Angesichts der Proteste gegen den G20-Gipfel fragte ein Vertreter der »AG Antifa« danach, warum die Linke immer wieder selbst hinter ihre eigenen theoretischen Erkenntnisse zurückfällt. Wir dokumentieren den Beitrag.
1.
Wer ein x-beliebiges linkes Hausprojekt in der Bundsrepublik besucht, der gewinnt den Eindruck, sich auf einer Zeitreise zu befinden. Nachdem sich innerhalb der linken Szene seit den Neunzigern der sportiv-langweilige Outdoor-Stil durchgesetzt hatte, den man aus dem Sport-Check-Katalog kennt, ist seit einiger Zeit Retro angesagt: Der Dresscode – von der schwarzen Röhrenjeans über den aschfarbenen Kapuzenpullover bis zu den lieblos daran festgetackerten »Do-it-yourself«-Siebdruckaufnähern – stammt aus den Achtzigern. Die Parole, die die einschlägigen Hausbesatzungen bei ihren Demos bevorzugt rufen, kommt aus den Vierzigern: »Alerta, alerta Antifascista!« Und die Vollbärte, mit denen die Gesichter nach einer langen und glücklichen Zeit wieder behangen werden, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Marx, Engels, Bakunin und Käpt’n Nemo lassen grüßen. In symbolischer Hinsicht (und auf die Symbolik legt die Linke bekanntlich großen Wert) kann der Eindruck entstehen: Die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts versucht den italienischen Partisanenkampf der vierziger mit den Mitteln der Autonomen der achtziger Jahre noch einmal zu führen.
In programmatischer Hinsicht ist ein ähnliches Chaos zu beobachten: Während selbst die K-Gruppen der siebziger Jahre wussten, dass es ein Ding der logischen Unmöglichkeit ist, sich gleichzeitig auf Lenin und Adorno, Mao und Marcuse zu berufen, gehen ihre Nachfolger wesentlich wahlloser vor. In Zeitschriften werden Adorno und Foucault zusammengeklatscht, anderswo bezeichnet man die Bundesrepublik schon mal als Polizeistaat, um dann kurz darauf allen Ernstes mit einer Verfassungsklage zu drohen, wenn die eigene Demo verboten wird.
Wer es konsistenter mag, der switcht nicht von Satz zu Satz oder von Gesprächspartner zu Gesprächspartner hin und her, sondern von Semester zu Semester – zum Beispiel zwischen Wertkritik und Situationismus, Operaismus und Poststrukturalismus, Kritik des linken Traditionalismus und der Fahrt zum G20-Gipfel: so ähnlich, wie er es an der Uni mit Michel Foucault, Niklas Luhmann, Judith Butler, Jürgen Habermas und Axel Honneth gelernt hat. Die Parole der Zeit heißt, mit anderen Worten, nicht »G20 versenken«, »Bildet Banden!« oder »Solidarität mit Israel!«, sondern: »Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern!«
2.
Dieser Retro-Stil ist selbstverständlich nicht vollkommen neu. Revolutionäre Bewegungen haben sich in ihrer langen Geschichte immer wieder verkleidet. Marx schrieb schon im »18. Brumaire des Louis Bonaparte« von 1851/52, dass die Partei des Fortschritts regelmäßig historische Kostüme benutzt: Die Französische Revolution von 1789 ff. verkleidete sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum; die Revolutionäre von 1848 spielten im Unterschied dazu 1789. Während die Menschen damit beschäftigt waren, so Marx, »die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen«, beschworen sie die Geister der Vergangenheit, entlehnten »ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen«. Der Grund für diese Kostümierung ist einfach: Die Umstürzler und Aufrührer konnten sich die gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich durch sie selbst hindurch Geltung verschafften, nicht erklären und traten darum als große Reenactment-Truppe auf: Historische Analogien vermitteln Orientierungssicherheit, wo sie real nicht zu haben ist.
