgehend auf diesen Text beziehen und nur an einigen Stellen über ihn hinausgehen und Anpassungen vornehmen.
2.
Glaubt man dem Bundesjustizamt oder der Gender Identity Research and Education Society, dann denken 0,3 bis 0,6 Prozent der Menschen, dass sie im falschen Körper geboren wurden. 0,2 Prozent sollen intergeschlechtlich sein. Etwa genauso viele Menschen haben – die Zahlen schwanken – Polydaktilie, vier Mal so viele Polyethelie. Bei Autoplushophilie, paraphilem Infantilismus und Autozoophilie dürften die Zahlen niedriger sein. Während kaum jemand von Ihnen bisher etwas von Polydaktilie (sechster Finger, sechste Zehe), Polyethelie (drei Brustwarzen), Autoplushophilie (Selbstvorstellung als Plüschtier oder als vermenschlichtes Tier), paraphilem Infantilismus (sich kleiden und verhalten wie ein Baby), Autozoophilie (Selbstvorstellung als Tier oder als vermenschlichtes Tier) und ähnlichen körperlichen, sexuellen oder identitären Inkongruenzen zur vermeintlichen Norm gehört haben dürfte, sind Trans- und Intergeschlechtlichkeit in der Öffentlichkeit deutlich präsent. Trotz des vergleichsweise geringen Anteils an der Bevölkerung wird ihnen eine große Aufmerksamkeit entgegengebracht.
Auch wenn die Diskriminierung nicht abgeschafft ist, gibt es große gesellschaftliche Erfolge: 2012 erklärte der Deutsche Ethikrat, dass Intersexualität im Sinn der gesellschaftlichen Vielfalt die Unterstützung und den Respekt der Mehrheitsgesellschaft erfahren sollte. Seit 2018/19 lässt das deutsche Personenstandsgesetz als sogenannte dritte Option die Bezeichnung „divers“ zu. Arbeitgeber, die bei Stellenanzeigen auf das kleine „d“ verzichteten, mussten in der Vergangenheit zum Teil Entschädigungszahlungen leisten. Auch auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung, der zentralen Verlautbarungsinstanz der deutschen Staatsräson, wird erklärt, dass es „kulturelle Alternativen zur Zweigeschlechterordnung“ gebe.
Bei der Unterstützung der – unnötig das zu betonen: selbstverständlich vollkommen richtigen – Forderung nach dem Ende der Diskriminierung wird jedoch oft übersehen, was wir gerade gehört haben: In der Queerszene der letzten Jahre haben sich Homophobie und Frauenfeindlichkeit ausgebreitet. Zum Teil herrschen sektenähnliche Zustände, sagen Insider wie die Autoren des Sammelbands Beißreflexe – Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Nachdem wir im vorangegangenen Vortrag Überlegungen zu den Ursachen gehört haben, werde ich im Folgenden diesen beiden Fragen nachgehen: Warum werden die Homophobie und die Misogynie in der Szene öffentlich nur selten wahrgenommen und thematisiert? Und wesentlich wichtiger: Woher kommt die große gesellschaftliche Aufmerksamkeit, die Nichtbinarität, Trans- und Intergeschlechtlichkeit entgegengebracht wird?
All das – so meine These – hat weniger mit realer Trans- und Intersexualität zu tun als mit allgemeinen Entwicklungen der warenproduzierenden Gesellschaft und mit Projektionen, die mit dem Reden über Trans, Inter und Non-Binary verbunden sind. Deshalb werde ich auch weniger über die Queerszene sprechen, der vernünftigerweise ohnehin nur ein Teil der Trans- und Interpersonen angehört (vermutlich sogar nur eine Minderheit), sondern über etwas anderes: über Frauen, Männer, den Untergang des Patriarchats und die Entwicklungen von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. Zunächst aber ein historischer Rückblick in die 1970er Jahre, denen für viele Fragen der Gegenwart eine kaum zu überschätzende Bedeutung zukommt.
3.
