Knut Germar über einen berühmten Sohn der Stadt, über den in Halle keiner reden will.
Neben Georg Friedrich Händel hat Halle noch einen weiteren »Sohn der Stadt« aufzuweisen, der einen ähnlich hohen internationalen Bekanntheitsgrad besitzt. Während Händel als Aushängeschild eines jeden aufrechten Lokalpatrioten herhalten muss und das Stadtmarketing seit Jahren mit ihm hausieren geht, will über den anderen kaum jemand sprechen. Auf der Internetpräsentation der Stadt sucht man vergeblich nach einem Hinweis: Weder taucht er in der Rubrik »Berühmte Hallenserinnen und Hallenser« auf, noch wird er in der »Chronik« erwähnt, die vorgibt, die Geschichte der Stadt vom 9. bis zum 21. Jahrhundert darzustellen. Zwar rühmt sich die Stadt mit ihrer Teilnahme an der bundesweit bekannten Stolpersteinaktion des Kölner Künstlers Gunter Demnig, trommelt wegen einer Kundgebung von zwanzig Nazi-Knallchargen über 1.000 Hallenser zu einem öffentlichen »Frühstück für Weltoffenheit und Willkommenskultur« zusammen und beteiligt sich an den notorischen Protestaktionen des Aktionsbündnisses Halle gegen Rechts, bei dem auch die strammen Israelhasser des Arabischen Hauses und des Islamischen Kulturcenters mitmischen. Kurzum: Man brüstet sich ganz staatsantifaschistisch mit der sogenannten Aufarbeitung der eigenen Geschichte, ist Teil der großen Volksgemeinschaft gegen rechts und macht fleißig mit beim gedenkpolitischen Mummenschanz der Berliner Republik, bei dem man die toten Juden hätschelt, sich um die lebenden jedoch keinen Deut schert. Dass einer der Hauptorganisatoren des Holocaust ein Hallenser war, das will man in seiner Heimatstadt dann aber doch nicht an die große Glocke hängen – die Rede ist von Reinhard Heydrich.
Ein Teil der Hallenser ist da inzwischen weniger zurückhaltend. Für sie steht Martin Schramme, ein ehemaliger Redakteur eines eingegangenen lokalen Anzeigenblättchens. Als Freund der spinnerten Montagsdemonstrationen und waschechter Lokalpatriot macht er es jedoch auch nicht besser. Auf seiner Homepage händelstadt-halle.de schreibt er, als wäre irgendetwas besser gewesen, wenn Heydrich nicht in Halle sondern in Castrop-Rauxel das Licht der Welt erblickt hätte, folgendes: »Und der Kopf der so genannten ›Endlösung der Judenfrage‹, Reinhard Heydrich, war (leider!) ein Hallenser.« Schrammes »(leider!)« liefert nicht nur die Antwort darauf, warum man sich in Halle mit Heydrich so schwer tut: Durch seine bloße Existenz verursacht Heydrich Risse in der lokalpatriotischen Geschichtsauffassung, mit der die Stadtgeschichte als eine seit Angedenken glanzvolle zusammenfantasiert wird. Sondern es verweist auch darauf, worum es beim gesamtdeutschen und pflichtschuldigen Bekenntnis zu Auschwitz wirklich geht: Nicht die behauptete Aufarbeitung der Vergangenheit steht im Zentrum des ganzen Bunt-statt-braun-Faschings, sondern die Selbstdarstellung des vorgeblich geläuterten, sich als weltoffen, humanistisch, freundlich und fortschrittlich begreifenden Deutschlands. Zum Selbstverständnis des guten Deutschen gehört auch die oft verwendete und keineswegs falsche Formel, dass »unsere Großeltern und Urgroßeltern« für Auschwitz verantwortlich seien. Was Opa aber konkret getan hat, will man dann doch nicht so genau wissen. Die antifaschistischen Deutschen verfügen ebenso wie diejenigen ihrer Landsleute, die permanent herumkrakeelen, dass sie von Auschwitz nichts mehr hören wollen, oft nicht einmal über die einfachsten Grundkenntnisse der Geschichte des Holocaust. Kaum einer von beiden weiß, wer genau Reinhard Heydrich war.
