Die Proteste gegen den G20-Gipfel haben gezeigt, dass die Linke aus der eigenen Geschichte nichts gelernt hat.
Wenige Tage nach dem Ende der Gipfel-Proteste erschienen die ersten Bilanzen der radikalen Linken. Es sind Erfolgsmeldungen. Sie lauten in etwa so: Hamburg war im polizeilichen Ausnahmezustand. Die Linke hat dem getrotzt und zusammen mit der Bevölkerung den »Aufstand der Hoffnung« gegen die »Traurigkeit und Perspektivlosigkeit« (Interventionistische Linke, kurz: IL) des Kapitalismus gewagt. Die IL spricht resümierend von »unserem Sieg«. Auch beim Ums-Ganze-Bündnis herrscht Euphorie: Der Polizeieinsatz habe die »autoritäre Wende« des Neoliberalismus deutlich gemacht, nicht aber den »Hamburger Aufstand« im »Herz des europäischen Kapitalismus« verhindern können. In dieses Horn bläst auch die Gruppe 8. Mai. Trotz der »Militarisierung der Gesellschaft«, die in Hamburg sichtbar geworden sei, obwohl das »rechtsstaatliche Kostüm und zivilisatorische Restriktionen weitgehend abgelegt wurden« und trotz des »zum Teil faschistoiden Vorgehens« der »Besatzungsarmee« (IL), habe Hamburg gezeigt, »dass punktuell dem Staat die Kontrolle abgenommen werden kann« (Gruppe 8. Mai). Es habe stundenlang geknallt und obwohl es verboten gewesen sei, konnte eine PKK-Fahne durch die Hamburger Innenstadt getragen werden, freut sich Ums Ganze. Kritische Einschätzungen, dass auch viel »Macker-Scheiße« passiert sei und sinnlos Kleinwagen angezündet worden wären, finden sich im hinteren Teil der Einschätzungen. Sie werden als »Manöverkritik« in ihrer Bedeutung relativiert oder legitimieren das Geschehen, etwa, wenn es bei Ums Ganze heißt, soziale Konflikte würden nun mal nicht nach dem Lehrbuch aus dem Politikunterricht ablaufen. Und wenn die Kids aus dem Viertel eben immer so drangsaliert werden, dann beleidigen sie die Bullen eben als »Fotzen« und »Hurensöhne« und rasten mal richtig aus.
Eine andere Bewertung der Ereignisse ist möglich. Diese bezieht sich im Folgenden vor allem auf einen Text, der im Vorfeld der Ereignisse in der linken Wochenzeitung Jungle World erschien und vieles vorwegnahm und problematisierte, was dann tatsächlich eingetreten ist. Insofern wäre es zu billig, diese Kritik, als Teil der Sicherheitshysterie misszuverstehen, die erwartungsgemäß und im Einklang mit der Funktionsweise moderner Staatlichkeit nun, sicher noch einmal angeheizt durch den Wahlkampf und die kulturelle Tradition deutscher Ordnungsliebe, zu beobachten ist. Der Text des Roten Salons zeigte anhand der Aufrufe zu den Protesten, dass ein linker Gewaltevent drohte, in dem sich sowohl die Verhältnisse spiegeln, als auch historische Anknüpfungen an die Geschichte kommunistischer Verbrechen zeigen würden. Gerade weil sich aber jetzt, wie in der Leipziger Volkszeitung geschehen, Leute ohne Hinweis auf die historische Dimension auf unsere Warnung vor dem roten Terror beziehen, lohnt sich die Rekapitulation des dort Formulierten.
Überwältigt von der russischen Oktoberrevolution verfasste Lenin im Winter 1917/1918 unter dem eher nüchtern anmutenden Titel »Wie soll man den Wettbewerb organisieren?« ein Grundsatzpapier für den Umgang mit der neuergriffenen Macht. Darin heißt es: »Nur durch die freiwillige und gewissenhafte, mit revolutionärem Enthusiasmus geleistete Mitarbeit der Massen der Arbeiter und Bauern an der Rechnungsführung und Kontrolle über die Reichen, die Gauner, die Müßiggänger und Rowdys ist es möglich, diese Überbleibsel der fluchbeladenen kapitalistischen Gesellschaft, diesen Auswurf der Menschheit, diese rettungslos verfaulten und verkommenen Elemente, diese Seuche, diese Pest, diese Eiterbeule zu besiegen, die der Kapitalismus dem Sozialismus als Erbschaft hinterlassen hat.«
Die von Lenin gewählten Charakterisierungen für die Feinde des Sozialismus lesen sich heute als Ankündigung der Verfolgung von politischer Opposition und sozialer Differenz, die bereits den Beginn der gesellschaftlichen Transformation in Russland und nicht erst das Regime Stalins kennzeichnete. Die unschuldigen Opfer wurden allein deshalb zu Zielscheiben des Roten Terrors, weil sie einer bestimmten sozialen Schicht angehörten, und nicht, weil sie tatsächlich Konterrevolutionäre waren. Für die Linke müsste dieses Wissen zu der Erkenntnis führen, dass die von ihr angestrebte radikale Umgestaltung der kapitalistischen Verhältnisse sich an Maßstäben von Humanität und politischer Freiheit orientieren muss.