Als die Notstandsgesetze verabschiedet, die große Koalition zerbrochen und die Tet-Offensive geschlagen waren, wussten die Angehörigen der Protestbewegung plötzlich nicht mehr, was sie mit ihrer nun überschüssigen Energie anstellen sollten. Deshalb entdeckten sie ihre primären Geschlechtsmerkmale und entschieden sich, nicht mehr nur Revolutionäre, Kommunarden, Haschrebellen oder Verdammte dieser Erde zu sein, sondern auch Frauen und Männer. Die Gründung der diversen Männer- und Frauengruppen, die Entstehung von Frauenreisebüros, Männerkooperativen und Frauenbuchhandlungen, kurz: der Versuch von Männern und Frauen, sich in Sachen Politengagement genauso aus dem Weg zu gehen wie in ihrer Freizeit – das alles zeigte vor allem eines: Sie hielten es nicht mehr miteinander aus.
Diese Separation nach Geschlechtern war keine Besonderheit der Linken; die wechselseitige Abneigung der protestbewegten Frauen und Männer war Ausdruck einer objektiven gesellschaftlichen Tendenz. So steht insbesondere die Kombination aus steigenden Scheidungs- und sinkenden Heiratszahlen, die spätestens seit den 1970er Jahren beobachtet werden kann, nicht nur für den vielbemühten Akzeptanzverlust der Institution Ehe, das zunehmende Selbstbewusstsein von Frauen oder die damit verbundene Tatsache, dass Frauen glücklicherweise nicht mehr auf einen männlichen Ernährer angewiesen sind. Die enorme Scheidungsquote – rund die Hälfte der deutschen Ehen wird nach rund zehn Jahren wieder geschieden – lässt vielmehr darauf schließen, dass das enge Zusammenleben nicht nur in der Studenten-WG oder in der Zweizimmerwohnung, sondern selbst in der Vorstadtvilla auf die Dauer zur Qual wird. Der tendenzielle Fall der Heiratsrate dürfte hingegen nicht zuletzt für die Ahnung stehen, dass der „Partner“, wie der jeweils aktuelle Wegbegleiter kameradschaftlich genannt wird, schon mittelfristig nicht zu ertragen ist. Lediglich die finanziellen Vorteile der Lohnsteuerklassen III bis V, die hohen Scheidungskosten, die Angst vor der Einsamkeit, die am familiären Abendbrottisch allerdings oft nur kaschiert wird, und die Hoffnung auf ein finanzielles Auffangbecken, zu dem sich die Sippe im Zeichen von Hartz-IV wieder entwickelt, dürften letztlich dafür ursächlich sein, dass sich viele Menschen noch immer für eine Heirat oder, wenn das Scheitern unübersehbar ist, gegen eine Trennung entscheiden.
4.
Wie so oft machen sich die Menschen allerdings auch in Sachen Geschlechterverhältnis einen falschen Reim auf ihre gegenseitige Abneigung. Während die Zankereien und Gereiztheiten, mit denen Paare und Pärchen im Treppenhaus, bei Partys oder beim Strandurlaub unfreiwillig auf sich aufmerksam machen, im Mainstream auf die Gene, die Biologie oder die Mondeinstrahlung zurückgeführt werden, will die Linke in der Regel nichts anderes erkennen als Konstruktionen, Prägungen und Erziehung. Von der Doppelstellung der Menschen, von der sich mit Marx, Freud, Adorno, Horkheimer und Marcuse sprechen lässt, von ihrer Zugehörigkeit sowohl zum Natur- als auch zum Gesellschaftszusammenhang, wollen weder die diversen Bestsellerautoren der Bahnhofsbuchhandlungen noch die verschiedenen Frauengruppen oder „LGBTQIA+“-Kreise etwas wissen. Als Sinneswesen, so umschrieb der Philosoph Christoph Türcke diesen Dualismus schon vor vielen Jahren, gehören die Menschen dem Naturzusammenhang an; als vernunftbegabte Wesen strukturieren sie wiederum „ihrerseits die Natur: theoretisch, indem sie die Natur begrifflich erfassen, und praktisch, indem sie eigene, von der Natur nicht schon vorgegebene Zwecke setzen und durch materielle Tätigkeit verwirklichen“.
