Kurz vor Bezug des neuen Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Zentrums der hallischen Universität in der Emil-Abderhalden-Straße flammt ein Streit um den Straßennamensgeber auf und spaltet die Öffentlichkeit. Während die eine Seite im ehemaligen Leiter der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina einen lupenreinen Nationalsozialisten erkannt haben will, betont die andere Seite Abderhaldens soziales Engagement und betrachtet ihn als großen Humanisten. Warum die Befürworter der Umbenennung falsch liegen und die Abderhalden-Freunde besser schweigen sollten, erläutert Knut Germar.
Als die hallischen Grünen im Frühjahr 2010 im Stadtrat die Umbenennung der nach dem ehemaligen Präsidenten der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina benannten Emil-Abderhalden-Straße forderten, reagierte die damalige Oberbürgermeisterin Szabados verhalten. In der Mitteldeutschen Zeitung (MZ) ließ sie ihren Stadtsprecher verkünden, »das Thema Abderhalden« sei »eine komplizierte Angelegenheit«, prinzipiell könne man sich aber »vorstellen, dass man einen anderen Straßennamen findet«. Auch der zuständige Kulturausschuss wollte sich nicht zu einem schnellen und endgültigem Urteil hinreißen lassen. Er vertagte die Entscheidung und beschloss, das für 2014 angekündigte Ergebnis eines historischen Forschungsprojektes der Leopoldina abzuwarten, welches sich u. a. die Rolle Emil Abderhaldens (1877–1950) während des Nationalsozialismus als Schwerpunkt gesetzt hatte. Der Streit war vom Tisch, bevor er richtig begonnen hatte. Das änderte sich schlagartig, als im Herbst 2013 eine interfakultäre professorale Initiative zur Umbenennung der Emil-Abderhalden-Straße an die Öffentlichkeit trat und 46 hallische Wissenschaftler den Stadtrat aufforderten, umgehend die Umbenennung zu beschließen. Die Abderhalden-Straße als Postanschrift des neuen Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Zentrums (GSZ) sei, so der Politikwissenschaftler und Initiator des Professorenprotests Johannes Varwick in der MZ, »ein Skandal erster Ordnung, man schämt sich für diesen Namen«. Die Grünen sahen ihre Stunde gekommen und wiederholten ihren Antrag. Diesmal gab es sogar Schützenhilfe von höchster Stelle. Oberbürgermeister Bernd Wiegand unterstützte den Vorstoß persönlich und verkündete, ebenfalls in der Mitteldeutschen Zeitung, dass das GSZ »nicht mit dem Namen Abderhalden belastet werden« dürfe. Es sei unnötig, das Leopoldina-Gutachten abzuwarten, schließlich gäbe es »genug Bedenken und genug Beweise«.
EIN RASSIST DER ERSTEN STUNDE?
Auch den Professoren geht es in ihrer Erklärung »nicht um eine weitere detaillierte historische Auseinandersetzung mit der Person Abderhaldens«, es sei »auch nicht die Stunde weiterer Gutachten«. Ihr Urteil haben die Abderhalden-Gegner längst gefällt. Varwick fasste es in der MZ so zusammen: »Man kann einen Altnazi nicht würdigen, Punkt.« Die Vehemenz, mit der der professorale Aufruf fordert, einen Schlussstrich unter eine Debatte zu ziehen, die zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung noch gar nicht richtig begonnen hatte, lässt aufhorchen. Das plötzliche Vorpreschen der Initiative, die Heftigkeit der Empörung und die implizite Diskussionsunwilligkeit legen den Verdacht nahe, dass sich die Gegner ihrer Argumentation selbst nicht ganz sicher sind. Bei genauerem Hinsehen jedenfalls stellt man fest, dass der Fall Abderhalden nicht so simpel ist, wie die Befürworter einer Straßenumbenennung suggerieren. Der professorale Aufruf entpuppt sich – all seinem Gerede von »wissenschaftlicher Redlichkeit« zum Trotz – als ein tendenziöses Konvolut von Halbwahrheiten.