Widmet man sich den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg, finden sich dagegen eher neuerliche Feindbildkonstruktionen und ein politischer Aktionismus, der die Bereitschaft zu Bürgerkrieg, Gewalt und Terror gegen Andersdenkende anruft. Nach einem der zahlreichen Anschläge militanter G20-Gegner forderten die Urheber in einem Bekennerschreiben zu Hausbesuchen bei Hamburger Millionären auf; in einem anderen heißt es, man könne derzeit nur die »Maschine zum Stottern« bringen, aber »die Maschinisten nicht aufhalten«, gefolgt von der unverhohlenen Drohung: »noch nicht«. Eine weitere Selbstbezichtigung informiert, dass »Bullen mit Feuer« angegriffen wurden. Das sei gerechtfertigt, weil es sich bei »Bullen« um ein Werkzeug der Klassenjustiz handele.
Mit den »Reichen«, den vage bleibenden »Maschinisten« und auch den »Bullen« geraten also wieder soziale Schichten sowie Gruppen vermeintlicher Funktionsträger in den Fokus linker Gewalt. Man fühlt sich an die »Only a dead pig is a good pig«-Rhetorik der Black Panther Party erinnert, die später von der RAF übernommen wurde. »Natürlich kann geschossen werden«, meinte Ulrike Meinhof, für die klar war, auf welcher Seite der Unterscheidung »Mensch oder Schwein« Polizisten einzuordnen waren. Wer hoffte, dass diese Art der Gegnerbestimmung gerade aufgrund ihres negativen Traditionsgehalts innerhalb der bewegungslinken Protestgruppen zu einer historisch informierten Debatte über die Legitimation von Militanz und zu ihrer Kritik führt, wurde enttäuscht.
Mit viel Pathos und gänzlich affirmativ rief die IL in ihrer »Ersten Mitteilung zum G20-Gipfel« dazu auf, 100 Jahre nach dem Roten Oktober »die Revolution aufs Neue zu erfinden«, und erhob die »Zerstörung der herrschenden Ordnung« zum Programm. In markigen Worten wurden die G20-Proteste als Auftakt einer Rebellion beschworen, als Bruch »in der wankenden Ordnung der autoritär-kapitalistischen Gegenwart«, und die Leser dazu aufgefordert, »die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen«. Im »Herzen der Bestie« müsse der »gemeinsame Widerstand gegen die nationalistische Kackscheiße« organisiert werden, wobei die verbindende Solidarität unter den linken G20-Gegnern Hoffnung schüre, »dass unsere Rebellion zu etwas Besserem führen wird als der gegenwärtigen Traurigkeit«. Kaum eine Demo-Phrase wurde ausgelassen, wobei der Standpunkt radikaler Kritik eher für Eingeweihte illustriert als für Außenstehende nachvollziehbar wird.
Nichtsdestoweniger mache die derzeitige Lage eine linke Erhebung unumgänglich. Gruppen wie die IL, TOP B3rlin oder das autonome Demonstrationsbündnis »Welcome to Hell« interpretieren die Krise der wirtschaftsliberalen Globalisierung und die zunehmenden Differenzen zwischen den reichen Industriestaaten als aussichtsreiche Möglichkeit: Im sich abzeichnenden Kampf zwischen einem »autoritären Neoliberalismus« und einem »nationalistischen Backlash« stünden die Chancen gut, ein »starkes Zeichen« eines »ungehorsam« zusammenkommenden »Lagers grenzübergreifender Solidarität« zu setzen. Zumal beim Gipfel »Reaktionäre« wie »Erdoğan, Trump und Putin« mit »Vertretern eines autoritären Wettbewerbsstaates wie Merkel und Co.« an einem Tisch sitzen und die Reproduktion der kapitalistischen Ordnung besprechen.
