Die beiden folgenden Texte wurden von den Autoren als Vorträge auf der Diskussionsveranstaltung des AK Antifaschismus mit dem Titel „Die Austreibung der Natur. Zur Queer- und Transideologie der Gegenwart“ am 17. September 2021 gehalten. Für eine bessere Lesbarkeit wurden sie leicht überarbeitet. (1/2)
Der Exorzismus der Andersdenkenden.
Judith Butler und die Folgen
Es wird wieder viel gefühlt – international, aber ganz besonders in Deutschland. Alles scheint wahnsinnig verletzend, alles, was man sagt, schreibt, tut, vielleicht sogar schon denkt, könnte anderen weh tun, andere ausschließen, andere silencen, anderen schaden, usw. usf. Stark Fühlende sind es, die in der Gegenwart den Ton angeben. Mit den sogenannten Affect Studies ist in der ideologisch knapp vermessenen Sparte zwischen Gender- und Kulturtheorie gar ein akademischer Zweig entstanden, der sich diesem neuerlichen Fühlen widmet und allerhand Belangloses dort entdeckt, wo man die Möglichkeit zu substanziellen Einsichten und alle Voraussetzungen für genuine Forschung, für Empirie, für faktenbasierte Urteilsfindung, für kleinteilige Arbeit im Archiv und mehr hätte. Aber warum mühsam, wenn es auch bequem geht? Das scheint zumindest die unausgesprochene Devise weiter Teile der akademischen Landschaft zu sein.
Das Problem an solchen Wohlstandserscheinungen ist, dass deren Bequemlichkeit anderen irgendwann auffällt. Aus diesem Grund werden elaborierte Tarnmanöver vorgenommen, um darüber hinwegzutäuschen, dass man de facto wenig bis nichts tut. Ein solches, recht erfolgreiches Tarnmanöver besteht darin, vorzugeben, dass man sich mit der Frage der Bedeutung befasst. Ein ganzes hierum entstandenes Feld kreist bekanntlich um den Begriff gender, jedenfalls in seinem Verständnis der späten 1980er, frühen 1990er Jahren, welches heute, in den 2020er Jahren, passé ist. Doch dazu etwas später mehr.
Antifeminismus als Verkaufsschlager
Um zu verstehen, was die Karriere der heute berühmtesten Protagonistin der Bedeutungslehre damals, also in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren ermöglichte, ist zunächst daran zu erinnern, dass zu diesem Zeitpunkt die erst zwanzig bis 25 Jahre zuvor entstandene Neue Frauenbewegung zum Teil erhebliche gesellschaftspolitische Erfolge verzeichnen konnte. In langen, harten Auseinandersetzungen seit Ende der 1960er Jahre war Abtreibung aus der Sphäre des Hochtabuisierten verbannt worden, obschon sie umstritten blieb. Umsonst geleistete Hausarbeit konnte nicht mehr ganz so einfach mit dem weiblichen Geschlecht identifiziert werden. Gesetze waren gefallen, die Frauen einem männlichen Vormund unterstellten. Und in vielen politischen, ökonomischen, religiösen wie kulturellen Arealen bröckelte die männliche Dominanz, auch wenn sie bekanntlich nicht überall gleichzeitig schwand.
In einigen Bereichen führten diese Modernisierungserscheinungen wiederum zu Stagnation, so etwa in der akademischen Diskussion – dort also, wo man sich mit feministischer Theorie schwer tat und mit der Etablierung der Women’s Studies in den USA einen Kompromiss institutionalisiert hatte, der selbstverständlich keineswegs dazu diente, der feministischen Weltsicht gebührenden Platz zu gewähren. Vielmehr konnten Universitätsleitungen mit diesem Trick über den bisweilen peinlich niedrigen Anteil von Professorinnen hinwegtäuschen, der gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften auffällig war – in einem Bereich also, in dem man sich bekanntlich aufgeschlossen, progressiv und kosmopolitisch wähnt, eine neue Einsicht aber stets als geschickt zu vermarktende Ware aufgemacht werden muss, um anzukommen und die eine oder andere Tür zu öffnen. Für Feministinnen – für Frauen also, die sich für Frauen einsetzen – gingen diese Türen oftmals nur einen Spaltbreit auf. Die Vorbehalte waren noch in den späten 1980er Jahren vehement.
