Dass man im Leben nichts geschenkt bekäme ist allenthalben von jenen autoritären Gestalten zu hören, die Lohnarbeit – oder den Wunsch danach – zum zentralen Bestandteil ihres Lebens erhoben haben. Eines Besseren werden sie allerdings im hallischen Paulusviertel belehrt, denn dort wird man stets und ständig von allen Seiten beschenkt. Stefan Matuschek und Manfred Beier mit einem Einblick in das Geben und Nehmen in einem Stadtviertel, das pars pro toto für die Prenzlauer Berge der Republik steht.
Wenn der Volksmund behauptet, dass der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert sei, dann müsste er hinzufügen, dass beim Abbiegen zum Himmel ein Zwischenstopp im hallischen Paulusviertel einzuplanen ist. Denn bisweilen wirkt das Viertel, als ob es täglich von einer Horde gutherziger Samariter überrannt wird, die anhand überall abgelegter Geschenke auf die baldige Gnade des Herrn hoffen. An nahezu jeder Ecke sind prall gefüllte Pappkartons oder liebevoll gestaltete Boxen zu entdecken, deren Aufschrift »zu verschenken« oder »zum Mitnehmen« dazu animieren soll, sich des Inhalts anzunehmen. Mitunter wird bereits – weil ohnehin jeder Bescheid weiß – häufig ganz auf die Beschriftung verzichtet. Dass die in Kisten drapierte Warmherzigkeit jedoch keineswegs einen Anlass zur Freude darstellt, offenbart ein Blick auf den Inhalt. Eine kleine Auswahl vom 02.09.2016, ca. 16 Uhr, Carl-von-Ossietzky-Straße: Angefressene Babyschnuller, unabgewaschene Kaffeetassen, Omas Bleikristallpokal, 2 x 64 Megabyte RAM (DDR 1, 1200U), rosa Topflappen, ein Teller, in dessen Mitte eine nicht identifizierbare Figur emporsteigt sowie eine graue Decke von Etihad Airways. Und Bücher, überall Bücher.
Ähnlich wie bei Archäologen, deren bevorzugte Untersuchungsobjekte bekanntlich die Latrinen und versteinerten Müllhaufen längst untergegangener Kulturen sind, lassen sich die Kisten als ein freigelegter Querschnitt des Lebens der Spender betrachten. Dass es stumpf und freudlos zugeht hinter den Mauern der Gründerzeithäuser, auf die sich die Bewohner so einiges einbilden, darüber legt besonders die aussortierte Literatur Zeugnis ab. Die bedauernswerten Lebensbedingungen der Gegenwart spiegeln sich im Hang zur Subsistenzwirtschaft (Richtig Einmachen), im Hauen und Stechen der Selbstvermarktung (HTML für Anfänger), der intellektuellen Zurichtung (Strukturlogische Ansätze in der Antihermeneutik Karl Poppers, Proseminar SS 2004) sowie in längst geplatzten Träumen (Mit dem Ballon über Nepal).
Nun scheint es erst einmal nicht komplett abwegig, dass Menschen sich von allzu sinnlosen Geburtstagsgeschenken, nie genutzten Tellern und anderem Trödel verabschieden und ihn anderen, die ihn eventuell brauchen, zur Verfügung stellen. Nur handelt es sich bei den Schenkungen selten um Befreiungsschläge, die die Spender von überflüssigem Gerümpel befreien. Meist wird damit nur Platz geschafft, um sich längst gekauften und noch viel bekloppteren Bullshit ins Bücherregal oder sonst wohin zu stellen.