Trotzdem gibt es einen großen Unterschied zwischen der historischen Linken und der heutigen Linken. Dieser Unterschied besteht darin, dass die aktuellen Unternehmungen nur noch aus Kostümierung bestehen. Von der Umwälzung der Verhältnisse, die in historischer Verkleidung vorgenommen wurde, ist nur die Verkleidung geblieben. Denn machen wir uns nichts vor: In den nächsten Jahren ist weder ein neuer Sturm auf die Bastille noch auf das Winterpalais zu erwarten. Veränderungen, die diesen Namen verdienen, stehen derzeit nicht auf der Tagesordnung: Die Verhältnisse riegeln sich hermetisch gegen die Erkenntnis ab, dass sie zum Wohl der Menschheit umgeworfen werden müssen. Das wissen auch diejenigen, die vor dem G20-Gipfel so großspurig verkündet haben, in Hamburg Sand ins Getriebe des Kapitalismus streuen zu wollen. Denn wenn sie wirklich daran geglaubt hätten, dass sie zum Beispiel mit der Blockade des Hamburger Hafens den weltweiten Warenfluss »empfindlich stören« können, dann wären sie angesichts der Reaktionen der Polizei weder so empört noch so fassungslos gewesen, wie sie es dann am Ende waren. Hätten sie wirklich daran geglaubt, dann wären sie entweder mit anderem Gerät nach Hamburg gefahren als nur mit ein paar Böllern, mit Astraflaschen und Zwillen oder eben gar nicht: Denn wenn die Verhältnisse zur Disposition stehen, beschränken sich Staat und Kapital nicht auf Wasserwerfer, Tonfas und CS-Gas.
Mit diesem Verlust einer Perspektive auf Veränderung, die diesen Namen verdient, verliert auch die radikale oder revolutionäre Linke ihre Bedeutung. Das Anrennen gegen die Verhältnisse ähnelt sich dem Versuch an, mit einem Eislöffel aus dem Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim auszubrechen. Soll heißen: Es wird entweder lächerlich oder es nimmt wahnhafte Züge an – meistens sogar beides. Aus diesem Grund, sprich: aufgrund der schreienden Irrelevanz der radikalen Linken, interessiert sich hierzulande inzwischen auch nicht einmal mehr der Verfassungsschutz besonders für die Jungs und Mädchen mit den roten Fahnen und den streng auf »jung-dynamisch-zupackend« getrimmten Flugblättern. Die Namen derjenigen, die sich hierzulande wegen ihrer linken Gesinnung hinter Gittern befinden, lassen sich auf einem Bierdeckel unterbringen. Daran hat auch der G20-Gipfel wenig geändert: 186 Festnahmen sind für einen vermeintlichen Polizeistaat nicht gerade viel. Erst recht nicht bei mehreren zehntausend Demonstranten in einer Woche. Über solche Zahlen können Putin und Erdogan nur lachen: Nach dem Putsch in der Türkei 2016 wurden innerhalb weniger Tage mehr als 40.000 Leute verhaftet.
Doch selbst wenn der Staat doch mal mit härterer Hand zuschlägt, dann ist dafür meistens nicht sein Sicherheitsbedürfnis verantwortlich: Das scheint auch in Hamburg nicht der Fall gewesen zu sein. Es geht stattdessen in der Regel auf eine Mischung aus Folklore, Arbeitsbeschaffungsmaßnahme oder geistige Überforderung zurück: Die Beamten der Abteilung »Politische Kriminalität (links)« müssen vor ihren Geldgebern entweder rechtfertigen, dass sie 20 Jahre nach dem Untergang des Ostblocks und 15 Jahre nach der Auflösung der RAF ein Budget für einen neuen Dienstwagen, den schönen Flachbildschirm und den spaßigen Schießkurs mit der GSG 9 benötigen. Oder ein paar besonders übereifrige Beamte schätzen ganz einfach die Situation falsch ein. Wer sich schon mal mit einem Einsatzleiter unterhalten musste, der weiß: Es gibt gute Gründe dafür, dass er Polizist geworden ist und kein Doktor in Kernphysik.