Das war zweifelsohne der Fall, doch lässt sich darin angesichts wachsender Interessenskonflikte und militärischer Drohpotenziale zwischen den kapitalistischen Staaten nicht auch ein Moment pragmatischer Vernunft erkennen? Nach Darstellung der Bundesregierung bot das G20-Treffen die Möglichkeit, auf informeller Ebene mit den Spitzendiplomaten neben der »Stabilisierung der Weltwirtschaft (…) geopolitische Konflikte, Terrorismus, Migrations- und Flüchtlingsbewegungen, Hunger, den voranschreitenden Klimawandel und Pandemien« zu besprechen und nach gemeinsamen Lösungsstrategien zu suchen. Es gibt viele Gründe diese Agenda als zynisch, plakativ und als unter Bedingungen nationalstaatlicher Konkurrenz nicht bewältigbar zu bewerten. Nicht zuletzt, weil Deutschland vor dem Gipfel das Lob offener Märkte aus einer Position ökonomischer Stärke heraus formuliert und sich gegenüber strukturell benachteiligten Staaten als Lehrmeister aufspielt. Doch wenn Angela Merkel bekennt, sie wolle »kein Zurück in eine Welt vor der Globalisierung« und sich überzeugt zeigt, dass »durch nationale Alleingänge, durch Abschottung und Protektionismus« besagte »Herausforderungen ganz sicher nicht gelöst werden«, artikuliert sie eine Hoffnung, hinter die auch die Linke nicht zurückfallen darf.
Obwohl in den linken Aufrufen auf die Gefahr des Nationalismus hingewiesen wird, ist man nicht bereit, in seinem weltoffenen und politisch liberalen Widerpart das kleinere Übel zu erkennen. Der Gipfel wird vielmehr als Beweis angeführt, dass die »Gegenüberstellung von neoliberaler ›Vernunft‹ und rechter ›Unvernunft‹« durchbrochen werden müsse« (IL). Die Existenz unterschiedlicher politischer Freiheitsgrade wird selbst noch zum Verdachtsmoment gegen das System: »Die Herrschenden versuchen verzweifelt, die imperiale Lebensweise durch sogenannte liberale Demokratie zu verhüllen«, raunt es in der Mitteilung der IL verschwörungstheoretisch. Es gebe »keinen besseren oder schlechteren Kapitalismus«, fabuliert der Altautome Andreas Beuth aus dem Organisationskreis der »Welcome to Hell«-Demonstration im Taz-Interview. Die Unterschiede zwischen Manchester-Kapitalismus und Sozialstaat, zwischen einem progressiven Liberalismus mit Antidiskriminierungsgesetzgebung und einer Entwicklungsdiktatur mit Gefängnisdrohung für jeden kritischen Geist werden damit nivelliert und die verschiedenen Gesellschaftsformen schlichtweg über einen Kamm geschert. Während mit Emphase über Kriege, bewaffnete Konflikte, Flucht und die Abschottung Europas schwadroniert wird, sieht man über Feinheiten wie Rechtsstaat oder Willkürherrschaft, die am Ende über die Migrationsrichtung entscheiden, lapidar hinweg. So beweisen die Aufrufe genau die Indifferenz, die »Merkel und Co.« wegen ihrer Verhandlungsbereitschaft gegenüber Despoten vorgeworfen wird.
Aber den linken G20-Gegnern geht es gerade nicht um Differenzierung, sondern es kommt ihnen auf das gemeinschaftsstiftende Moment ihres Feindbildes an. So heißt es im Aufruf von TOP B3rlin mit Blick auf die unterschiedlichen Gruppierungen im Protestlager: »Inhaltlich können wir uns schließlich alle darauf einigen, dass beim G 20 zwanzig Arschlöscher zusammenkommen und nur Scheiße herauskommt.« Die fäkalsprachliche Banalisierung täuscht nur mühsam darüber hinweg, dass man es mit der Begründung der Gipfelproteste gar nicht so genau nehmen mag und stattdessen lieber mal so richtig auf den Tisch haut. Bei so viel Entschlossenheit lässt sich der Gedanke wohl kaum erörtern, ob es unter den jetzigen Bedingungen der kapitalistischen Krise nicht darum gehen müsste, gegen deren regressivste Tendenzen zu demonstrieren. Zu skandalisieren wären nicht Versuche, den Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS) zu koordinieren, stattdessen sollte die Linke gegen den türkischen Autoritarismus, den russischen Neoimperialismus oder den saudi-arabischen Export des wahhabitischen Islam protestieren.