Judith Butler, gemeinhin als Philosophin geltende Professorin für Rhetorik, machte sich diesen Umstand zunutze und veröffentliche 1990 ihre Monografie Gender Trouble, in einem neuartigem Vokabular gehalten, dessen Sound unter anderem den Seminaren des Literaturwissenschaftlers und einstigem Nazi-Sympathisanten Paul de Man entlehnt worden war. Sie ging damit hausieren, eine andere Art von „feministischer“ Theorie zu offerieren: nämlich eine, die nicht mehr Frauen in den Mittelpunkt stellen wollte. Zudem gab sie vor, äußerst komplexe Mechanismen aufzudecken, was mitunter einer der Gründe dafür sein dürfte, weshalb Butlers Anhängerschaft bis heute in steter Regelmäßigkeit beteuert, „komplexe“ Analysen vorzulegen, an denen dann aber vor allem die angestrengte Imitation der Vorturnerin auffällt. Primärer Gegenstand von Butlers Schrift waren andere feministische Arbeiten, die einer – noch so ein verlogenes Wort – „kritischen“ Lektüre unterzogen werden sollten.
Gender Trouble gilt seither als das theoretische Hauptwerk eines poststrukturalistisch informierten „Feminismus“, der angeblich damit befasst sei, Identitäten zu hinterfragen – auch solcher, die in angeblich fortschrittlichen politischen Strömungen unhinterfragt wirkten. Butlers wesentliche Aussage in dieser Schrift beläuft sich darauf, dass die von der Neuen Frauenbewegung aus der Sexualwissenschaft übernommene Unterscheidung zwischen sex, also dem biologischen Geschlecht, und gender, also dem ‚kulturellen’ Geschlecht, eine falsche sei. Hatte der Feminismus der 1970er Jahre diese Unterscheidung stark gemacht, um darauf hinzuweisen, dass Anatomie kein Schicksal sein muss – dass sex also der Grund dafür ist, warum Frauen unterdrückt werden und gender die Art und Weise, wie in Form von geschlechtlichen Rollen, Stereotypen, Erwartungen, Zuschreibungen usw. unterdrückt wird –, machte sich Butler nun daran, einen vermeintlichen Irrtum bloßzulegen, dem die Neue Frauenbewegung aufgesessen sei. Auch sex sei – in ihren Worten – „konstruiert“, da das biologische Geschlecht stets kulturell und vor allem sprachlich vermittelt sei. Folglich würde der Feminismus mit Frauen ein Kollektivsubjekt voraussetzen, dass es gar nicht gäbe. Dies basierte auf einer Adaption von Michel Foucault, demzufolge „Macht“ Subjektpositionen in einer Gesellschaft verteile, ohne greifbar zu werden – was Butler dahingehend radikalisierte, Bedeutung zum präferierten „feministischen“ Interventionsfeld zu machen. Konkret: Zu behaupten, dass erst dann ein anderes, nicht-phallogozentristisches Zusammenleben denkbar werde, wenn die Vorstellung, die alle von Männern und Frauen haben, eine andere sei. Das gründete in der Annahme, dass da schlichtweg keine Natur sei, wo diese vorausgesetzt werde, sondern stets eine prägende Instanz dazwischengehe, wenn von Männern und Frauen die Rede sei. Butler empfahl deshalb die Vervielfältigung von Geschlechtsidentitäten zur Subversion der „heterosexuellen Matrix“, was auf Außenstehende wie eine Mischung aus grandioser Selbstüberschätzung und ausgebliebener linker Pubertät im Alternativen Jugendzentrum klingt.
Dieses Postulat galt zum Zeitpunkt seiner Publikation nicht nur als kühn und avantgardistisch, sondern als brillant und nahezu welterschütternd. Es bescherte seiner Urheberin eine beispiellose geisteswissenschaftliche Karriere. Nur wenige schienen im allgemeinen Butler-Enthusiasmus der frühen 1990er Jahre den antifeministischen Charakter der Schrift und seine Beförderung zum akademischen Verkaufsschlager zu hinterfragen. Es sei an dieser Stelle ausdrücklich daran erinnert, dass man sich in den Vereinigten Staaten, bei aller Warenförmigkeit des Wissens, ehrlich eingesteht, dass man es beim Universitätsbetrieb eben mit einem Betrieb zu tun hat und nicht mit einem Hort des freien Denkens. Die gängige Bezeichnung für diesen Betrieb ist folglich schlicht und ergreifend the job market – ein Umstand, an dem sich dort im Übrigen niemand stört. Er entspricht dem regulären Wettbewerb in anderen Branchen: Es herrscht das Konkurrenzprinzip, dessen Austragungsort Monographien sind, die sich auf irgendeine Weise unterscheiden müssen. Und: Alle Dozierenden an US-amerikanischen Hochschulen wissen, dass vor ihnen Studierende sitzen, die die Hochschulen nach einigen Jahren als junge Erwachsene mit einem sehr hohen fünf-, bisweilen auch sechsstelligen Schuldenberg verlassen werden, weil die Studiengebühren in Nordamerika in keinem Vergleich zu dem stehen, was hierzulande dafür veranschlagt wird. Und deshalb wissen alle, die im Seminarraum vorne stehen, dass sie eine Dienstleistung für junge Menschen abzuliefern haben, die schon qua Transaktion ein Anrecht darauf besitzen, unterhalten zu werden. Das bedeutet, dass die zu erbringenden Dienstleistungen dem gesellschaftlichen Bewusstseinsstand entsprechen müssen. Hinzu kommen sehr rigide Evaluationen.