Vor diesem Hintergrund, vor dem Hintergrund einer verstellten Praxis, verändert sich auch der Charakter der linken Aktivitäten. Im Manifest der Kommunistischen Partei hieß es noch, dass das zentrale Ziel der zeitgenössischen Klassenkämpfe weniger der unmittelbare Erfolg sei, sondern »die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter«. Auf etwas Ähnliches spielten auch Rosa Luxemburgs »Dialektik von Reform und Revolution« oder Karl Korschs »Mythos des Generalstreiks« an: Durch die linken Kämpfe sollten sich die Proleten von der »Klasse an sich« zur »Klasse für sich« entwickeln. Was auch immer von dieser Strategie zu halten war: Die heutigen linken Kampagnen sorgen nicht mehr dafür, dem großen Ziel, von dem ohnehin kaum noch jemand weiß, was es sein soll, durch die »immer weiter um sich greifende Vereinigung« der Revolutionäre näher zu kommen, von der im Kommunistischen Manifest die Rede ist. Sondern sie sind vor allem Beschäftigungstherapie. Denn ohne die Option auf Veränderung sind die diversen »Kampagnen« und »Aktionen« nur noch schwer von einem Hobby zu unterscheiden. Genauso wie das Sammeln von Briefmarken, der Modellbau oder das Züchten von Geranien zielen sie weniger auf das Resultat ab als auf den psychischen Gewinn, der beim Werkeln eingefahren wird. Beim Plakatmalen oder im Transparentworkshop können sich die Einzelnen, die ihre Subjektivität und Spontaneität längst verloren haben, vormachen, dass es gerade auf sie ankommt; bei den permanenten Feldzügen gegen rechte Vertriebsstrukturen oder Wohnprojekte kann man die Ahnung bekämpfen, dass das Leben auch ohne Naziläden und Nazizentren nur selten wesentlich schöner ist.
Vor allem aber geht es um die Sehnsucht nach dem Unmittelbaren und dem Konkreten, nach dem Zupacken und der Aktion: Das ist nicht nur der Hintergrund der martialischen Rhetorik und der Gewaltexzesse von Hamburg, sondern auch der Begeisterung, die die Linke immer mal wieder reaktionären Vereinen wie dem sogenannten palästinensischen Widerstand, lateinamerikanischen Entwicklungsdiktaturen, der PKK oder der YPG, über deren Kindersoldaten, ethnische Säuberungsaktionen oder Knäste für Gegner aus den eigenen Reihen einfach geschwiegen wird, entgegenbringt. Bei der Straßenschlacht können die unterdrückten Triebe wie beim Fußball oder der Discoschlägerei abgeführt werden, nur eben mit gutem antikapitalistischen Gewissen; hinter der Begeisterung für die diversen Öko-, Volkstums- und Trachtentruppen steht zum einen die Sehnsucht nach dem einfachen Leben auf heimatlicher Scholle, das zwar nicht schön ist, bei dem man sich aber vormachen kann, dass vom eigenen Handeln noch etwas abhängt. Zum anderen scheint sich dahinter der Wunsch zu verbergen, auf dem Weg in Richtung heile Regenbogenwiese noch mal so richtig die Sau rauslassen zu können. Zumindest haben die einschlägigen Kommandoerklärungen im Vorfeld von G20 darauf schließen lassen, dass es weniger um die befreite Gesellschaft von Übermorgen, als um die Säuberung von Morgen geht, die man anscheinend für nötig hält, um dorthin zu kommen.