Von Halle an den Wannsee
Als er 1922 Halle verließ, um in Kiel als Seekadett anzuheuern, war Heydrich gerade 18 Jahre alt. Seine reibungslos gestartete, aussichtsreiche Offizierskarriere fand 1931 jedoch ein jähes Ende. Der Oberleutnant zur See, der während seiner Verlobung ein Verhältnis mit einer anderen Frau pflegte, der er ebenfalls die Verlobung versprochen hatte, wurde deshalb 1931 unehrenhaft aus der Marine entlassen. Es sollte nicht lange dauern, bis sich der 27-Jährige von seiner daraus resultierenden Krise erholte und zu einem heiß ersehnten Leben in Uniform zurückkehrte. Noch im Jahr seines Rauswurfs aus der Reichswehr bot ihm der Sohn seiner Patentante eine Stelle in der NSDAP an. Am 1. Juni trat er der Partei bei, zwei Wochen später fuhr er nach München zu einem Bewerbungsgespräch mit Heinrich Himmler, dem »Reichsführer« der damals noch der SA unterstellten SS. Das Gespräch verlief bestens für Heydrich. Himmler erteilte ihm den Auftrag, einen Nachrichtendienst aufzubauen. Nach seinem Eintritt in die SS nahm Heydrich im August seine Aufgabe als Leiter des späteren Sicherheitsdienstes des Reichsführer SS (SD) auf und begann damit, Informationen über politische Gegner und Polizeispitzel zu sammeln. Zwischen Heydrich und Himmler entstand in dieser Zeit nicht nur ein enges Arbeitsverhältnis, das bis zu Heydrichs Tod anhalten sollte. Himmler wurde auch Heydrichs ideologischer Mentor.
Mit der Machtübertragung auf Hitler im Jahr 1933 nahm Heydrichs Karriere rasch Fahrt auf. Er wurde Chef der Politischen Polizei in Bayern, sein SD war in den Jahren 1933/34 hauptsächlich damit beschäftigt, die Politische Polizei in den deutschen Ländern zu übernehmen. 1934 wurde Heydrich zum Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes ernannt – jener Gestapo, die 1933 ins Leben gerufen wurde, um die Opposition auszuschalten. Wer in seinen Augen die Hauptfeinde des Nationalsozialismus waren, legte der Hallenser 1935 im SS-Wochenblatt Das Schwarze Korps dar. Dort startete er eine mehrere Artikel umfassende ideologische Kampagne gegen das »Weltjudentum«, das »Weltfreimaurertum« und das »politische Priesterbeamtentum« (gemeint ist die katholische Kirche), die er sich als die »treibenden Kräfte des Gegners« zusammenhalluziniere.
Ihr Ziel, die gesamte Polizei unter ihre Kontrolle zu bringen, erreichten Himmler und Heydrich 1936. Himmler wurde zum Chef der Deutschen Polizei ernannt, wodurch die SS faktisch mit der nun zentralisierten Polizei zusammengeführt wurde. Dadurch und durch die Gründung der Sicherheitspolizei, die die verschiedenen Polizeibehörden zu einer einzigen zusammenfasste, wurde ein politischer Unterdrückungsapparat neuen Typs geschaffen, der Heydrich unterstellt wurde. Setzte die Polizei vorher antisemitische Gesetze um, erließ sie unter Heydrich und Himmler nun eigenständige und neue Maßnahmen, die die Bewegungsfreiheit der deutschen Juden immer weiter einschränkten. 1936 gründete Heydrich im SD das Referat II.112 für Judenpolitik, in dem sich neben Adolf Eichmann noch weitere Schlüsselfiguren der späteren Judenvernichtung versammelten. Zwei Jahre später führte Heydrich in Deutschland von ihm bereits in Österreich erprobte Maßnahmen ein, um die jüdische Emigration zu beschleunigen. Wohlhabendere Juden wurden zur Finanzierung der Ausreise für ärmere Juden gezwungen, indem man ihnen Zwangsabgaben auferlegte. Auf diese Weise gelang es Heydrich 1938 eine führende Rolle bei der nationalsozialistischen Judenverfolgung einzunehmen.