Viel wichtiger jedoch ist der Umstand, dass es sich beim anonymen Verschenken des zumeist wertlosen Plunders keineswegs um einen rationalen Akt handelt. Beim Verschenken sonnt sich König Dünkel in der Position des Gönners und Gebenden. Die Welt wieder ein Stückchen besser, gar einem womöglich armen Menschen eine Freude bereitet zu haben, das ist der Treibstoff all jener, die täglich neuen Unrat aus ihren Wohnungen tragen. Sie glauben endlich etwas zurückgeben zu können – vom Saulus zum Paulusviertelbewohner sozusagen. Im psychischen Mehrwert des Gebens und im scheinbaren Akt der Barmherzigkeit steckt jedoch auch die Möglichkeit, die Gratifikationen jederzeit einstellen zu können. Daraus erwächst ein Genuss, den zu spüren selbstverständlich weit von sich gewiesen wird. Hinter der eingebildeten Machtposition, dem Glauben, etwas tun oder lassen zu können, steckt der hilflose Versuch, sich der als weitestgehend unkontrollierbar wahrgenommen Welt zu bemächtigen und den eigenen Status zu zementieren. Der Spendenbürger weiß, dass zwischen seinem eigenen persönlichen Glück und dem Lebenspech derer, die tatsächlich darauf angewiesen sind, sich ihren Hausrat aus aufgeweichten Pappkisten zu besorgen, oft die Grenzen eines Stadtviertels liegen. In Wahrheit aber spürt er, dass zwischen ihm und den anderen nichts ist, als reiner Zufall. Die dadurch hervorgerufenen unbewussten Schuldgefühle treiben ihn immer wieder an, das großherzige Verschenken, das durch seine Anonymität den Gestus des Selbstlosen noch verstärkt, zu wiederholen. Was am Ende bleibt, ist nichts anderes als ein schäbiger Ablasshandel.
Doch nicht nur Bedürftige bedienen sich aus den Kisten. Den Autoren wurde bei ihren Recherchen zwar glaubhaft vermittelt, dass es sich bei den Beschenkten immer öfter um extra Angereiste aus weit entfernten Stadtteilen handelt, aber die Erfahrung zeigt deutlich, dass die Kisten nur zu einem kleinen Teil von diesen geleert werden. Auch beim autochthonen Paulusviertelbewohner finden die diversen Opfergaben Anklang und so rasend schnell Absatz, dass die Gegenstände trotz des offensichtlich begrenzten Nutzwerts bereits kurz nach dem Bereitstellen schon wieder verschwunden sind. Das Geben und Nehmen ist zu einem identitätsstiftenden Volkssport geworden. Anders als für jene, die selbst der Einkauf im Second-Hand-Shop finanziell überfordert, ist der durchschnittliche Kistenentnehmer daher weder besonders arm noch weit angereist. Vielmehr spielt beim Nutzen ein ganzer Strauß von Wohlfühlideologien eine Rolle. So finden Antikapitalismus (»Du hast ein Handy, igitt!«), Umweltaktivismus (»Wegwerfgesellschaft«), ein auf die Spitze getriebener Recyclinggedanke (»Ist doch noch gut, der eine Schuh da!«) und ordinärer Lokalpatriotismus (»Voll schön, dass es hier so etwas gibt!«) zueinander. An den Kisten des Paulusviertels feiern also zwei altbekannte Sozialcharaktere, die nur allzu oft Teil ein und derselben Person sind, ihre lang ersehnte Eintracht. Der Was-wäre-die-Welt-nur-ohne-mich-Größenwahn trifft auf die typisch ostzonale Abgreifmentalität, und beide verwandeln die halbe Stadt in einen einzigen Tauschring nach der Art, von der noch nicht einmal der Schwundgeldschurke Silvio Gesell zu träumen wagte.