All das gesteht man sich allerdings nicht ein: Um nicht nachdenken und auf die eigene Marginalität, die eigene Ohnmacht und einige der eigenen regressiven Wünsche reflektieren zu müssen, muss Aktion auf Aktion folgen, Kampagne auf Kampagne. Diese Form der Praxis ist, egal wie radikal sie sich gibt, Instrument bei der Abwehr der Realität. Oder mit den Worten eines klugen Mannes: »Man klammert sich an Aktionen um der Unmöglichkeit der Aktion willen.«
Doch auch diejenigen, die aufgrund der Einsicht in die verstellte Praxis vor Eingriffen zurückschrecken, sind meistens nicht viel besser dran. Die traditionellen linken Lesekreise erinnern sowieso an ausgelagerte Universitätsseminare, in denen Soziologie- oder Pädagogikstudenten ihre Skills für die Akademie schulen können; diejenigen, die im Universitätsbetrieb derzeit (und wohl auch in Zukunft) nicht gebraucht werden, können sich vormachen, dass sie doch fit für den Philosophie-Lehrstuhl wären. Wer sich dagegen aufgrund der versteinerten Verhältnisse ins Privatleben zurückzieht, sprich: in Haus, Hof, Beruf und Familie, der ähnelt sich in der Regel innerhalb kürzester Zeit entweder seinen Eltern an: Am Ende des Tunnels wartet der Bausparvertrag. Oder er wird zu einem der frühvergreisten Zyniker, die man vor allem im Kunst-, im Medien- und im Veranstaltungsbetrieb treffen kann. Mit anderen Worten: Während sich die Praxisfraktion in die eigene Tasche lügt und sich durch die wenigen Verbesserungsvorschläge, die angenommen werden, zum Mitschuldigen macht, verstärkt die Lesekreisfraktion gerade durch ihr abgeklärtes Nichtstun das, was sie aus gutem Grund verabscheut. Dieser Widerspruch kann dummerweise weder durch Reflexion gelöst werden noch durch eine neue goldene Mitte der Linken (ein bisschen Theorie und ein bisschen Praxis), sondern vorerst gar nicht: Denn er wird von der Wirklichkeit vorgegeben.
Durch den Verlust der Zukunft – die einfache Verlängerung der Gegenwart hat den Namen Zukunft nämlich nicht verdient – ändert sich schließlich auch der Charakter der linken Organisationen. Beim wöchentlichen Gruppentreffen mit anschließendem Kneipenbesuch trifft man zum einen auf Gleichgesinnte, die den verzweifelten Einzelnen Halt geben, ihnen Familienersatz bieten, und Leuten Sozialkontakte bescheren, die aufgrund ihrer verschrobenen Vorstellungen und Spleens anderswo keinen Anschluss finden würden. Zum anderen verwandeln sich die Gruppen in Zusammenschlüsse zur wechselseitigen Verschaffung von Vorteilen: Die Linke hat nichts zu verlieren: außer ihrer Stammkneipe, der Möglichkeit anzuschreiben, dem kostenlosen Kopierer, der Szene-Credibility, finanziellen Abgreifmöglichkeiten und den kleinen Jobs, die man sich wechselseitig zuschanzt – vom Kneipendienst über den Messe- und Festivalaufbau bis hin zum studentischen Unijob. Das ist nicht viel, aber genug, um das eigene Revier mit einigem Eifer zu verteidigen: selbstverständlich unter dem Mantel politischer Differenzen. Wie im richtigen Leben gilt auch hier das Recht des Stärkeren; wie im richtigen Leben haben auch hier die Kräftigsten, die Eloquentesten und Skrupellosesten den größten Erfolg. Nicht umsonst werden die einschlägigen Plena nicht von den wenigen Leuten dominiert, die von Lohnarbeit oder Hartz-IV leben müssen, sondern von Studis, die dort all das ausprobieren können, was sie in ihren Kommunikationsseminaren, ihren Seminaren über gendergerechte Sprache oder Empowerment gelernt haben. Antifa, die radikale Linke insgesamt, ist eine Art zweiter Bildungsweg für bürgerliche Karrieristen, die dort alles lernen, was sie später brauchen, wenn sie Papis Werbeagentur oder Muttis Arztpraxis übernehmen: von den Orga-Skills über das Taktieren bis zum Sprechen vor größeren Gruppen und der Motivation der Mitarbeiter.
3.