Mit dem Krieg gegen Polen radikalisierte sich das nationalsozialistische Regime weiter. Die Nazis begriffen den Kampf gegen den östlichen Nachbarn als »Rassenkrieg«, um »slawische Untermenschen« zu unterwerfen. Langfristig wurde eine ethnische Neuordnung Mitteleuropas angestrebt, mit der Hitler Himmler und Heydrich beauftragte. Nachdem der SD auf Heydrichs Anweisung diverse bewaffnete Grenzzwischenfälle inszeniert hatte, um den deutschen Erstschlag gegen Polen propagandistisch zur Notwehr umlügen zu können, folgten den am 1. September 1939 einrückenden Wehrmachtstruppen mehrere, Heydrich direkt unterstellte Einsatzgruppen der SS mit dem als »Intelligenz-Aktion« bezeichneten Auftrag, die polnische Elite auszuschalten. Bis zum Ende des Jahres ermordeten Heydrichs Leute mehr als 40.000 Polen, darunter vor allem Lehrer, Akademiker, polnische Nationalisten und Geistliche. Zahllose polnische Juden wurden von den Einsatzgruppen in den von der Sowjetunion besetzten Teil Polens vertrieben. Auf Heydrichs Anweisung begannen die ersten Deportationen mehrerer tausend Juden aus dem »Reich« in das sogenannte »Generalgouvernement«. Im gleichen Jahr weiteten die Nazis auch den Terror in Deutschland aus. Das neue Instrument dafür war das auf Heydrichs Bestreben geschaffene und von ihm geführte Reichssicherheitshauptamt, das Sicherheitspolizei und SD mit dem Ziel verschmolz, den Staat vorbeugend von politischen und rassischen Gegnern zu säubern. Dessen technisches Personal wirkte bei der Aktion T4 mit, bei der circa 75.000 geistig und körperlich Behinderte ermordet wurden. Die Aufgabe von Heydrichs Leuten bestand in der praktischen Erprobung neuer Tötungsmethoden.
Der von den Deutschen entfesselte Krieg erreichte mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 eine neue Eskalationsstufe. Wie bereits in Polen geschehen, folgten Heydrichs Einsatzgruppen den regulären Streitkräften. Sie hatten von ihm den Befehl erhalten, kommunistische Funktionäre sowie »Juden in Staats- und Parteistellung« zu ermorden. Die bezüglich der sowjetischen Juden relativ vage gehaltene Formulierung sowie von Heydrich regelmäßig durchgeführte Stippvisiten, mit denen seine Leute motiviert werden sollten, hatten zur Folge, dass die Einsatzgruppen alle wehrfähigen männlichen Juden erschossen, derer sie habhaft werden konnten. Bis Ende des Jahres belief sich die Zahl der ermordeten sowjetischen Juden auf etwa 800.000. Darüber hinaus hatten die Einsatzgruppen in Osteuropa die Aufgabe, antisemitische Pogrome durch Einheimische zu initiieren, was in mindesten 60 Städten geschah und 12.000 Todesopfer forderte. Ihre Ausbildung erhielten die Mordkommandos auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt. Das Schloss in der ostsachsen-anhaltischen, an der Elbe gelegenen Ortschaft Pretzsch, das heute ein Kinderheim beherbergt, war damals Sitz der Grenzpolizeischule. Dort und in den beiden wenige Kilometer entfernten Außenstellen Düben und Bad Schmiedeberg erhielten Heydrichs Leute nicht nur von Anfang Mai bis Anfang Juni 1941 Schulungen, um sie auf ihre künftigen Aufgaben vorzubereiten. Sie bekamen auch mehrfach Besuch vom Chef persönlich, wobei es als gesichert gilt, dass Heydrich in Pretzsch die Befehle zum systematischen Massenmord erteilte.