Die einschlägigen Ratgeberautoren betreiben eine Biologisierung der Gesellschaft, die Linke setzt hingegen traditionellerweise auf die Austreibung der Natur. Einig waren sie sich jedoch lange Zeit darin, dass die große Beziehungskiste auf einem vermeintlichen Unterschied von Frauen und Männern basiert: Glaubten die einen, dass Männer aufgrund ihrer Natur nicht zuhören, Frauen nicht einparken können (so Allen und Barbara Pease in ihrem gleichnamigen Bestseller), sind die anderen davon überzeugt, dass die einen aufgrund einer ominösen strukturellen Gewalt oder qua hinterhältiger Konstruktion von den anderen unterjocht würden. Während John Gray (Männer sind anders, Frauen auch), Cris Evatt (Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus) und Co. diese Differenz allerdings für ewig halten, setzt die Linke auf ihre Auflösung: durch Abschaffung des Patriarchats, „Dekonstruktion binärer Rollenzuschreibungen“ oder quotierte Rednerlisten und einen edlen Moderator, der die Frauen bei Diskussionsveranstaltungen großzügig dazu auffordert, sich doch endlich einmal vor den Herren zu melden: „Die Moderation könnte z.B. Frauen explizit dazu ermutigen, die Diskussion mit dem ersten Redebeitrag zu eröffnen,“ hieß es vor einigen Jahren ganz exemplarisch bei einer Diskussionsveranstaltung, der ich beiwohnen durfte.
Setzt sich in dieser gönnerhaften Worterteilungsstrategie der anmaßende Geist der untergegangenen Erziehungsdiktaturen fort, zeigt die Rede vom Patriarchat, dass man sich inzwischen jenseits von Raum und Zeit bewegt. Die Arbeit am Begriff, Voraussetzung aller Kritik, hat sich in eine „permanente Wucherung des Meinens“ aufgelöst, von der Adorno in Meinung, Wahn, Gesellschaft sprach: „Weil, der lieben Wahrheit zu Ehren, alle Wahrheiten doch bloß Meinungen seien, weicht die Idee von Wahrheit der Meinung.“ Das Wunschbild dieses Meinungspluralismus’ ist die Irrenanstalt, in der jeder Unsinn auf Verständnis stößt, niemand für seine Taten Verantwortung zu tragen hat und sich für die Reinkarnation Simone de Beauvoirs, J. Edgar Hoovers oder, in jüngster Zeit, wie mir scheinen will, im Stura Halle beliebt, Hilde Benjamins halten darf, ohne von den anderen ausgelacht zu werden.
5.
Wer rund hundert Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts, sechzig Jahre nach der Verabschiedung des deutschen Gleichstellungsgesetzes, fünfzig Jahre nach Woody Allens ersten Filmerfolgen und dreißig Jahre nach der Einführung der Frauenquote im Öffentlichen Dienst mit Blick auf den Westen noch immer von Patriarchen oder männlichen Chauvinisten spricht, als wäre Emmeline Pankhurst noch am Leben, scheint gar nicht zu ahnen, welche Ehre er der heutigen Männerwelt damit erweist. Denn womit können die modernen Männer aufwarten? Haben sie, wie die Familienoberhäupter des bürgerlichen Zeitalters, an denen die erste Frauenbewegung den Begriff des Patriarchats entwickelte, den Adel verjagt, die Privilegien angegriffen? Steuern sie ihre Firmen umsichtig durch die Untiefen des Geschäftslebens? Geben sie ihren Angehörigen in Zeiten der Krise finanziellen oder zumindest ideellen Halt? Oder sind sie auch nur halbwegs dazu in der Lage, ihrem Nachwuchs ein Vorbild zu liefern?
Statt Geduld, Fleiß, Weitsicht und Charakterfestigkeit hat der moderne Mann nichts zu bieten außer panischer Existenzangst, Frust, Langeweile und Sorge um die Penisgröße. War bereits die kleinbürgerliche Familie von Lohnabhängigen, die Adorno und andere als Keimzelle des autoritären Charakters beschrieben, die Verfallsform ihrer frühkapitalistischen Vorgängerin, der bürgerlichen Großfamilie, haben sich inzwischen auch die Endmoränen des Patriarchats abgeschliffen. Im Unterschied zu den mittelständischen Familientyrannen der 1920er und 1930er Jahre, deren Macht schon eine geborgte war, sind die heutigen Herren der Schöpfung nicht einmal mehr dazu in der Lage, den Eindruck zu erwecken, die Außenwelt kontrollieren zu können. Wer nicht übers Amt finanziert wird, rettet sich von nervtötender Dienstleistungstätigkeit zu nervtötender Dienstleistungstätigkeit, verwaltet mal Menschen, mal Material oder produziert in stumpfsinnigen Vorgängen Dinge, zu denen er keinen Bezug hat.