Zweifelsohne taugt die Inszenierung der G20 besser zum bewegungslinken Hassobjekt, weil man sich auf diese Weise im Arsenal antikapitalistischer Projektionen bedienen kann. Den langjährigen Versuchen zum Trotz, das Kapitalverhältnis als umfassendes Herrschaftssystem zu verstehen, das sich hinter dem Rücken der Menschen reproduziert, wendete sich die G20-Kritik gegen vermeintliche Repräsentanten des Kapitals, denen mehr oder weniger direkt ein besonders böser Wille zu Ausbeutung und Unterdrückung zugeschrieben wurde. Zwar werde der Gipfel nur von austauschbaren Charaktermasken ausgetragen, aber diese seien schließlich »real«, heißt es im Aufruf von »Welcome to Hell«. Im Bekennerschreiben zu den jüngsten Anschlägen auf die Kabelanlagen der Bahn drohen die Autoren den »Maschinisten« der Weltwirtschaft und in einem Aufruf kündigte das linksradikale Bündnis Ums Ganze an, die »Verantwortlichen und Profiteure dieses Systems« zu »markieren«.
Im Rechenschaftsbericht des Bündnisses wird diesbezüglich Planerfüllung vermeldet. »Trotz einiger idiotischer Aktionen« sei es in Hamburg »unterm Strich« gelungen, »die richtigen zu treffen«. Pech für die über dem Strich. Aber wer steht eigentlich unter dem Strich? Die »Bullen«, deren Verletzungszahl heimlich bestimmt von nicht Wenigen wie eine Trophäe abgespeichert wird. Und die Reichen, die man treffsicher an ihren Autos und Wohngebieten erkennt. In der Markierung der sogenannten Charaktermasken steckt eine Willkür, die sich, so steht zu befürchten, mit einer tatsächlichen Straßenmacht der Bewegungslinken noch ausweiten würde. Gerade wenn man bedenkt, dass der Begriff der Charaktermaske gewissermaßen ein Catch-all-Begriff ist und alle Funktionsträger der Gesellschaft treffen kann. Nicht zuletzt deshalb konkretisiert er sich im Ressentiment gegen die Reichen, obwohl auch die Besitzer kleiner Läden und kleiner Autos sich im System nicht anders als Charaktermasken an Universitäten, in Redaktionen, am Fließband usw., als von den ökonomischen Verhältnissen geprägte Subjekte gegenübertreten.
Lust an der Konkretisierung trieb wohl auch TOP B3rlin dazu, mit der Blockade des Hamburger Hafens den »Sachzwang kapitalistischer Globalisierung politisierbar« zu machen. Die Gruppe wollte thematisieren, dass sich durch Produktionsverlagerungen ins Ausland die Ausgangsbedingungen von Lohn- und Arbeitskämpfen verschlechtert haben. Dies funktioniere nur, wenn angesichts der international arbeitsteiligen Produktion die Transportkosten niedrig bleiben. Wird also, wie in Hamburg geschehen, die logistische Infrastruktur angegriffen, bekomme die Linke »ein Mittel in die Hand, das die Gegenseite in die Knie zwingen kann«. Das klingt nach einem Sandkastenmanöver, das insbesondere von den Hamburger Hafenarbeitern vermutlich mit viel Sympathie aufgenommen wurde. Tatsächlich hatte man versucht, in einem Flugblatt die Hafenarbeiter darauf hinzuweisen, dass auch sie blöderweise auf der falschen Seite stehen.
Neben der damit verbundenen Hybris störte aber vielmehr die symbolische Pointe der geplanten Aktion: Die national angesiedelte Produktion und die Begrenzung des Warenverkehrs erschienen als Lösung des Problems. Schon wollte man sich freuen, dass nach der Kampagne gegen die Europäische Zentralbank in Frankfurt die schier obsessiven Schuldzuweisungen an Banker und Politiker ein wenig abebbten, da findet die Globalisierungskritik ihre Gegner erneut mit schlafwandlerischer Sicherheit in der Zirkulationssphäre des Kapitals.