Als Hitler im September 1941 gegenüber verschiedenen Parteigrößen verkündete, dass er die Absicht habe, Berlin, Prag und Wien zu den ersten »judenfreien« Städten im »Großdeutschen Reich« zu machen, setzten kurze Zeit später massenhafte Deportationen ein. Da teilweise völlig unklar war, wo die Verschleppten untergebracht werden sollten, weil sich ein Teil der Zivilverwaltungen in den besetzten Gebieten weigerte, weitere Juden in den völlig überfüllten Ghettos und Lagern aufzunehmen, beschlossen Heydrich und Himmler das Problem durch systematischen Massenmord zu lösen. Am 1. November 1941 begannen die Bauarbeiten des ersten ausdrücklich als Todesstätte geplanten Vernichtungslagers Belzec, um durch die Ermordung der in den Auffanggebieten lebenden Juden Platz für die neu Deportierten zu schaffen. Bereits 1940 hatte Heydrich von Hermann Göring den von Hitler erteilten Auftrag erhalten, ein umfassendes »Endlösungsprojekt« hinsichtlich der Juden auszuarbeiten, dass nach dem Krieg umgesetzt werden sollte. Nachdem Göring am 31. Juli 1941 bei einem Treffen mit Heydrich den Auftrag erneut ansprach und Heydrich aufforderte, einen organisatorischen und materiellen Plan für eine »Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa« vorzulegen, berief Heydrich im Januar 1942 ein eineinhalbstündiges Arbeitstreffen ein, um die Arbeit des Reichssicherheitshauptamtes mit allen an der sogenannten »Judenfrage« arbeitenden Ministerialbehörden zu koordinieren. Ziel der als »Wannsee-Konferenz« in die Geschichtsbücher eingegangenen Sitzung bestand laut Einladungstext darin, »unter Beteiligung der in Frage kommenden anderen Zentralinstanzen alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht für eine Gesamtlösung der Judenfrage zu treffen«. Beschlossen wurden dabei die Wiederaufnahme und Ausweitung der Erschießungen sowie der Bau weiterer Vernichtungslager, um mit einer Kombination aus Deportationen, Zwangsarbeit und Massenmorden die nach dem Krieg angedachte »Endlösung der Judenfrage« voranzutreiben. Die Konferenz war für Heydrich ein voller Erfolg. Am Wannsee hatte er die SS endgültig als federführende Kraft bei der Umsetzung der sogenannten »Endlösung« etabliert.
Heydrich in Prag
Einen Tag nach der Wannsee-Konferenz flog Heydrich nach Prag. Hitler hatte ihn im September 1941 zum Stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren ernannt, weil er ihn für den geeignetsten Kandidaten hielt, den erstarkenden tschechischen Widerstand zu zerschlagen. Hinzu kam sein Wunsch, Prag »judenfrei« zu machen. Die Lösung dieser Aufgabe traute Hitler am ehesten Heydrich zu, den er wegen dessen Rücksichtslosigkeit und Effizienz schätzte. Als Heydrich am 27. September 1941 in Prag eintraf, verhängte er noch am selben Abend den Ausnahmezustand. Das Kriegsrecht ermöglichte ihm das Einsetzen von Standgerichten, die innerhalb der ersten drei Tage seiner Herrschaft 92 Todesurteile vollstreckten. Bis Ende November ließ Heydrich über 6.000 Tschechen festnehmen und 400 Hinrichtungen durchführen. Führende Köpfe des Widerstands wurden verhaftet und über 90 Funksender beschlagnahmt, so dass der Kontakt zwischen London, wo die Exilregierung um Eduard Beneš ihren Sitz hatte, und dem Widerstand zeitweilig vollständig abbrach. Unter den Festgenommenen war auch der tschechische Ministerpräsident Alois Eliáš, der, zusammen mit dem bereits 1940 festgenommenen Prager Bürgermeister Otakar Klapka, durch den von Heydrich nach Prag berufenen 1. Senat des Volksgerichtshofes zum Tode verurteilt wurde. Während Klapka am 4. Oktober 1941 ermordet wurde, entschied Hitler gegen Heydrichs beharrliches Drängen, Eliáš als Geisel im Gefängnis zu behalten, um Druck auf die tschechische Protektoratsregierung ausüben zu können, deren ohnehin schon kaum vorhandenen Befugnisse durch Heydrich weiter beschnitten wurden. Heydrich hatte zudem die massive Zunahme der Verschleppung tschechischer Zwangsarbeiter zu verantworten: Er führte eine einjährige Dienstpflicht für alle arbeitsfähigen Männer und Frauen im Alter von 18 bis 50 Jahren ein, die die Möglichkeit der Rekrutierung für Arbeitseinsätze im »Reich« beinhaltete. Im Mai 1942 senkte Heydrich das Alter auf 14 Jahre ab. Bestandteil seiner Germanisierungspolitik war die Ausweitung und Intensivierung der rassischen Registrierung tschechischer Bürger, wobei über 15.000 als »nicht-germanisierbar« bezeichnete Bewohner des »Protektorats« ihres Grundeigentums beraubt und vertrieben wurden, um deutschen Siedlern Platz zu machen.