Der gegenwärtige Retro-Boom – und damit komme ich zur Ausgangsfrage und zum G20-Gipfel zurück – ist, mit anderen Worten, ein Korrelat der versteinerten Verhältnisse. Um sich die eigene Ohnmacht nicht eingestehen zu müssen, schiebt man die Schuld dafür, dass es das Proletariat, die Unterdrückten, stärker zu H&M zieht als in den Infoladen der Reil 78, der Ludwig- oder der hallischen Hafenstraße entweder fiesen Saboteuren in die Tasche oder aber sich selbst: Nicht die Verhältnisse sind übermächtig, sondern gemeine Rassisten, Sexisten oder Antideutsche in den eigenen Reihen verhindern die heile Bambi-Bergwelt im von der Stadt unterhaltenen revolutionären Hausprojekt. Oder man selbst hat sich nicht genügend angestrengt, die Bedürfnisse der Massen nicht berücksichtigt oder, wie es so schön heißt, die »falsche Theorie« benutzt. Kurz: Weil sich die Verhältnisse nicht ändern, versucht man, sich selbst zu verändern: Das ist einer der zentralen Gründe dafür, warum plötzlich alle von ihren Essgewohnheiten (vegan oder doch nur vegetarisch?), über ihre persönlichen Empfindungen oder ihre primären oder sekundären Geschlechtsmerkmale sprechen wollen: »Liest Du Dich als Junge, als Mädchen oder als was ganz anderes?« So folgt nicht nur Aktion auf Aktion, linke Modewelle auf linke Modewelle, sondern auch »Ansatz« auf »Ansatz«, Theorie auf Theorie.
Diese Wiederkehr des Immergleichen frisst letztlich auch das Verhältnis zur Wahrheit an: Da die einschlägigen Theorien nur noch die Funktion haben, vom Nachdenken abzulenken, die jeweilige Werkelei oder das Ausleben der eigenen Triebe zu rechtfertigen, werden Konsistenz, Konsequenz und Logik egal. Zusammengehalten wird der ganze Unsinn dann von einem einzigen Wort, das an die Stelle all der Metaphern, Ideen und großen Träume getreten ist, den die Frühsozialisten, die Utopisten und selbst die Bolschewiki noch hatten: Die Rede ist vom Wort »emanzipatorisch«. Mit diesem Begriff, mit dem einmal die Freilassung von Sklaven aus der Abhängigkeit bezeichnet wurde, kann inzwischen jede Sauerei gerechtfertigt werden: Er kaschiert die vollkommene Erwartungslosigkeit der Linken, ihre Trostlosigkeit und das vollständige Fehlen von Ideen überhaupt. Was unter »Emanzipation« verstanden werden soll, wissen sie selbst nicht so genau.
Verstärkt wird diese Entwicklung durch die spezifische Altersstruktur der Linken. Als sich der Verfassungsschutz noch ernsthaft, soll heißen: nicht allein aus Traditionalismus heraus, für die Linke interessierte, errechneten seine Mitarbeiter, dass das durchschnittliche Ausstiegsalter aus der linken Szene 28 Jahre beträgt. Tatsächlich fängt spätestens hier der Ernst des Lebens an: In diesem Alter bereitet sich die durchschnittliche deutsche Frau geistig-moralisch auf ihr erstes Kind vor. Und auch die eigenen Erzeuger können so kurz vor dem 30. Geburtstag ihres Nachwuchses nur noch schwer davon überzeugt werden, dass ihre monatlichen Überweisungen Investitionen in die Zukunft sind. In dieser Zeit beginnt auch für die Letzten der Einstieg ins Berufsleben, der durch FSJ, das so genannte Orientierungsjahr, Studium und Bafög noch hinausgezögert werden konnte.
Wer seinen Lebensunterhalt nun, wie es bei vielen Jungakademikern üblich ist, aus denen sich die Linke nun einmal zusammensetzt, mit zwei schlecht bezahlten Jobs bestreiten muss, sich mehr als acht Stunden täglich das unerträgliche Geplapper der lieben Kollegen anhören darf und danach noch seine Kinder aus der Obhut grenzdebiler Kindergärtnerinnen oder Omas befreien muss, der kann in der Regel keine große Begeisterung aufbringen für die nervtötende Langeweile, die linke Gruppentreffen oft zu bieten haben. Soll heißen: Im Unterschied zum goldenen Zeitalter der Arbeiterbewegung ist die Linke heute nicht mehr an ein Milieu oder an eine Klasse gebunden, sondern sie ist eine Jugendbewegung; das Milieu oder die Klasse hat sich in eine Szene verwandelt.