Angesichts dieser Entwicklung, der Lethargie in den Wohnzimmern und der Abgabe der Erziehungsberechtigung an das heimische Fernsehgerät oder das Smartphone hat die Herrschaft des Vaters nicht nur ihre materielle, sondern auch ihre ideelle Legitimation verloren. Infolge dieses Autoritätsverlustes, der nicht länger notwendigen Triebunterdrückung und der damit einhergehenden Freigabe der Sexualität, von der Herbert Marcuse schon in den 1960er Jahren sprach, entstehen dauerinfantile Wesen, die die Phase der Frühpubertät bruchlos aus dem zwölften Lebensjahr ins Erwachsenenalter hinüberretten. Die einschlägigen Autozeitschriften, Fußballhefte und Herrenmagazine, die von linker Seite nach wie vor gern als Inbegriff „patriarchaler Strukturen“ bemüht werden, richten sich weder an Herren noch an Patriarchen, sondern an die Berufspubertierenden, die heute überall zu beobachten sind.
Insbesondere im Begriff des „Playmates“, mit dem die Aktmodelle der einst bekanntesten Zeitschrift der Welt tituliert werden, in der Häschen-Kostümierung seiner Mitarbeiterinnen oder den Bunny-Symbolen, die Millionen Heckscheiben, T-Shirts und Kettchen zieren, werden die Sehnsüchte der Söhne von Dieter Bohlen und Michael Wendler deutlich: Angesichts der allgegenwärtigen Ohnmachtserfahrung, die bereits das bloße Dasein als Überforderung erscheinen lässt, ziehen sie sich in ihre ehemaligen Kinderzimmer zurück, wo sich der gerade erwachte Geschlechtstrieb zwischen Autorennbahn, Tischfußballspiel und Bob dem Baumeister zurechtzufinden hat. Sie suchen nach einer Spielgefährtin in Form eines Kuscheltiers, das sich ihnen, ähnlich wie vormals die Mutterbrust, zwischen Playstation, Legoland und Knabberteller auf Kommando zur Verfügung stellt. Im Vergleich zum linken Angriff auf die Sexualität oder zur sozialdemokratischen Moral, die die Libido allenfalls im Kontext der Gesundheitsvorsorge, als eine Art häuslichen Trimm-Dich-Pfad, zu akzeptieren bereit ist, hält diese Kinderzimmerwelt zweifellos noch fast ein Menschheitsversprechen bereit: In ihr steht Sexualität, wenn auch in einer oft erbarmungswürdigen Weise, zumindest noch in einem Restzusammenhang mit Lust und Befriedigung.
Ihre Bewohner, die kaum dazu in der Lage sind, ihre Phantasien Realität werden zu lassen – denn: welche vernünftige Frau ist schon dazu bereit, einem zu groß geratenen Frühpubertierenden das Bunny zu geben? –, haben mit dem Patriarchen des bürgerlichen Zeitalters allerdings so viel zu tun wie ein Rehpinscher mit einer Bulldogge. Das „aseptische Mittelstandsneutrum“ als Mann oder sogar „zu männlich“ zu bezeichnen, so schrieb Wolfgang Pohrt darum schon Anfang der 1980er Jahre, ist bestenfalls eine Mischung aus „galanter Schmeichelei“, „hübschem Kompliment“ oder „vollendeter Koketterie“. Sie kann den Männern, bei aller gelegentlich zur Schau getragenen Zerknirschung, nur recht sein: Wer die Entwöhnung von der Mutterbrust nie verwunden und außer Sorgen, Trübsinn und Verdruss nichts zu hinterlassen hat, der lebt besser mit der Unterstellung, ein Schwerenöter, Wüstling und Hallodri zu sein als ein armes Würstchen oder ein bemitleidenswerter Langweiler.