Bereits nach einer Woche im Amt veranlasste Heydrich die komplette Registrierung der tschechischen Juden; die ersten Deportationen in die Ghettos nach Polen, ins Baltikum und in die Ukraine begannen am 15. Oktober 1941. Ähnliches erwartete auch die tschechischen Roma, die auf Heydrichs Befehl den Stempel »Z« wie »Zigeuner« in ihren Ausweisdokumenten tragen mussten. Von den 6.500 betroffenen Menschen wurde bis Kriegsende mehr als die Hälfte in Auschwitz-Birkenau, Lety und Hodonín ermordet. Im Frühjahr 1942 wurden weitere Vernichtungslager gebaut, massive Deportationswellen waren in ganz Europa zu verzeichnen, und die Massenerschießungen durch Heydrichs Einsatzgruppen in der Sowjetunion wurden wieder aufgenommen. Vorausgegangen waren Gespräche und Treffen zwischen Himmler und Heydrich sowie zwei Unterredungen mit Hitler. Die systematische Vernichtung der europäischen Juden war beschlossene Sache und wurde ab Mai 1942 planvoll durchgeführt.
Im Monat darauf, am 4. Juni 1942, erlag Reinhard Heydrich seinen bei einem beinahe missglückten Attentat am 27. Mai in Prag zugefügten Verletzungen. Jan Kubiš und Josef Gabčík, zwei im Auftrag der Auslandsregierung Benešs und des britischen Geheimdienstes handelnde Angehörige der tschechischen Exilstreitkräfte, waren bereits im Dezember 1941 von der Royal Air Force mit Fallschirmen über tschechischem Gebiet abgesetzt worden und verletzten Heydrich mit einer Handgranate im Prager Stadtteil Libeň auf einer Fahrt im offenen Wagen so schwer, dass er wenige Tage darauf im Krankenhaus das Zeitliche segnete. Der »Henker« war, wie Thomas Mann kurze Zeit später in einer Radioansprache der britischen BBC kommentierte, »den natürlichsten Tod […], den ein Bluthund wie er sterben kann«, gestorben.
Schrei nach Liebe?
Die Zeit, in der die Dämonisierung der Täter die allgemeine Wahrnehmung des Nationalsozialismus bestimmt, ist eigentlich vorüber. Bei der Sicht auf Heydrich spielt sie jedoch immer noch eine Rolle. Das Gesicht des Bösen lautet dann auch der Untertitel einer äußerst populären, 2005 erschienenen Biografie des mittlerweile verstorbenen Stern-Redakteurs Mario Dederichs. Bereits die Einleitung beginnt wie ein schlechtgeschriebener Gruselroman: »Aus Adolf Hitlers Reich der Finsternis schaut ein Gesicht des Bösen in unsere Zeit, abschreckend und doch auf schaurige Weise faszinierend.« Selbst eine Einladung zur Geisterbahnfahrt ist drin. »In welche Abgründe führt ein Kontakt mit diesen Augen?«, fragt Dederichs und macht damit seinen Lesern klar, dass Heydrich vor allem eines war – nicht von dieser Welt. Er gehörte vielmehr zu den »Teufeln in Menschengestalt« und war »einer der finstersten Dämonen des Dritten Reiches«.
Zwar drängt sich die Frage nach dem absolut Bösen angesichts der Barbarei des Nationalsozialismus regelrecht auf. Wenn man allerdings darüber hinausgehen und dieses »Böse« begreifen will, steht die Dämonisierung der Täter, wie alle Emotionalisierung, der Erkenntnis im Weg. Aufgrund seiner Dämonisierung Heydrichs gelingt es Dederichs dann auch nicht, naheliegende und richtige Schlüsse zu ziehen. Man hat bei der Lektüre regelrecht den Eindruck, er hätte sich beim Schreiben vor Erkenntnissen gedrückt – etwa, wenn er fabuliert, dass »schon das Nachdenken« über Heydrich quäle. Stattdessen verfällt Dederichs ins individuelle Pathologisieren, spekuliert über den Einfluss einer frühkindlichen Hirnhautentzündung auf den Charakter des erwachsenen Heydrich und spinnt am Redaktionsküchentisch des Stern ersonnene Individualpsychologie zusammen. Seine »Analyse« der Entstehung des »Bösen« in Heydrich klingt wie eine Mischung aus »Der war als Kind schon scheiße!« und dem infantil-dümmlichen Anti-Nazisong der deutschen Rockband Die Ärzte, dem zufolge Nazis Nazis werden, weil Mama und Papa sich zu wenig um sie kümmerten: »Fest steht, dass er als Kind ständig aus der Rolle fiel: dickköpfig, geltungssüchtig, waghalsig, widerspenstig, jähzornig, schon früh ein Einzelgänger, den die anderen Kinder hänselten und prügelten. Zugleich lechzte er nach Liebe und Anerkennung, doch die berufstätigen Eltern hatten wenig Zeit für ihren Nachwuchs. Der Vater kümmerte sich kaum um die Erziehung, und Frau Mama, die Grande Dame, blieb distanziert und strikt.« Konkrete Belege für seine These bleibt er seinen Lesern schuldig. Sein einziger »Beweis« besteht in der Aussage eines Hausgastes der Familie, der über Heydrichs Mutter sagte: »Es fehlte da etwas die frauliche und mütterliche Wärme jungen Menschen gegenüber.« Eine nüchterne Betrachtung der Familiengeschichte der Heydrichs fördert dann auch ein völlig anderes Bild zu Tage.