Neue akademische Biederkeit
Liest man Gender Trouble vor diesem Hintergrund, wird deutlich, dass das, was da eigentlich zelebriert wurde, fast schon eine untergeordnete Rolle spielte – es ging in weiten Teilen ums akademische Event, in dessen Schatten die eigentlichen Postulate dieser misogynen Schrift, allen voran der Sturz des Feminismus, dann prima gedeihen konnten. Tatsächlich handelt es sich bei Gender Trouble um ein Manifest akademisch aufbereiteter Biederkeit, um eine im Wortsinn lustlose Handreichung für das werdende Gender-Spießertum, die es diesem bis in die Gegenwart hinein erlaubt, einen „Ausschluss“ nach dem nächsten anzuprangern und dies bisweilen gar zum Geschäftsmodell zu machen. Man denke nur an das Expertentum für Ausschlüsse, das sich zwischenzeitlich mit der akademisch-aktivistischen Intersektionalitätsforschung ausgebildet hat. Heute prägt die Verlängerung von Butlers folgenreichstem Postulat, demzufolge das biologische Geschlecht „konstruiert“ sei, nahezu jede genderidentitätsideologische Behauptung, jeden queertheoretischen Einfall und jede transaktivistische Forderung.
Es wäre nach wie vor zu klären, warum sich dieses Denken ausgerechnet in Deutschland so fest etablieren konnte. Abgesehen von den USA, wo diese Arbeiten entstanden waren, war Butler nirgends so erfolgreich wie in der Bundesrepublik. Dieser Umstand erscheint umso bedeutsamer, wenn man sich den zeithistorischen Kontext vergegenwärtigt. Butlers früheste Anhängerschaft zelebrierte die Ankunft von Gender Trouble zu einer Zeit, als im Osten wie im Westen wahrlich andere Probleme tagespolitisch aktuell waren. Was seit 2019 unter dem euphemistischen Begriff „Baseballschlägerjahre“ firmiert – wo man tatsächlich von einer Ära des rassistischen Mobs und des Menschenanzündens sprechen müsste – erklärt schließlich von selbst, was identitäres Denken in jenen Jahren ausmachte. Versucht man, einige Auffälligkeiten an der Butler-Euphorie der frühen 1990er Jahre zusammenzutragen, ist genau das das eigentlich Bemerkenswerte an der damaligen Diskussion: Die angebliche „Dekonstruktion“ der eigenen Identität passte perfekt zu einem Land, das sich gerade selbst in einem Identitätstaumel befand und die ewige Frage „Was ist deutsch?“ neu stellte. Auf diesen Umstand hat auch Ulrike Heider ihrer lesenswerten Abhandlung Vögeln ist schön hingewiesen, die sich den Folgen der Sexrevolte von 1968 widmet.(1)
Zweitens ist hervorzuheben, dass der Untertitel von Gender Trouble im englischen Original Feminism and the Subversion of Identity lautet. Gemeint war damit das ausdrückliche, nur noch antifeministisch zu nennende Vorhaben, das Subjekt des Feminismus zu stürzen. Die Geschlechterdifferenz ist menschheitshistorisch Ort eines konstanten Konflikts gewesen und wird es wohl auch bleiben, egal, was die Großreinemacher des Geschlechts mit Unterstrich und Gender-Sternchen auch versuchen werden. Besagte Biederkeit, die von Butlers Schrift ausging, passte perfekt zu einem in höchsten Maße biederen Universitätsbetrieb, wo man nie im Leben „Orgasmus“ oder „Lust“ aussprechen würde, nun aber mit betonter Bedeutsamkeit von gender und von der „Performativität“ der Geschlechter reden konnte. Das ist doch deutlich bequemer, als Feministinnen ausgesetzt zu sein, die einen unentwegt daran erinnern, dass vielleicht auch die eigene Rollenverteilung zu Hause hinterfragt werden könnte, wenn es um den Abwasch und das Reinigen des Bads geht.