Dazu passt, wenn im Neuen Deutschland Samuel Decker und Thomas Sablowski (die kürzlich eine Studie zur G20 für die Rosa-Luxemburg-Stiftung ausgearbeitet haben) die Entscheidung der Bundesregierung, Afrika an die Spitze der G20-Agenda zu setzen, mit dem Imperialismus des 19. Jahrhunderts analogisieren. 1884/1885 habe die Berliner Afrika-Konferenz unter Reichskanzler Bismarck den »Beginn einer neuen Etappe im Wettlauf der Kolonialmächte um die Aufteilung Afrikas« eingeläutet, heute gehe es den Industriestaaten um eine »neue Welle neoliberaler Strukturpolitik zur kapitalistischen Durchdringung des afrikanischen Kontinents«. Dass sich die Bevölkerungsmehrheiten in den abgehängten Regionen nichts sehnlicher als eine kapitalistische Durchdringung wünschen, die wenigstens die Aussicht auf sozialen und politischen Fortschritt böte, darf nicht bedacht werden. In der Mobilisierung gegen den Gipfel blieb jedenfalls unerwähnt, was einer Weltbank-Studie aus dem Jahr 2015 zu entnehmen ist: In den vergangenen 20 Jahren ist es demnach weltweit zu einer Halbierung der extremen Armut gekommen; in bevölkerungsreichen Schwellenländern wie China und Indien steigt der materielle Wohlstand ebenso wie die Lebenserwartung und der Zugang zu Bildung, insbesondere für Frauen. Demgegenüber geht die Säuglingssterblichkeit zurück. Selbst in der Subsahara-Region ist Zahlen der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam zufolge seit 2001 die Armutsquote von 57 auf 41 Prozent gefallen. Zweifellos sagen solche Zahlen wenig über die ungerechte Verteilung von Reichtum in der Welt aus, aber sie deuten eine unterschlagene Ambivalenz an, die die linken Generalabrechnungen unglaubwürdig erscheinen lassen.
Dies gilt auch mit Blick auf die Ableitung von Krieg und militärgestützter Außenpolitik. Die »kapitalistischen Kernländer«, so heißt es im Aufruf von »Welcome to Hell«, sicherten ihre ökonomischen Interessen nicht mehr nur durch die »Implementierung von Handelsabkommen und einer kapitalorientierten Zoll- und Fiskalpolitik«, sondern griffen »immer häufiger auf militärische Optionen zurück«. Tatsächlich ist die Anzahl kriegerischer Konflikte seit dem Ende des Kalten Kriegs enorm angestiegen. Dabei handelt es sich aber nicht um kapitalistische Raubkriege, wie besagter Aufruf suggeriert, sondern zuvörderst um Bürgerkriege, wie sie heute in zerfallenden Staaten wie Syrien und Libyen stattfinden. Werden die dortigen Interventionen auf Macht- und Profitstreben verkürzt, ist eine angemessen kritische Auseinandersetzung mit der westlichen Sicherheitspolitik schon verfehlt. Die Koalitionen der Willigen, NATO und EU sandten nicht Soldaten in den Kosovo oder nach Afghanistan, um profitable Anlageobjekte und Ressourcen zu gewinnen. Sie versuchten vielmehr, mittels militärisch erzwungener Demokratisierung internationale Stabilität als Grundbedingung ökonomischen Wachstums herzustellen. Die wirtschaftliche Durchdringung der Interventionszonen war bloßes Mittel zum Zweck. In der Regel scheiterten die zivil-militärischen Entwicklungsprojekte auch am geringen Interesse, Kapital in den Hochrisikozonen von Bürgerkriegsländern zu verbrennen. Nur ist das kein Grund zur Häme, denn damit blieben diejenigen, die in Kabul oder Damaskus um Menschenrechte ringen, auf sich allein gestellt.
Dass im Expansionsinteresse des Kapitals, dem militärischen Demokratieexport und im Freihandel Momente von Befreiung stecken – wohlgemerkt nur Momente, nicht die befreite Gesellschaft selbst –, müsste in einer Zeit identitätspolitischer Regression Gegenstand linker Strategiedebatten sein. Die globalisierungskritische Linke bläst blies dagegen, so auch in Hamburg geschehen, besinnungslos zum antikapitalistischen Angriff. Angespornt von den »Blutspuren der internationalen Ausbeutung«, die »Welcome to Hell« von den Mauern Hamburgs »abtropfen« sieht, sannen die Black-Block-Aktivisten auf Krawall. Schon durch die ständige Wiederholung, der Protest solle »unberechenbar« bleiben, wurde eher umschrieben als getarnt, was wirklich gewünscht war. Die autonome Floskel, es werde kein ruhiges Hinterland geben, ergab auch in einer Hafenstadt nicht viel mehr Sinn und gab wie immer, wenn sie benutzt wird, nur ein weiteres Beispiel, wie sich die Linke mit Hilfe einer passenden Semantik auf die Gewalt einstimmt.
