Helfersyndrom und Sadismus liegen nahe beieinander. Der Drang, Menschen zu pflegen, zu verarzten oder zu unterrichten, speist sich oft aus denselben Allmachtsphantasien wie das Bedürfnis, jemandem Leid zuzufügen. Im Zentrum steht der psychische Mehrwert, den das Wissen abwirft, zum Herrn über Leben und Tod, Krankheit oder Genesung oder den zukünftigen Lebensweg des Schützlings zu werden. Aus diesem Grund schlägt ein Helfersyndrom auch regelmäßig in Grausamkeit um: So gibt es keinen Lehrer, der nicht gelegentlich dem Verlangen nachgibt, seine Schüler zu schikanieren; kaum ein Arzt oder kaum eine Krankenschwester ist nicht von Zeit zu Zeit versucht, den unfreundlichen Patienten länger warten zu lassen, ihn zu sedieren oder ihm die notwendige Hilfe ganz zu versagen.
Diesem Drang wird allerdings nur selten so offen Ausdruck verliehen wie in einer hallischen Arztpraxis in der Nähe der Torstraße. Die zahllosen, zwischen Kunst- und ostzonalen Büroblumen angebrachten Aufforderungen, sich zu gedulden und – »bitte!« – nicht zu drängeln, lassen zunächst auf Überbelegung, ein schlechtes Zeitmanagement und jene unangenehme Art von Patienten schließen, die sich permanent empören: darüber, dass andere vor ihnen ins Sprechzimmer dürfen, der Arzt zu wenig Zeit für sie hat und ohnehin alle besser behandelt würden als sie. Ein großformatig ausgedrucktes Gedicht, das die Schwestern ins Wartezimmer gehängt haben, signalisiert jedoch, dass die Hinweise auf nervtötende Patienten lediglich der Vorwand dafür sind, die eigenen Gewaltphantasien ausformulieren zu dürfen. In dieser »Ode an den Patienten«, so der Titel des Gedichts, das von den beiden bärbeißigen Arzthelferinnen vermutlich selbst zusammengemörsert wurde, werden nicht nur genüsslich alle möglichen Verletzungen aufgezählt. Sondern ungeduldigen Patienten wird zugleich angedroht, ihnen »was auf die Nuss« zu geben und ihnen »eins über’n Schädel« zu ziehen. Wir dokumentieren dieses Juwel hippokratischer Reimkunst zum einen als Warnung: Auf Wunsch verschicken wir die Adresse der Praxis gern an besorgte Eltern, Ehepartner und prospektive Patienten. Zum anderen wollen wir zeigen, dass Agatha Christie gar nicht so falsch damit lag, die Mitarbeiter der Gesundheitsbranche als potentielle Verbrecher zu betrachten: In ihren Krimis ist der Mörder nicht umsonst oft der Arzt oder die Krankenschwester. [dcc]
Ode an die Wartenden
[wohl Schwester Sandy feat. Schwester Doris]
Liebe Leute, lasst Euch sagen
Hier wird nicht an die Tür geschlagen
Wir sagen es nun noch im Guten:
Wenn draußen einer tut verbluten
Und röchelnd auf dem Boden liegt,
Vor Schmerzen keine Luft mehr kriegt,
Hat sich getrennt von Körperteilen
Dann tut es Not, sich zu beeilen!
Lässt jemand dienstlich sich hier seh’n,
Dann darf er klopfen, »Bitteschön«
Doch ein Patient, der läuft und spricht
Kann etwas auch gedulden sich
Ergebnis unserer Evolution:
Schriftliche Kommunikation!
Wer klopft und dauernd unterbricht,
Verkürzt die Wartezeiten nicht.
Wenn Sie auch ziemlich lang gesessen,
Werden Sie sicher nicht vergessen.
Wir sind hier in der Medizin
Da ist es voll wie manchmal nie
Da weiß man vorher eben nicht,
Wann und wo und wer und wie
Sich jemand alle Knochen bricht.
Drum bitten wir Sie um Geduld
An Krankheiten ist meist keiner Schuld,
Wir hoffen, Sie haben dies vernommen.
Wer denkt, das Klopfen ist im Kommen
Wer meint, dass er hier wummern muss,
Der kriegt von uns was auf die Nuss.
Wer glaubt, zu pochen wäre edel,
Dem zieh’n wir eins über’n Schädel …
Das Aggressive und Pathologische steckt ja schon im Reimzwang