Vom Tisch waren damit auch die Sexualwissenschaft und die Psychoanalyse als konstante Erinnerungen daran, dass der Leib Hort zahlreicher Abweichungen und Pathologien sein kann und das eigene Lusterleben kein angeborenes, sondern ein erworbenes und folglich ein gesellschaftlich vermitteltes ist; dass es irrationalen Neid gibt und dass der Regress auf den Klamauk des um plumpe Parolen kreisenden politischen Protests, den sich eher Achtklässler erlauben, manchmal noch Erwachsene packt; dass narzisstische Kränkungen, aber auch Aggressionen existieren – und dass die Ziele, die sich diese Aggressionen suchen, bisweilen aus dem Unbewußten sprudeln und damit ebenfalls Aufschluss über die jeweilige Gesellschaft geben. Mit Gender Trouble war der Pseudobeweis erbracht, dass man sich nicht mehr den Abgründen der menschlichen Psyche stellen muss, die von individuellen Tragödien vom ausbleibenden Liebesglück im Privaten bis zu Kriegsverbrechen im großen Maßstab reichen und dazwischen alles ausmachen, was Zivilisation und Barbarei auszeichnet. Es reichte fortan, zu fragen, was dieses oder jenes bedeutet, und wie es sich und hinsichtlich gender bemerkbar mache.
Feindbild Großstadtschwuler
Es ist auffällig, dass das, was 1991 mit der Übersetzung von Judith Butlers Gender Trouble zunächst die deutschsprachige Debatte an den Universitäten prägte und von dort in den Kulturbetrieb wanderte, sich 30 Jahre später zum staatlichen wie zum gesellschaftspolitischen Arbeitsauftrag fortentwickelt hat. Die „Vervielfältigung“ geschlechtlicher Identitäten zur „Subversion“ der „heterosexuellen Matrix“ beschränkt sich heute keineswegs mehr auf den Seminarraum. Als repressive Instanz scheint diese „heterosexuelle Matrix“ im aktivistischen wie im bürokratischen Imaginären (unter etwas aktuelleren Begriffen) umso präsenter zu sein, je offensichtlicher gleichgeschlechtliche Ehe, männlich/weiblich/divers-Vermerke in Stellenausschreibungen, sprachmagische Appelle zur angeblichen „Sichtbarmachung“ randständiger Minderheiten allerorts an das Gegenteil erinnern. Dass Butlers Denken in den Gender Studies nach wie vor als Nonplusultra gilt, ist zum einen Ausdruck allgemeiner Ratlosigkeit, wie weiterzudenken, oder besser: wie überhaupt zu denken sei. Es liegt nahe, dass dieser Umstand der eingangs erwähnten Bequemlichkeit geschuldet ist.
Beobachten lässt sich allerdings auch eine Verschiebung der autoritären Sehnsucht, die geradezu etappenweise das eine Feld räumt und im nächsten die Zelte aufschlägt, stets just da Halt machend, von wo aus im jeweiligen historisch-politischen Moment die größte moralische Strahlkraft auszugehen scheint. Galt der gendertheoretische Einspruch zunächst der feministischen Theorie, die in Gender Trouble als materialistischer Feminismus von Monique Wittig und als psychoanalytisches Begreifen der Mutterschaft als subjektiver Erfahrung seitens Julia Kristeva personifiziert attackiert wurde, gaben diese Einwände schon in den 1990er Jahren nichts mehr her, weswegen sich autoritäres Gebaren und zurechtweisendes Gängeln rasch auf die Queer Theory verschoben. Seit etwa zehn Jahren hat diese wiederum erheblich nachgelassen, was auch mit der kontinuierlichen Popularisierung des Adjektivs „queer“ zu tun hat, vor allem aber mit der zunehmenden gesellschaftlichen Liberalisierung, versinnbildlicht in einem möglichen schwulen Kanzlerkandidaten der CDU – und wer hat denn daran heute noch etwas auszusetzen? Seit dem merklichen Abflauen des Queer-Aktivismus im letzten Jahrzehnt hat der Transaktivismus diese Position angeblicher Radikalität inne. Um seine heutigen Wirkungsweisen zu begreifen, muss man nur kurz zurückschauen in die Vergangenheit, denn an seinen Vorgängern wird alles deutlich, was man über die gegenwärtige Manifestation wissen muss.