Diese Transformation hat weitreichende Folgen: Einmal gemachte Erfahrungen können nicht weitergegeben werden; Organisationen, die dieses Manko ausgleichen könnten, existieren ebenfalls nicht. Jeder, der eine Zeit lang in der linken Szene unterwegs war, kennt das: Die Halbwertszeit einer durchschnittlichen linken Politgruppe liegt bei höchstens drei oder vier Jahren. So muss jede Generation immer wieder allein und von vorn lernen, dass politische Bekenntnis-T-Shirts beknackt aussehen, »Do it yourself« die kulturelle Reservearmee des Mainstreams ist und all die Zumutungen des Alltags, vor denen man ins besetzte Haus flieht, dort zum Teil in noch üblerer Form reproduziert werden.
4.
Ich komme damit zum Ende: Auch wenn die jeweiligen Retro-Wellen eine Funktion der versteinerten Verhältnisse sind, ist es kein Zufall, dass sie zu bestimmten Zeiten besonders stark sind. Sie treten vor allem in Krisensituationen auf, in Zeiten, in denen sich die allgemeine Orientierungslosigkeit der Linken noch einmal potenziert: Als der antiautoritäre Aufbruch der Sechziger ins Stocken kam, warfen die Studenten ihre Bob-Dylan-Alben in die Mülltonne, schnitten sich die Haare ab, kauften sich Ernst-Busch-Platten, stellten sich vor Fabriktore und spielten Weimarer Republik; zehn Jahre später, nach unzähligen Flugblättern, die ihnen vom revolutionären Subjekt bei der Betriebsarbeit um die Ohren gehauen wurden, entdeckten sie einige Schlagworte von 1968 wieder (»Basisdemokratie«, »subjektiver Faktor« usw.) und peppten sie mit den Wandervogel-, Öko- und Esoparolen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf.
Der gegenwärtige Retro-Boom dürfte nicht ausschließlich, aber auch nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Rückgang der antideutschen Ausstrahlungskraft stehen. Dieser Rückgang ist mit dem Begriff des Scheiterns allerdings nur unzureichend beschrieben. Denn einige der antideutschen Grundideen haben sich so verallgemeinert, dass man in Teilen der Linken kaum noch jemanden findet, der die Kritik des Antisemitismus, des Kollektivismus, die Auseinandersetzung mit Theorie, den kategorischen Imperativ nach Auschwitz usw. nicht »irgendwie wichtig« oder »interessant« findet. Der prägende Gedanke ist dabei allerdings fast vollständig untergegangen, der Gedanke nämlich, dass, wie es die »Initiative Sozialistisches Forum« vor mehr als fünfzehn Jahren formuliert hat, der »revolutionäre Materialismus der Gegenwart« – darum hätte es nämlich nach wie vor zu gehen – die Erfahrung von Auschwitz und die Geschichte des Nationalsozialismus »in das Innerste seiner Kategorien aufzunehmen und darauf als auf ihren Nerv zu reflektieren« hat. Alles andere ist Soziologie, ist Bewerbung fürs Zentrum für Antisemitismusforschung oder für den Wilhelm-Heitmeyer-Preis des Jahres. Der antideutsche Interventionismus der Jahre um 2005 hat, so richtig er gewesen sein mag, das Bedürfnis nach der Aktion, nach dem Handfesten, dem Zupacken und der Parole bedient; das antideutsche Fahnenschwenken dieser Zeit hat, so richtig es ebenfalls war, das Bedürfnis nach symbolischer Politik, Bekenntnissen, Vereinswimpeln, -schals und -mützchen wachgehalten. Nachdem die antideutschen Provokationen nun niemanden mehr hinter dem Ofen vorlocken können, nachdem eine ganze Generation antideutscher Antifas ihren 28. Geburtstag gefeiert und sich ins Privatleben, an die Uni, die israelsolidarische Politikberatung oder an den Tresen zurückgezogen hat und die antideutsche Kritik (leider aber selbstverständlich) nicht dafür gesorgt hat, dass morgen 11 Uhr die freie Assoziation an die Tür klopft, heftet sich diese Sehnsucht nach dem erlebnispädagogischen Kick ans nächste Angebot auf dem Revolutionsbasar. In dem Maß, in dem die Zukunft abhanden kommt, verwandelt sich Geschichte damit, wie beim G20-Gipfel zu sehen war, in einen Kreislauf zurück: Sie wird zur Wiederkehr des Immergleichen.
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