6.
Dass die Frauen nichts mit diesen Wesen zu tun haben wollen, ist also mehr als verständlich. Wer spielt schon gern die unbezahlte Therapeutin, wer die Amme, wer die ehrenamtliche Kindergärtnerin? Sie dürften allerdings nicht allein mit den Männern hadern, weil sie uninteressant bis zur Unerträglichkeit sind, sondern auch, weil sie in dieser Unerträglichkeit vor allem sich selbst wiedererkennen. Nimmt man die erotische Literatur der vergangenen Jahrhunderte ernst – von Boccaccio über Shakespeare bis zu Anaïs Nin –, dann dürfte am anderen Geschlecht lange Zeit weniger das Geschlecht als das Andere für Anziehungskraft gesorgt haben. So gibt es kaum eine Liaison der Weltliteratur, der nicht zahllose Schwärmereien über ungewohnte Düfte, faszinierende Kleidung oder geheimnisvolle Accessoires des oder der Angebeteten vorangingen. Dieser Reiz des Anderen wurde regelmäßig dadurch potenziert, dass die Liebe über Klassen- und Standesgrenzen hinweg entstand. In den fesselndsten Liebesgeschichten der Weltgeschichte gab sich nicht die Magd dem Knecht hin (oder umgedreht), sondern der Schmied der Prinzessin, die Sklavin dem Herrn oder, wie bei Patricia Highsmith, der talentierte Mr. Underdog dem Millionärssohn.
Mit der Herausbildung der nivellierten Klassengesellschaft, die trotz der immensen Vergrößerung des Prekariats noch für einige Jahre Bestand haben dürfte, hat sich dieser Aschenputtel-Effekt jedoch verabschiedet: Ebenso wie der zentrale gesellschaftliche Graben nicht mehr zwischen Proletariat und Bourgeoisie, sondern zwischen Opel und Skoda, Mallorca und Teneriffa, Reihenhaushälfte und Mietwohnung verläuft, lautet die große Beziehungsfrage nicht einmal mehr rhetorisch „Prinz oder Bettelmann“, sondern höchstens „Arbeitskollege oder Fitnessclub-Bekanntschaft“.
Auch die Differenz zwischen den Geschlechtern ist im Verschwinden begriffen. Die warenproduzierende Gesellschaft fungiert in jeder Hinsicht als die „große Gleichmacherin“, als die Robespierre einmal die Guillotine bezeichnete: Adorno und Horkheimer sprechen in der Dialektik der Aufklärung vom „Triumph der repressiven Egalität“. So interessiert sich das Kapital in seinem Drang nach Expansion weder für die individuellen Spleens noch für das Geschlecht der jeweiligen Arbeitskraftbehälter, sondern ausschließlich für ihre Arbeitskraft. Wichtig sind nicht Testosteron und Östrogene, sondern das Funktionieren und die Fähigkeit zur Verwertung. Wenn Frauen trotzdem oft weniger als ihre männlichen Kollegen verdienen – und das ist leider oft der Fall –, dann dürfte das weniger auf ein „strukturelles Patriarchat“ zurückzuführen sein als auf ihr historisches Erscheinen auf dem Arbeitsmarkt: Genauso wie Neuankömmlinge in traditionellen Unternehmen zunächst schlechter bezahlt werden als die Alteingesessenen, werden Frauen, die in historischer Perspektive erst spät aus dem häuslichen Reproduktionssektor in die Produktionssphäre hinüberwechselten, auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt: Sie haben in ihrer ontogenetischen Berufsentwicklung den phylogenetischen Verwertungsprozess ihres Geschlechts durchzumachen. Das ist gar nicht so leicht: Denn im großen Konkurrenzkampf um Jobs, Lohn und Anerkennung, dem Männer und Frauen nun gleichermaßen unterworfen sind, wird auf die Waffen und Argumente der Vergangenheit zurückgegriffen, um Standortvorteile zu erhalten.