Um zu verstehen, weshalb die queeraktivistische Meute wundersamer Weise nie gegen die letzten oder neuen Statthalter des sogenannten „Heterosexismus“ aufbegehrt hat, sondern stets gegen unliebsame Individuen wie die beiden Referierenden der hier dokumentierten Vortragsveranstaltung, ist kurz auf die Entwicklungen dieser akademisch-aktivistischen Strömung einzugehen. Im 2017 erschienenen Sammelband Beißreflexe von Patsy l’Amour laLove hat Benedikt Wolf eine „antiemanzipative Wende“ in der Queer Theory ausgemacht, die sich spätestens Mitte der 2000er Jahre vollzog, als die Queertheoretikerin Lisa Duggan die Parole ausgab, dass nicht etwa die gesellschaftliche, d.h. die moralische Vorrangstellung der Heterosexualität das Problem sei, die in diesen Kreisen stets unter der Chiffre „Heteronormativität“ firmierte.(2) Vielmehr sei eine ominöse „Homonormativität“ nun der Hauptfeind, den es zu bekämpfen gelte – personifiziert vom beruflich erfolgreichen, von revolutionären Träumen ablassenden Großstadtschwulen und vielleicht auch von der einen oder anderen Großstadtlesbe. Ihnen wurde angelastet, das Projekt der Subversion der „heterosexuellen Matrix“ fallengelassen und sich in eine Gesellschaft eingegliedert zu haben, an deren repressiven Tendenzen gegenüber „Anderen“ sie nun angeblich teilhätten – freilich und wie so oft, ohne einen einzigen empirischen Nachweis für diese Behauptung beizufügen. Man muss sich hier unweigerlich die Frage stellen, ob das ähnliche gruppenpsychologische Auf- und Ausräumaktionen in den eigenen Reihen sind, wie man sie aus der Geschichte der Linken im 20. Jahrhundert zu genüge kennt, oder doch etwas Eigenständiges.
Ein weiterer Wendepunkt in der Queer Theory war die Publikation einer Ausgabe des akademischen Journals Social Text mit dem Titel What’s queer about Queer Studies now? im Jahr 2005, in der eine Riege heute wortführender Queertheoretikerinnen und Queertheoretiker damit begann, nicht Sexualität – die von Anfang an weniger von Interesse war als irgendwelche Normen –, sondern race und Ethnizität zum Refugium vor jenen Normen zu verklären; je reiner und je abgeschotteter, desto besser.(3)
So kommt es, dass wer sich heute für ein Studium der Gender Studies entscheidet, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Abschluss erwerben wird, der nach mehreren Jahren Studiums einen weiten Bogen um Mary Wollstonecraft, John Stuart Mill oder Qasim Amin(4) gemacht hat – und damit um all jene Autorinnen und Autoren also, die sich vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert für die Frauenemanzipation stark gemacht hatten, indem sie für die Zurückdrängung von Staat, Religion, Moral, Familie und anderer Gemeinschaften plädierten, die heute bezeichnenderweise wieder hoch im Kurs stehen. Dafür wird sich eine Absolventin der Gender Studies nicht nur bestens mit „Homonormativität“ auskennen, sondern auch wissen, was es mit der Begriffsverschiebung von transsexuell zu transgender und von transgender zu trans auf sich hat – ganz zu schweigen davon, dass es eine angeborene Geschlechtsidentität geben soll.