Tatsächlich sind diese spätkapitalistischen Tauschringe nicht im luftleeren Raum entstanden. Als Vorläufer dürften die erstmals Ende der neunziger Jahre in Hamburg, Berlin und süddeutschen Unistädten eröffneten Umsonstläden gelten. Die Idee, Übriggebliebenes, Nutzloses, Ausrangiertes nicht mehr wegzuwerfen, sondern institutionell Anderen zu überlassen, führte zu einem regelrechten Boom, der in den 2000er Jahren seinen relativen Höhepunkt erlebte und auch in Halle in einer lokalen Dependance mündete. Organisiert wurden die Umsonstläden jedoch fast ausnahmslos von mehr oder weniger in der linken Subkultur verorteten Zusammenhängen. So fanden sich diese häufig angegliedert an linke Wohn- oder Hausprojekte. Die Strahlkraft der meist in muffigen Buden angesiedelten D.I.Y.-Projekte war begrenzt. Ehrenamtlich arbeitendes Personal musste her, die Öffnungszeiten mussten abgedeckt und der ganze Plunder irgendwie sortiert werden. Schon bald tauchten findige Gestalten auf, die das Zeug kistenweise mitnahmen und zwei Tage später in ihren Second-Hand-Shops verkauften. Um dem Verrat an der Sache zu begegnen, begrenzten viele Umsonstläden daher die Mitnahme auf ein tägliches Maximum. Seither ist zwar wieder Frieden im Lumpenland, aber das System geriet angesichts des allumfassenden Flexibilitätswahns, des Spontaneitätsirrsinns und an seiner Verortung im linksalternativen Milieu an seine Grenzen. Das heißt jedoch nicht, dass es verschwunden ist. Viele gesamtgesellschaftliche Irrsinnigkeiten, die aus Verzicht, Einfachheit und Askese eine Weltrettungsideologie basteln, feierten zuerst in der Linken ihren Einstand. So wie der Veganismus es zum Titelthema in der Bunten geschafft hat, das ehrenamtliche Engagement zum Stützpfeiler ganzer Sozialverbände mutiert ist und in einer Berufsschulklasse Frisörinnen mittlerweile mehr Piercings stecken als in der gesamten Punkerpopulation Ostberlins, ist auch die Umsonstökonomie auf dem Sprung in den Mainstream. Die avantgardistischen Umsonstläden wurden dabei schon längst von Kieztauschringen verdrängt und ihres Alleinstellungsmerkmals derart beraubt, dass sie in der Bedeutungslosigkeit verschwunden sind. Ganze Heerscharen von Internetaktivisten arbeiten derweil bereits an ausgefeilten Sharing-Community-Konzepten, durch die Bohrmaschinen, Tragetücher und Schnellkochtöpfe ebenso so leichtfüßig herumkreisen sollen wie ein Joint am Lagerfeuer.
Doch Halle wäre nicht Halle, wenn es bei einer Verrücktheit bliebe. So installierte eine findige Gruppe Almosenfanatiker bereits vor einiger Zeit am August-Bebel-Platz, dem angeblich »urbansten Platz Halles«, ein futuristisches Holzhäuschen und überdachte Regale. Dort nun kann, um das Schenken und Beschenktwerden spürbar zu vereinfachen, die holde Gabe zentral dargeboten werden. Gleichzeitig fungiert ein Teil der Installation als Schwarzes Brett und Kontaktbörse für Gleichgesinnte. Besonders interessierte Schenker können auf den nicht weit entfernten Parkbänken mit einem Bier Platz nehmen und dabei zusehen, wie der nächstbeste Bekloppte mit einer halben Packung Kaffeefilter und einem defekten Ondulierstab frohlockend abrückt. Eigene Experimente seien an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen. Der sich selbst managende Tauschladen (Ist die Abschaffung von Personal nicht irgendwie neoliberal?) hat inzwischen derart Zuspruch gefunden, dass sich die Urheber bereits zu gewissen Einschränkungen gezwungen sahen. »Bitte keine Schrankwände!«, war neulich dort zu lesen. Auch sonst hat die Umsonstökonomie im Viertel ihre Spuren hinterlassen. Auf fatale Weise erlangen in letzter Zeit Zettel mit folgender Aufschrift eine immer größere Bedeutung: »Bitte nicht mitnehmen – Umzug!«
Stefan Matuschek und Manfred Beier
Gar keine Kommentare des linken Pöbels? Ist die BT ausgewimpt, oder gab’s die letzten Tage irgendwo Freibier in Halle?
was ist bt?
siehe adresszeile, gleich vor wordpress.com
Schenker, was für eine schöne Selbstbezeichnung:“Ich? Ich bin Schenker. Kein Problem, nehmen Sie nur!“ Dazu noch Romanos Song „Marlboro Mann“ bei dem das Wort „rauchen“ durch schenken ersetzt wird und fertig ist der Lack.