Den Gegnern Abderhaldens fällt zwar viel gegen ihn ein, nur sind das selten die richtigen Dinge. Da ist der Vorwurf, Abderhalden sei »nachweislich« ein »Rassist der ersten Stunde« und ein »überzeugter rassentheoretisch argumentierender Eugeniker« gewesen. »Nachweislich« daran ist, dass Abderhalden tatsächlich ein großer Freund der Eugenik war und regelmäßig über die Verbesserung der Erbanlagen der Bevölkerung schwadronierte. So schrieb er 1919 in seiner Funktion als Abgeordneter der preußischen Nationalversammlung, jeder Staatsbürger habe »die hohe Pflicht, dem Staate gesunde Nachkommen und damit brauchbare Bürger und Bürgerinnen zu liefern«. Die Begründung: »Kranke Nachkommen belasten den Staat!« Daran hielt er zeitlebens fest. Noch im Jahr 1947, also drei Jahre vor seinem Tod, schrieb er beispielsweise, dass es bei Vorhandensein bestimmter erblicher Störungen »verantwortungslos und ethisch untragbar« sei, die »Fortpflanzung solcher Menschen zu ermöglichen« und warnte vor »Familien, in denen Laster, Verbrechen und dergleichen sich häufen«. Die Familien seien »in der Regel […] sehr kinderreich«, seit »Generationen« wiederhole sich durch sie »eine Summe von Störungen der öffentlichen Ordnung«. Er spricht sich zwar nicht explizit dafür aus, »derartige Individuen fortpflanzungsunfähig zu machen«, möchte sie aber zumindest »frühzeitig […] in Sicherungsverwahrung nehmen«. So zwingend notwendig es auch ist, derartige Widerlichkeiten politisch aufs Schärfste zu bekämpfen, rassistisch sind sie dennoch nicht. Abderhalden lässt sich weder eine »Rassenhygiene« im nationalsozialistischen Sinn nachweisen, die mit Begriffen wie »völkische Blutreinheit« oder »Rassenschande« hantiert, noch finden sich bei ihm Belege für einen traditionellen Rassismus, der von der Höher- bzw. Minderwertigkeit sogenannter Menschenrassen fabuliert.
Dementsprechend lösen sich auch die beiden Hauptbeweisstücke, die von den redlichen Professoren vorgelegt werden, um Abderhalden als waschechten NS-Rassentheoretiker zu überführen, bereits nach kurzer Draufsicht in Luft auf. Das erste Corpus Delicti, mit dem die Wissenschaftler aufwarten, ist folgendes: »Bereits 1915 war er Gründer und Anführer eines ›Bundes zur Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft‹.« Das ist zweifelsohne richtig. Doch auch wenn der Name des von Abderhalden gegründeten Vereins vielleicht anderes vermuten lässt, finden sich weder in seinen formulierten Zielen noch in seinen Tätigkeiten Dinge, die man auch nur annähernd als »rassistisch«, »rassentheoretisch« oder »rassenhygienisch« bezeichnen könnte. In einem von Abderhalden 1940 veröffentlichtem Bericht zur Vereinstätigkeit anlässlich seines 25-jährigen Bestehens kommt das Wort »Rasse« noch nicht einmal vor. Auch das zweite Beweisstück erweist sich als Luftnummer. Zunächst ist den Professoren zuzustimmen, wenn sie anführen, dass Abderhalden 1939 »eine Studie über biochemische Rassenmerkmale« veröffentlichte. Ein Blick in die Studie enthüllt auch, dass es darum ging, nachzuweisen, dass bestimmte Eiweißstoffe sogenannte Rassenmerkmale enthalten. »Es zeigte sich«, fasste Abderhalden die Studienergebnisse zusammen, »dass die einzelnen Rassen […] scharf unterschieden werden konnten«. Was die Professoren in ihrem Aufruf vergessen zu erwähnen, ist, dass Abderhalden in seiner Studie ausschließlich der Frage nach »der Zugehörigkeit eines bestimmten Tieres zu einer bestimmten Rasse« nachgegangen war und dabei vor allem mit Bluteiweißkörpern verschiedener Schaf- und Schweinerassen experimentiert hatte. Wenn er am Ende seiner Studie davon spricht, dass seine Forschungsergebnisse »weite Ausblicke auf sehr viele Probleme auf dem Gesamtgebiete der Vererbung und auch der Rassenforschung« eröffnen würden, bezieht er sich dabei vor allem auf den Bereich der Fauna und Flora. Er hoffte, dass seine Methode »Eingang in jene Forschungsstätten« finden würde, die »an Hand eines reichen Tier- und Pflanzenmaterials« weiterführende und »umfassende Studien« vornehmen könnten. Auch wenn seine Methode in den Folgejahren von der NS-Rassenforschung aufgegriffen wurde – Otmar Freiherr von Verschuer, einer der führenden deutschen Rassenhygieniker, hatte die Abderhaldensche Methode an menschlichen Blutpräparaten, die ihm sein Lieblingsassistent Josef Mengele aus Auschwitz geschickt hatte, getestet –, macht das Abderhalden nicht zwangsläufig zu dem »Täter«, zu dem ihn sich der professorale Aufruf zurechtbiegt.