Analyse als Widerspruch
Als ob das alles nicht schon fatal genug ist, existiert zudem noch jene andere, rassistische Dimension des Phänomens, auf die wir 2018 im Sammelband Freiheit ist keine Metapher hingewiesen haben: Je bunter es bei den einen wird, desto monotoner soll es bei den „Anderen“ zugehen. Aus dem Bewusstsein der laut brüllenden Anhängerschaft von Diversity und queerer Mannigfaltigkeit verschwunden ist die von Moral, Überwachung und Gewalt geprägte Lebensrealität von Minderheiten vornehmlich islamischer Provenienz – eine Lebensrealität, die magischerweise nie „heteronormativ“ sein soll, sondern stets zu schützende Kultur. Man lese nur, was Judith Butler auf der berühmten S. 168 ihrer 2005 auf Deutsch erschienenen Schlaftablette Gefährdetes Leben über die Burka schrieb, die in ihren Augen eine „Übung in Bescheidenheit und Stolz“ sei(5) – Hauptsache, sie selbst muss keine tragen. Formulierungen wie diese sind so hässlich, dass man sich fragen muss, welche Ahnungslosigkeit oder aber kalkulierte Eiseskälte eigentlich in der Psyche derer waltet, die sie niederschreiben oder lektorieren. Daraus folgt dann auch, weshalb die Anhängerschaft dieser Ideen und des angeblich im Dienste der Vielfalt verübten, vermeintlich avancierten, urbanen und weltgewandten Exorzismus der Andersdenkenden für das rationale Argument nicht mehr zugänglich ist.
Diesem Trend entgegenzuhalten sind Veranstaltungen wie diese. Denn die Aufregung vorab bestätigt nur, was offensichtlich ist – dass man es hier mit der jüngsten Inkarnation der eingangs genannten stark Fühlenden zu tun hat, deren Affekte und Denken sich disproportional zu einander verhalten. Man möge sich nichts vormachen: Mit dem Argument ist ihnen nicht beizukommen. Stattdessen gilt es, ihre Verhaltensweisen, ihre Parolen, ihre Forderungen und vor allem ihre Moral zum Gegenstand der Analyse zu machen – und zwar einer politischen wie wissenschaftlichen gleichermaßen. Es lohnt sich, standhaft zu bleiben. Denn der Trostlosigkeit des Ganzen und seinen abstoßenden Ausprägungen zum Trotz besteht Hoffnung darauf, dass sich die destruktiven Tendenzen zumindest nicht unwidersprochen ausbreiten werden.
Das Irrationale hat im angelsächsischen Raum einen schwereren Stand als im mental provinziellen Deutschland. Nicht zuletzt deshalb gibt es in Großbritannien und Australien bereits explizit innerakademischen Widerstand gegen das Gender-Paradigma – namentlich von den genderkritischen Philosophinnen Kathleen Stock, Jane Clare Jones, Sophie Allen, Mary Leng, Rebecca Reilly-Cooper und Holly Lawford-Smith getragen, die im Gegensatz zur Literaturwissenschaftlerin Judith Butler tatsächlich als Philosophinnen anzuerkennen sind. Hinzu kommt eine Reihe weiterer feministischer Akademikerinnen aus anderen Disziplinen, darunter die Juristin Rosa Freedman, die Historikerin Selina Todd oder die Kriminologin Jo Phoenix. Alle von ihnen haben erhebliche Anfeindungen erlebt, weil sie es wagten und wagen, dem ideologischen Trend zur Austreibung der Natur (und dem Denken obendrein) nicht nur zu widersprechen, sondern sich den vehementen Anfeindungen ihrer Person nicht einen Millimeter zu beugen.(6) Das liegt daran, dass online geführte Hetzkampagnen, mit Fäkalien beschmierte Büroräume oder das dreiste Anschreiben der jeweiligen Arbeitgeber mit der Forderung, die Geschmähten gefälligst zu entlassen, nur belegen, womit man es zu tun hat: Mit einem Mob, dessen quietschbunte Camouflage bereits in jenem Moment fällt, in dem man genau hinhört, was er fordert. Erst recht dann, wenn man ihm, wie hier, öffentlich widerspricht.
Vojin Saša Vukadinović
Anmerkungen:
1. Vgl. Ulrike Heider: Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt, Berlin 2014.
2. Vgl. Benedikt Wolf: Stonewall hieß Angriff. Zur antiemanzipativen Wende in der Queer Theory, in: Patsy l’Amour laLove (Hg.): Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Berlin 2017, S. 138-145.
3. Vgl. Judith Halberstam/José Esteban Muñoz/David L. Eng (Hgg.): What’s Queer about Queer Studies now?, in: Social Text 3/4 (2005). Neun Jahre zuvor hatte der Physiker Alan Sokal im gleichen Journal seinen berühmten Hoax platziert.
4. Vgl. Mary Wollstonecraft: Die Verteidigung der Frauenrechte, Aachen 2008 [1792]; John Stuart Mill/Harriet Taylor Mill: Die Unterwerfung der Frauen, Ditzingen 2020 [1869]; Qasim Amin: Die Befreiung der Frau, Würzburg/Altenberge 1992 [1899].
5. Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt am Main 2005.
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