Die Ausrichtung aller Lebensbereiche auf die Anforderungen des Arbeitsmarkts – sei es die Unterhaltungsmusik, die dem Rhythmus des Produktionsprozesses nachgestaltet ist, seien es die „Fit-for-Job“-Muckibuden, in denen sich die Menschen nach Feierabend für das betriebliche Survival of the Fittest präparieren – all das hat langfristig gleichwohl dafür gesorgt, dass sich auch die Geschlechter tendenziell an jene um Sinnlichkeit und Empirie gebrachte abstrakte Allgemeinheit angleichen, für die sich das Kapital allein interessiert. Seit Werkbank und Fließband ihre Dominanz auf dem Arbeitsmarkt an Werbeagentur, Dienstleistungsfirma und Unibetrieb abgegeben haben, ist nicht mehr nur in den Führungsetagen eine Kombination aus vermeintlich männlichen und weiblichen Eigenschaften gefragt. Auch Ilse und Otto Normalmalocher werden in der Schule, bei der Ausbildung und beim Bewerbungstraining darauf getrimmt, Durchsetzungsvermögen und Verständnis, Härte und Empathie, rationale Abwägung und Gespür miteinander zu verbinden, und zwar möglichst flexibel. Diese Kombination dürfte ihnen allerdings schon aus ihrer Freizeit bekannt sein: keine Peer-Group von Mädchen, in der es nicht auf Umgangsformen und -töne ankommt, die früher Bierkutschern zugeschrieben wurden, keine Jungenclique, die nicht durch Kummerkasten- und Tratschmentalität zusammengehalten wird.
Selbst in optischer Hinsicht hat sich jener sportive Unisex-Stil durchgesetzt, der vor allem signalisiert, dass seine Trägerinnen und Träger jederzeit und überall anpacken, zugreifen und aktiv werden können: von der obligatorischen Kurzhaarfrisur, die nicht nur pflegeleicht, sondern vor allem „praktisch“ zu sein hat, über die robusten und unverwüstlichen Brillen, die den Kassengestellen der 1970er Jahre nachempfunden wurden und seit einigen Jahren der letzte Schrei sind, bis hin zum geschlechtsübergreifenden Outdoorjacken- und Bergschuhlook der Großstädte, dessen Anhängerinnen und Anhänger sich auch durch Monsunregen, polare Kälte und Felsbrocken nicht von ihrem Weg ins Büro, Einkaufszentrum, den Kindergarten oder zum Abend mit dem befreundeten Pärchen abbringen lassen wollen.
Der juvenil-androgyne Stil, den gerade jüngere Queer-Freunde als Waffe gegen „binäre Geschlechtskonstruktionen“ ausgeben, ist also zum einen weniger Herausstellung der Differenz als Anpassung ans abstrakt Allgemeine. Zum anderen hat er in den Bürokomplexen und Supermärkten schon seit Jahren eine Entsprechung. Die heimlichen Role-Models des Non-Binary-Stils sind die unternehmungslustigen Mittelstandseltern der androgynen Queerkids: jene Paare, die die Radwanderwege und Ausflugslokale an den Wochenenden belagern – und bei denen man aufgrund der Körperproportionen, die sich im Laufe der Jahre angeglichen haben, der analogen Verhaltensmuster und nicht zuletzt: der beliebten Partnerjacken nie so genau weiß, wer die Gattin, wer der Gatte ist.
7.
Hinter dem kritischen Gestus der Queer-Theorie verbirgt sich, mit anderen Worten, vor allem eins, nämlich die Bejahung dessen, was sich tendenziell bereits vollzieht: Die Rede ist von der Abschaffung der Geschlechter. Selbst der immer wieder kritisierte Ansturm auf die Fitnessclubs, Weight-Watchers-Zentralen und Schönheitskliniken ist nicht die empirische Grundlage der postmodernen Klage über „Beautywahn“, „genormte Schönheit“ und „binäre Geschlechtskonstruktionen“, sondern Reaktionsbildung auf die Entwicklung, die der Poststrukturalismus und die aus ihm hervorgegangene Queertheorie affirmativ begleiten. Denn in dem Maß, in dem den Geschlechtern alle weiteren Differenzen ausgetrieben werden, fallen sie auf das Unterscheidungsmerkmal zurück, von dem die postmodernen Queeraktivisten nichts wissen wollen: die Natur.