Eine Kindheit in Halle
Heydrichs Mutter Elisabeth Krantz verbrachte ihre Jugend in einem katholischen Mädcheninternat, bevor sie am Königlichen Konservatorium zu Dresden eine Ausbildung zur Pianistin absolvierte. Im Konservatorium, das von ihrem Vater geleitet wurde, lernte sie auch ihren späteren Mann Bruno Heydrich kennen. Während Elisabeth Krantz in die Oberschicht hineingeboren wurde – ihr Vater war nicht nur Musikprofessor sondern auch sächsischer Hofrat – war Bruno Heydrich ein Aufsteiger aus mittellosen Verhältnissen. 1863 als Sohn eines verarmten protestantischen Möbeltischlers im heute zu Dresden gehörenden Leuben geboren, schlug er bereits sehr früh die Laufbahn eines Berufsmusikers ein. Er besserte als Kind nicht nur das Familieneinkommen als Jahrmarktssänger auf, sondern konnte durch die Gagen auch Geige, Tenorhorn, Kontrabass und Tuba spielen lernen. Mit 13 Jahren sang er regelmäßig als Solist im Meißener Jugendorchester. Ein Stipendium ermöglichte ihm 1879 ein Gesangs- und Kompositionsstudium am Königlichen Konservatorium zu Dresden, das er erfolgreich beendete. Es folgten Anstellungen als Kontrabassist in den Hoforchestern Meiningen und Dresden sowie diverse Gastauftritte als Sänger in Opernaufführungen. Verschiedene Engagements als Heldentenor führten ihn neben Aachen und Köln auch nach Antwerpen, Genf, Brüssel, Wien und Prag. Seine erste selbstgeschriebene Oper war ein finanzieller Erfolg und ermöglichte ihm im Dezember 1897 die Heirat der Tochter seines Mentors Eugen Krantz. Kurz nach der Eheschließung zog das musikbegeisterte Paar nach Halle.
Die Wahl ihres neuen Wohnorts war keine zufällige. War das rund 20.000 Einwohner zählende Halle zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch eine der ärmsten Städte Preußens, zeigte sich die Stadt am Ende des Jahrhunderts als Boomtown. Die kleine Provinzstadt mit Universität verwandelte sich ab den 1850er Jahren in das Zentrum einer von Landwirtschaft und Bergbau geprägten Wirtschaftsregion. Von zentraler Bedeutung war hier vor allem die Maschinenbauindustrie. Bis zum Ersten Weltkrieg verdingten sich über 10.000 Arbeiter und Angestellte im hallischen Maschinenbau, gut die Hälfte der gesamten Stadtbevölkerung lebte gegen Ende des 19. Jahrhunderts in irgendeiner Form von der Industrie. Durch das immense Bevölkerungswachstum [1] war die Erschließung von Wohnraum dringend nötig geworden. Das Stadtgebiet wurde erweitert und neue Wohnbezirke entstanden. Es wurden nicht nur große Mietskasernen für die Arbeiter errichtet, auch bürgerliche Wohnquartiere sollten bald das Stadtbild prägen, das in der Zeit, als Elisabeth und Bruno Heydrich nach Halle zogen, seine heutige Gestalt annahm. Vielleicht charakterisiert kein anderes Gebäude die für die hallischen Bürger sehr einträgliche Zeit besser, als das noch heute auf dem Marktplatz zu findende Stadthaus, mit dem sich die Honoratioren 1894 einen bürgerlichen Prachtbau für ihre Stadtverordnetensitzungen errichteten. Präsentation nach außen war wichtig, und dazu gehörte auch, dass diejenigen, die etwas auf sich