Natürlich will sie es am Ende auch in Hamburg, trotz einer Reihe von Brand- und Farbanschlägen bereits im Vorfeld der G20-Ereignisse, nicht gewesen sein: »Wir üben keine Gewalt aus, wir leisten Widerstand«, so wiederum Andreas Beuth, der sich im schon erwähnten Taz-Interview in kapitalistischer Überbietungslogik auf einen »der größten schwarzen Blöcke, die es in Europa jemals gegeben hat«, freute. Das Bündnis Ums Ganze verbat sich »jede Spaltung und Kriminalisierung der Proteste« und lud keine zehn Zeilen später – ganz höflich, in der Sprache einer NGO – »alle« dazu ein, »schon jetzt die Herausforderung anzunehmen und mit uns gemeinsam, kreativ und vielfältig den Aufstand gegen die Eliten und ihren Ausnahmezustand zu wagen«. Auffällig ist nicht nur, wie sich hier die Kritik am Polizeieinsatz als sich selbst erfüllende Prophezeiung erwies, sondern vor allem, wie in einer Mischung aus Scheinheiligkeit und Lokalpatriotismus – wie könne der Staat es wagen, gerade die linke Szene in Hamburg zu provozieren – die falsche Legitimation linker Gewalt betrieben wurde.
Scheinheiligkeit prägt auch die linksradikalen Kritiken an der Polizeigewalt im Nachgang der Gipfelproteste. Die gewalttätigen Ereignisse, die doch in den Aufrufen, den Aktionsplanungen, der vorbereitenden Anschlagsserie und mit dem Einheitsgebot unzweideutig angesprochen wurden, erscheinen jetzt als Notwehr gegen den Polizeistaat, dem schon mal die Fratze des Faschismus angedichtet wird. Die Polizei habe heimtückisch angegriffen, dabei wollte man ja nur friedlich demonstrieren. Die Suggestionskraft, die für diesen Glauben notwendig ist, erschreckt.
Der Herausgeber des Wochenblattes »Freitag« und notorische Israelhasser, Jakob Augstein, der seine autonomen Freunde verstanden hatte und parallel zu den Krawallen der Welcome to Hell-Demo twitterte: »Der Preis muss so in die Höhe getrieben werden, dass niemand eine solche Konferenz ausrichten will.«, war dann später auch der Meinung, die Gewalt ginge von den Organisatoren des Gipfels aus.
Tatsächlich aber hatte der Staat reagiert. Und zwar so, wie er bei vergleichbaren Ereignissen immer und überall reagiert. Seattle, Genua, Prag, Thessaloniki, Göteborg, Heiligendamm – die Geschichte gewalttätiger Globalisierungsproteste inklusive eines brutalen Vorgehens der Polizei ist lang. Wer darin eine Tendenz zum autoritären Faschismus erkennt, verniedlicht alle real existierenden und historischen Polizeistaaten. Die Unangemessenheit der Kategorien zeigt sich schon anhand des Widerspruchs, dass die Polizei mit Demoanmeldern verhandelt hat, und ihr Vorgehen zeitgleich von Abgeordneten wie Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) und Ulla Jelpke (Die Linke), oder linken Prominenten wie Werner Rätz (Attac) oder eben Jakob Augstein in den Medien kritisiert werden konnte. Wer diesen Widersprüchen durch begriffliche Aufrüstung entgehen will, trägt dazu bei, dass der linke Militanzfetisch auch in Zukunft nicht hinterfragt, sondern aus Gründen der Sinnstiftung reproduziert wird.
Demgegenüber sollte nüchtern eingestanden werden, dass der Staat mit Hilfe der Polizei tat, was er unter bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen tun musste: Ordnung und Sicherheit, die Geltung der Gesetze und der Eigentumsordnung gewährleisten. Die darin steckende Gewalt sollte keineswegs von Kritik ausgenommen werden, aber ebenso gehört in den Fokus gerückt, was unter den heutigen Bedingungen militanten Bewusstseins jeweils folgt, wenn der Staat temporär nicht zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Lage ist. Das ließ sich, wenn auch unter verschiedenen Voraussetzungen, in Heidenau und jetzt in Hamburg ablesen. In der Schanze waren dann ganz schnell Gruppen am Start. Für die waren Polizisten Hurensöhne, und Leute, die ihr Fahrrad nicht als Barrikadenbestandteil sozialisieren wollen, bekamen auf die Fresse.
Kein bisschen besser, wenn die Abgrenzung vom Krawall mit dem Hinweis erfolgt, er sei am falschen Ort geschehen. Besagter Andreas Beuth, Sprecher der Autonomen, drückte sein Unverständnis darüber aus, »dass man im Schanzenviertel die eigenen Geschäfte«, in die man selbst einkaufe gehe, zerstört habe und nicht die im wohlhabenderen Stadtteil Blankenese. Doch auch diese kiezpatriotische Aufspaltung der kapitalistischen Herrschaft in »mein gutes Viertel« und den »bösen Rest« wird ein Ums-Ganze-Bündnis nicht von ihrer solidarischen Einschätzung abbringen, dass es in Hamburg gelungen sei, die Kritik kapitalistischer Herrschaft als Ganzer zu zeigen.