Da diese biologischen Unterschiede allerdings, wie Alice Schwarzer in ihrem Erstlingswerk Der kleine Unterschied überzeugend gezeigt hat, nicht besonders groß sind, muss der Natur regelmäßig nachgeholfen werden. Mit Hilfe von Hanteln, Pillen, Intimrasur, Pilates, Streckverbänden und Silikon werden die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale so deutlich überzeichnet, dass zumindest noch etwas auf den einstigen Unterschied verweist. Wenn sie schon nicht an Romeo, Julia, Clark Gable oder Ava Gardner erinnern, wollen sie zumindest so aussehen wie Hulk Hogan, Daniela Katzenberger, John Holmes oder Pamela Anderson. Soll heißen: wie die Comic-Strip-Varianten jener Bilder von Frauen und Männern, mit denen das Biologiebuch aufwartet. In dem Maß, in dem die bürgerliche Gesellschaft Traditionen, zu denen eben auch das Geschlechterverhältnis gehört, zerstört, muss sie diese Traditionen surrogieren: Will das Bestehende in seiner „Irrationalität sich rechtfertigen, so muss es Sukkurs suchen bei eben dem Irrationalen, das es ausrottet, bei der Tradition“, heißt es bei Adorno.
Die Animositäten zwischen Männern und Frauen, mit deren Persiflage ganze Horden so genannter Comedians ihre Brötchen verdienen, dürften, mit anderen Worten, nicht auf einer vermeintlichen Verschiedenartigkeit der Geschlechter basieren, die es fast nicht mehr gibt, sondern darauf, dass Männer und Frauen kaum noch anders voneinander zu unterscheiden sind als über die nicht ganz unbedeutende, aber auch nicht sehr bedeutende Biologie: Mit dem Unterschied zwischen den Geschlechtern scheint auch ihre wechselseitige Anziehungskraft geschwunden zu sein. Ähnlich wie der Rassist am Anderen weniger das Andere als das Eigene bekämpft, scheint die Geschlechter aneinander abzustoßen, was sie schon an sich selbst nicht ausstehen können. Projiziert der Rassist allerdings eigene unbewusste Wünsche auf die Fremden: die Sehnsucht nach Glück ohne Arbeit, einem ausschweifenden Sexualleben, der Fähigkeit zum Genuss, kommt der Geschlechterkampf mit einem erheblich geringeren Maß an Projektionen aus. Während der Fremde in der Regel weder faul und promiskuitiv noch glücklich und genussfähig ist, sind Jessica und Sarah tatsächlich so, wie Nick und Marc es ihnen regelmäßig vor versammeltem Publikum vorwarfen.
Das Dumme ist nur: Wenn die Herren von Dauerfrust, Überempfindlichkeit, Streit- und Rachsucht sprachen, wusste man nie so genau, ob sie tatsächlich gerade von ihnen oder nicht doch von sich selbst redeten. Die permanente Aneinanderreihung von Enttäuschungen, als die sich, glaubt man der Auflagenhöhe der einschlägigen Beziehungsratgeber, diese sogenannten Beziehungen allzu oft erweisen, wird weder den Verhältnissen zur Last gelegt, die dem Umgang der Geschlechter den Reiz austreiben. Noch wird sie auf die eigene Unfähigkeit zurückgeführt, länger als bis zum ersten gemeinsamen Wochenendeinkauf Anziehungskraft auf jemanden ausüben zu können. Die enttäuschten Hoffnungen werden vielmehr dem unfreiwilligen Überbringer der Nachricht zur Last gelegt, dass die Rede vom Töpfchen und Deckelchen, in die sich der Glaube an die gegenseitige Ergänzung zur wechselseitigen Vervollkommnung längst verflüchtigt hat, bestenfalls Ideologie, schlimmstenfalls Lüge ist: dem Anderen, in dem sich die eigene Unerträglichkeit spiegelt und damit verdoppelt.
8.