hielten, die Künste nicht vernachlässigten. Das Jahr 1898 war die perfekte Zeit für einen überregional bekannten Komponisten und Opernsänger, um in Halle eine Gesangsschule zu eröffnen. Der Erfolg kam schnell, so dass Bruno Heydrich den Betrieb im Jahr 1901 in ein Konservatorium mit den Schwerpunkten Klavier und Gesang umwandelte. In seiner Blütezeit hatte dieses Konservatorium [2] nicht nur fast 200 Schüler und elf angestellte Lehrer, sein Leiter gelangte auch schnell in die obersten Kreise der Stadt. Durch öffentliche Konzerte wurde seine Musikschule nicht nur ein fester Bestandteil des hallischen Kulturlebens. Bruno Heydrich wurde auch Mitglied in der Freimaurerloge Zu den Drei Degen [3], dem damals wohl exklusivsten Verein Halles. Es waren also keine schlechten Verhältnisse, in die das zweite Kind Reinhard im Jahr 1904 hineingeboren wurde. Und so wenig die materiellen Verhältnisse der Familie schlecht waren, so wenig lässt sich auch von einer Vernachlässigung des späteren SS-Obergruppenführers durch seine Eltern sprechen. Im Gegenteil: Der Vater des katholisch erzogenen Jungen verwendete viel Zeit auf dessen Erziehung, schließlich wollte er, dass Reinhard als ältester Sohn einmal das florierende Familienunternehmen weiterführt. Bruno Heydrich kümmerte sich vor allem um die musikalische Bildung seines Sprösslings und besuchte gemeinsam mit ihm regelmäßig Konzerte und Opern. Bereits vor seiner Einschulung konnte Heydrich Noten lesen, er erhielt täglich Geigenunterricht und beherrschte schon früh das Klavierspiel. Auch bei der Schulbildung wollte man für den Nachwuchs nur das Beste. Heydrich wurde auf das städtische Reformgymnasium geschickt, dass neben den klassischen humanistischen Bildungszielen seine Schwerpunkte im naturwissenschaftlichen Bereich und im Erlernen moderner Fremdsprachen wie Englisch und Französisch setzte.
Die Heydrichs – frühe Nazis?
Als im Jahr 1916 Hugo Riemanns Musik-Lexikon einen Eintrag zu Bruno Heydrich veröffentlichte, war der beschriebene Musiker alles andere als amüsiert. Der Lexikon-Eintrag, den ein ehemaliger, geschasster Schüler des Konservatoriums zu verantworten hatte, besagte, dass Heydrich »eigentlich Süß« heißen würde, was so ziemlich der Behauptung gleichkam, dass der Musiker in Wahrheit Jude sei. [4] Bruno Heydrich führte gegen den Herausgeber erfolgreich eine Verleumdungsklage wegen potentieller Geschäftsschädigung. War er deshalb ein glühender Antisemit? Es ist zwar nicht auszuschließen, dass es in der Familie einen latenten Antisemitismus gab, die Klage allein sagt jedoch mehr über das allgemeine gesellschaftliche Klima im Wilhelminismus aus. Belege dafür, dass Bruno Heydrich in irgendeiner Form als Antisemit in Erscheinung getreten ist, sind jedenfalls nicht vorhanden. Hinweise darauf, dass innerhalb der Familie der Antisemitismus eine größere Rolle gespielt hat, fehlen. [5] Auch war Bruno Heydrich kein Ultranationalist, sondern eher ein nationalliberaler, kaisertreuer Reichsbürger, der sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges politisch wenig engagiert hatte.