Doch auch in der Einschätzung des Ums-Ganze-Bündnisses verrät sich die Wahrheit durch Sprache. Da bezeichnet man die Polizei wie bei einem Fußballspiel als »schlechte Verlierer«, weil sie jetzt bestimmt zu mehr Repression neigen werde. Durch die Wortwahl scheint hindurch, dass man den Riot selbst auf der Ebene des Wettbewerbs und seiner kulturellen Überformung wahrnimmt.
Ja, Kapitalismus ist auch Gewalt, aber es ist zu fragen, ob linke Militanz diese gewaltförmigen Verhältnisse einfach nur spiegelt und auf diese Weise reproduziert, wenn sie sich an der Schlagkraft »Schwarzer Blöcke« und der Bestrafung und Ausschaltung vermeintlicher Gegner orientiert. Ein Teil dieser Militanz rührt aus der Ohnmacht fehlender Handlungsperspektiven, aber das macht sie keineswegs progressiv. Sie weist damit nicht in Richtung einer besseren, nämlich das Leben und die Individualität der Menschen schätzenden, Alternative zu den jetzigen Verhältnissen.
Der Verdacht einer Spiegelung von Gewaltverhältnissen zeigt sich auch dann, wenn die Beteiligung an den Riots als spannendes Freizeitabenteuer präsentiert wird. Das ist zwar ehrlicher als die verlogene Haltung von Autonomen und Anarchisten, wonach der Staat und die Verhältnisse die radikalen Linken zum militanten Widerstand zwingen. Aber schon die Ästhetik von Straßengangs, die sich an ihrer eigenen Gefährlichkeit berauschen, und der unverhohlene Wunsch, dass es »action« geben müsse und etwas Außergewöhnliches passieren möge, steht alles andere als im Widerspruch zum heutigen Eventkapitalismus.
Gefahr und Risikobereitschaft werden nicht nur im Red-Bull-Bulletin als Marketingstrategie präsentiert. Sie passen zu einem kapitalkonformen Typus, der einfach alles gibt, um sich als etwas ganz Besonderes im großen Allerlei der Marktsubjekte anzubieten. Eigentlich möchten sich die Autonomen mit ihrer Militanz als nicht zu vereinnahmender Störfaktor im sogenannten Normalbetrieb zeigen. Man hat es ja auch schwer, wenn ein gesellschaftlich herrschendes Milieu aus grün angehauchten Bildungsgewinnlern, alternativen Linken und zivilgesellschaftlich engagierten Weltverbesserern angeführt von Spiegel, Freitag und der Süddeutschen die Notwendigkeit radikaler Proteste gegen G20 und den Finanzmarktkapitalismus betonen. Aber diese Abgrenzung mittels Militanz bleibt schon aufgrund ihrer unzweideutigen Ankündigung in Aufrufen und Mobilisierungsvideos und ihrer sich selbst genügenden Praxis (Wer braucht notwendig die Dinge aus den aufgebrochenen Supermärkten? Welchen politischen Vorteil bringen drei Stunden ohne Polizei in der Schanze?) inszeniert. In Hamburg randalierten nicht die Ausgestoßenen (wie es die Krawallversteher Karl Heinz Dellwo und Thomas Seibert in Auswertungsartikeln in der TAZ freudig verkündeten), weil sie mit dem Rücken zur Wand stehen, sondern gelangweilte Bürgerkinder und narzisstische Charaktere des Eventkapitalismus. Sich selbst in diesem gespielten Aufstand zu erleben und mediale Resonanz darauf zu erfahren, war dabei wichtiger als vermeintlich politische Ziele.
Und natürlich kann man sich dann hervorragend in die Wut gegen das System hineinsteigern, wenn die Polizei alles andere als zimperlich gegen die Proteste vorgeht. Aber selbst das ist vorgeschoben: Wer seine Aufrufe mit »Welcome to Hell« betitelt, hat sich auch mit Blick auf das Verhalten der Polizei genau das gewünscht, was dann passiert ist.