Ich komme damit zum Ende. Die Aufmerksamkeit, die Nichtbinarität, Trans- und Intersexualität entgegengebracht wird, hat nur bedingt mit dem Interesse an den realen Problemen von Inter- und Transpersonen oder ihrem leider oft großen Leidensdruck zu tun. Auch deshalb werden die homophoben und frauenfeindlichen Tendenzen der Szene, von denen am Anfang die Rede war, öffentlich kaum wahrgenommen. Nichtbinarität, Trans- und Intersexualität sind stattdessen sowohl für viele ihrer Fürsprecher als auch ihrer Gegner vor allem Projektionsflächen.
Diesen Projektionen kommt insbesondere der an Judith Butler orientierte Queeraktivismus jedoch deutlich entgegen: Bekanntlich ist nicht alles gleichermaßen als Projektionsfläche geeignet. So ist der Gestus der Szene, die trotz gegenteiliger Auffassung nicht mit Trans- und Intersexualität in eins fällt, schon lange kein Einspruch mehr gegen den Mainstream. Hier wird kein selbstbewusstes Bekenntnis zum Anderssein abgegeben, wie noch Ende der 1980er Jahre, als der Begriff von Schwulen, Lesben, Trans- und Interpersonen erstmals in positiver Absicht für sich verwendet wurde. Im Gegenteil. Auch wenn sich die Szene gern auf Diversität und Differenz beruft, ist davon nur wenig zu bemerken: Judith Butlers Äußerungen zu Israel und ihre Verklärung der Hamas zu Freiheitskämpfern, die in der Szene auf keinen nennenswerten Widerspruch stießen, unterscheiden sich kaum von denen rechter wie linker Stammtischler. Aber auch optisch geht es wenig divers zu: Ähnlich wie früher bei den Autonomen, die sich Kreativität auf die Fahnen schrieben, aber trotzdem nicht über die schwarze Uniformierung hinauskamen, ist auch in der Queerszene Einheitslook angesagt. Das gilt nicht nur für die Frisuren, sondern auch für den Dresscode und selbst den Habitus.
Vor allem aber dürften Nichtbinarität, Inter- und Transsexualität als Vorschein dessen erscheinen, was aufgrund der Fortentwicklung der Produktivkräfte ohnehin auf der Tagesordnung steht: In der Aktivistenszene scheinen die Imperative der schönen neuen Arbeitswelt vorweggenommen zu werden. Das betrifft sicher insbesondere die Kombination vormals weiblich oder männlich konnotierter Eigenschaften, aber auch die permanente Neuerfindung, die die Bundesagentur für Arbeit einfordert, ein gehöriges Maß an Flexibilität, die bis zum letzten geht, den Triumph des Willens, der die Welt als Wille und Vorstellung begreift, oder die selbstoptimierenden Relax-Zonen, die nun Safe Spaces heißen: Sie wurden erfunden, damit sich die Angestellten wohlfühlen und damit noch effektiver ausgebeutet werden können. Der Queeraktivismus ist, mit anderen Worten, das Bewegung gewordene Motto des postmodernen Kapitalismus, für den es keine Gesellschaft mehr gibt, sondern nur die präpotenten Wünsche des Einzelnen: Du kannst alles schaffen, wenn Du nur stark genug willst und Dich ausreichend um Deine eigenen Bedürfnisse kümmerst.
Das soll heißen: Der Queeraktivismus dürfte im Positiven wie im Negativen auch deshalb so große Aufmerksamkeit erhalten, weil er einen Blick in die eigene Zukunft und die Zukunft der Gattung zu versprechen scheint. An dieser Zukunft ist jeder interessiert: von den Absolventen der kultur- und geisteswissenschaftlichen Studiengänge über das Prekariat, das in der Regel weniger flexibel ist, bis hin zu den Mittelstandskindern, die Freitags für sie auf die Straße gehen. Diese Zukunft sieht nicht rosig aus, das ahnen alle. „One thousand years from now, there’ll be no guys and no girls, just wankers“, heißt es in Trainspotting, einem Film, den man gesehen haben musste, als ich jünger war. Meine Freunde und ich hielten das für kaum mehr als einen übertrieben hemdsärmeligen Witz, der lediglich zum schnoddrigen Erzählstil der Romanvorlage passte. Vielleicht haben wir uns geirrt.
Jan-Georg Gerber
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