Die Wirren der Revolutionsjahre 1918/19 machten auch vor Halle nicht halt. Die Stadt erlebte die bis dato größte politische Demonstration ihrer Geschichte, als im Februar 1919 über 50.000 revolutionäre Arbeiter gegen die SPD-Regierung in Weimar auf die Straße gingen und deren Rücktritt, die Verstaatlichung der Industrie und die Einrichtung einer Räterepublik forderten. Das antikommunistische bürgerliche Lager reagierte auf die Demonstrationen mit einem Gegenstreik: Geschäftsleute, Polizisten, Postbeamte, Ärzte und Lehrer legten das öffentliche Leben der Stadt vollends lahm. Der sozialdemokratische Reichswehrminister Gustav Noske befahl daraufhin die Entsendung des für die Reichsregierung Ebert kämpfenden Freikorps Maerker, um die Arbeiterräte und Demonstrationen niederzuschlagen. Nach blutigen Gefechten mit zahlreichen Toten und der erfolgreichen Niederschlagung des spartakistischen Aufstandes ließ Maerker eine Einwohnerwehr gründen, die im Falle eines Wiederaufflammens der Unruhen den Schutz von Eigentum und der öffentlichen Ordnung durchsetzen sollte. Unter den 400 Angehörigen der Bürgerwehr war auch der 15-jährige Meldeläufer Reinhard Heydrich, der sich wie viele seiner Mitschüler, freiwillig gemeldet hatte. Zu dieser Zeit waren die fetten Jahre des Konservatoriums längst vorbei, denn die bereits während des Krieges gesunkenen Reallöhne sorgten für einen stetigen Schwund an Musikschülern. Das Entsetzen über Kriegsniederlage und Revolution saß tief im Elternhaus Heydrichs, das während des Krieges, wie die meisten Bürger, die nationale Sache mit patriotischen Lieder- und Frauenstrickabenden unterstützt hatte. Bruno Heydrich war alles andere als ein Freund der Republik und wollte die Monarchie zurück, weshalb er 1919 Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei wurde, in der sich viele Nationalliberale wie er sammelten, die sich von der Wiederherstellung der Monarchie auch eine Rückkehr der goldenen Zeiten erhofften.
Dies alles machte die Familie Heydrich jedoch nicht zu frühen Anhängern der nationalsozialistischen Bewegung. Wie der Historiker und Heydrichbiograph Robert Gerwarth schreibt, dürfte zu dieser Zeit der junge Reinhard Heydrich – und das gilt auch für dessen Eltern – jene »Anschauungen geteilt haben, denen damals viele Deutsche anhingen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine höhere Schule besuchten: den Antibolschewismus, die heftige Ablehnung des Versailler Friedensvertrages und die Weigerung, die ›blutende Grenze‹ des Reichs mit Polen zu akzeptieren«. Diese Ansichten waren damals keineswegs das Alleinstellungsmerkmal der radikalen Rechten sondern wurden bis ins gemäßigte linke Lager hinein von fast allen Deutschen geteilt. Reinhard Heydrich war in allererster Linie eines – ein ganz normaler Hallenser.
Knut Germar
Verwendete Literatur:
Mario R. Dederichs: Heydrich. Das Gesicht des Bösen, München 2006.
Werner Freitag, Katrin Minner (Hg.): Geschichte der Stadt Halle. Band 2. Halle im 19. und 20. Jahrhundert, Halle 2006.
Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich. Biographie, München 2011.
Thomas Mann: Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940 bis 1945, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 2004.
Anmerkungen:
1 Eliáš wurde im Zuge der nach Heydrichs Tod einsetzenden Vergeltungsmaßnahmen am 19. Juni 1942 hingerichtet.
2 Die Einwohnerzahl hatte sich bis 1890 vervierfacht, allein in den Jahren zwischen 1875 bis 1910 stieg sie von rund 75.000 auf 180.000.
3 Entgegen der auf Wikipedia verbreiteten und in Halle immer wieder anzutreffenden Behauptung war Bruno Heydrich nicht der Begründer des heutigen Konservatoriums Georg Friedrich Händel. Heydrichs Konservatorium schloss nach langen wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Jahr 1935. Das Konservatorium Georg Friedrich Händel wurde erst in den 1960er Jahren gegründet.
4 Nach dem Verbot der Freimaurerlogen eröffnete Heydrich in Berlin ein im Stile eines Gruselkabinetts gestaltetes Museum, das auch Gegenstände der Loge seines Vaters ausstellte.
5 Heydrichs Mutter hatte nach dem Tod seines Vaters den protestantischen Schlossergehilfen Robert Süß geheiratet. Der Nachname befeuert bis in die Gegenwart hinein das Gerücht, Reinhard Heydrich hätte jüdische Vorfahren gehabt.
6 Was Bruno Heydrich allerdings zweifellos hatte, war ein Faible für Wagnerkitsch, wie nicht nur die Namensgebung seines Sohnes Reinhard Tristan Eugen verrät. In seiner ersten Oper Amen, wird der stattliche junge Held Reinhard vom verkrüppelten Thomas, Sinnbild der aufstrebenden Sozialdemokratie, mit einem Dolch hinterrücks ermordet.
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