Doch noch über die Kritik an dieser ritualisierten, abgeschmackten und doppelbödigen Inszenierung von Radikalität ist und bleibt die linke Militanz als Ankündigung des zukünftigen Umgangs mit Abweichlern, Nichtüberzeugten und Gegnern zu fürchten. In einem Selbstbezichtigungsschreiben der Gruppe »Eat the Rich« nach Brandanschlägen auf die Autos zweier Hamburger Millionäre formulierten die Autoren die Anregung, »die wilde Zeit des G20-Gipfels für Hausbesuche bei den weit über 40 000 Hamburger Milionär*innen zu nutzen und dies in den Aktionsplänen zu berücksichtigen«. Der von ihnen begangene Anschlag stehe zudem »in guter alter sozialistischer Tradition« und markiere das kapitalistische Eigentum, das stattdessen vielmehr Bedürftigen als Erholungsort zur Verfügung gestellt werden solle. Vielleicht lässt sich noch davon absehen, dass hier jemand ohne einen blassen Schimmer von der Verlogenheit der sozialistischen Erholungskultur spricht, die exklusive Ferienaufenthalte an politisches Wohlverhalten und Arbeitsleistung koppelte. Von der Benutzung ehemaliger Villen für Jugendwerkhöfe, Schulen und andere Instanzen der autoritären Disziplinierung ganz zu schweigen. Der Aufruf zum Hausbesuch indes, also zur Mob-Action gegen die sozialen Feinde, steht in der Tradition genau jenes revolutionären Terrors, aus dem vor 100 Jahren eines der unmenschlichsten Regime des vergangenen Jahrhunderts hervorging. Der dann tatsächlich unternommene Ausflug der Autonomen in die Hamburger Elbchaussee ist nicht wegen der Anzahl von dabei in Flammen aufgegangenen Autos ein Problem, sondern weil er aufgrund des Feindbildes sozialer Differenz unternommen wurde.
Zum Schluss: Zwischen der mangelnden Wertschätzung liberaler Grundrechte, hinter die ein linkes Projekt der Befreiung nicht zurückfallen darf, und der Leichtfertigkeit, mit der Gewalt gegen Personen legitimiert wird, besteht ein Zusammenhang. Vor diesem Hintergrund erscheint der Rechtsstaat als Fluchtpunkt restlinker Vernunft, die Randale in der Hansestadt dagegen als Vorschein des Schlimmeren.
Uli Schuster (Roter Salon, Leipzig)
Ich finde den Text gut. Er schafft es,eine autosuggestive Selbstinszenierung ohne tiefen Sinn oder theoretisch fundiertes, zeitgemäßes Programm zu entlarven. Er zeigt, wie sehr entkoppelt (die Diskurse haben medial und im Hinblick auf die Lebenswirklichkeit vieler Menschen keine Relevanz) und doch wieder verwurzelt (der „narzistische“, selbstbezogene, selbstüberhöhende ziemlich entgrenzte, selbstpositivistische Habitus, der in den zeitlich nicht so weit zurückliegenden Ausformungen des Kapitalismus und der Medien- und Informationsgesellschaft gesprossen ist) die Protestierenden mit der Gesellschaft sind.
Aber was diesem Text völlig abgeht, weil er es auch gar nicht will, ist das Verständnis des Stellenwertes des kollektiven Momentes. Das ist sicher gewollt. Aber es ist grundfalsch. Nicht nur, weil weitgehend atomisierte Individuen auch keine stabilen und wirklich soliden Kooperative mehr aufbauen können, die nötig wären, wie auch immer gerechtfertigt und zu welchem Zweck auch immer, um Wirklichkeit zu verändern und aus vermeintlichen trügerischen Befreiungszirkeln auszubrechen, sondern auch deshalb, weil solche Kollektive von atomisierten, selbstbezogenen, verwöhnten Individuen erst gar nicht eine Agenda, die über ihre eigenen Partikularprobleme hinausgeht, schaffen kann (schon, weil sie die Sprache des Selbst und der Therapie und der Normalität und Unangepasstheit mangels Beschäftigung mit anderen Sujets und, wie hier auch sehr schön aufgezeigt, der Historie, nicht überschreiten kann!). Aber vor allem deshalb, weil nur Kollektive politisches Gewicht haben, bei allen Schattenseiten. Und auch, weil nur Kollektives Handeln Solidarität hervorbringt, ohne die menschliche Gesellschaften schlicht früher oder später kaputtgehen – aller Technokratie und Verwaltung zum Trotz. Und was für ein Maß an Technokratie und Gewalt erforderlich wäre, um den Mangel an Solidarität, also das Fehlen an innerer Kohäsionskraft durch äußeren Druck zu kompensieren, und was das für ein Leben in so einem Druckkessel wäre, das muss ich nicht ausführen.
Dass dieses Kollektiv keines ist, um dessen Irrelevanz man großartig trauern müsste, ist aus meiner Sicht unstrittig.