IM ZWEIFEL ANTISEMIT?
Selbstverständlich heißt das im Umkehrschluss nicht, dass Abderhalden automatisch von jeglicher Verantwortung für die Gräueltaten des Nationalsozialismus freizusprechen wäre. Eine vernünftigere Diskussion müsste gerade die Frage der Mitschuld von Wissenschaftlern in den Blick nehmen, die sich, beispielsweise im Glauben, eine »reine«, von äußeren Umständen unberührte Wissenschaft betreiben zu können, mit den Nazis arrangierten oder sich gar von einer Kooperation mit den Machthabern zusätzliche Mittel für ihre Forschung erhofften. Gerade einem 1933 international renommierten Wissenschaftler und Schweizer Staatsbürger wie Abderhalden wäre es ein leichtes gewesen, Deutschland den Rücken zu kehren und seine Karriere woanders fortzusetzen. Doch Abderhalden blieb. Und er arrangierte sich – und das nicht zu knapp. So schrieb er 1938, noch bevor ein entsprechender reichsministerialer Erlass an die deutschen Akademien erging, an Joachim Eggeling, den hallischen NSDAP-Gauleiter, dass die »Zusammensetzung des Mitgliederbestandes in vollem Einklang mit den Erfordernissen der Zeit« stünde und alle jüdischen Mitglieder »ausgemerzt« worden seien. Wie das Protokoll einer Vorstandssitzung unter dem Punkt »Arisierung der Akademie« belegt, wurde beschlossen, die Streichungen vorzunehmen, bevor »ein entsprechender Befehl kommt«. Bereits 1933 war Albert Einstein aus dem Matrikelbuch der Akademie gestrichen wurden, die restlichen Streichungen jüdischer Mitglieder erfolgten 1937/38.
War Abderhalden deshalb ein überzeugter Antisemit? Für seine Gegner ist der Fall sonnenklar. Bei genauerer Betrachtung der Angelegenheit stößt man jedoch auch hier auf Widersprüche, die statt Antisemitismus eher politischen Opportunismus als Grund für die Streichung der jüdischen Akademiemitglieder nahelegen. Da ist zum Beispiel die Verfahrensweise, bei der die Mitgliedskarteikarten nicht zerstört, sondern lediglich aussortiert wurden, so als hätte man eine mögliche Revidierung – etwa im Falle einer plötzlichen Veränderung der Machtverhältnisse – im Hinterkopf gehabt. Dafür spricht auch ein maschinengeschriebenes auf den 9. Mai 1945 datiertes Mitgliederverzeichnis, in dem der Großteil der gestrichenen jüdischen Mitglieder wieder auftaucht. Zudem wurden ab 1937 keine Mitgliederverzeichnisse mehr veröffentlicht, eine Mitteilung über ihre Streichung erhielten die Betroffenen nicht. Die von der Akademie herausgegebenen Publikationen bekamen sie weiterhin, zumindest eine Zeit lang.
Gegen einen ausgeprägten Antisemitismus bei Abderhalden spricht zudem, dass er in seinem ersten Amtsjahr zahlreiche jüdische Mitglieder, darunter Albert Einstein, in die Akademie berief. Das brachte ihm öffentliche Anfeindungen durch die überwiegend nationalsozialistische Studentenschaft ein, so zum Beispiel als die Hallische Studentenzeitung im August 1932 Abderhaldens Institut als »Eldorado der Juden und Ausländer« geißelte. Festzuhalten ist, dass aus jener Zeit, in der man Antisemiten noch daran erkannte, dass sie sich selbst auch als solche zu bezeichnen pflegten, bisher keinerlei judenfeindliche Äußerungen durch Abderhalden aufgetaucht sind. In seiner kurzen Zeit als Abgeordneter der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) sprach er sich sogar deutlich dagegen aus, dass »jemand, weil er z. B. Jude ist, der gleichen Rechte und Pflichten im Staate beraubt werden« dürfe. »Antisemitismus«, so der vermeintliche Judenfresser, »hat keinen Platz in einer reinen, wahren Demokratie! Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession darf nicht die geringste Rolle spielen!«
»EIN MENSCHENFREUND«
Knapp zwei Monate nachdem die protestierenden Geisteswissenschaftler ihren selbsterklärten »weitere[n] Schritt zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte« unternommen hatten, bliesen die Freunde Emil Abderhaldens zur Gegenoffensive. Der hallische Verein Zeitgeschichte(n) e. V. – Verein für erlebte Geschichte, der in der Vergangenheit vor allem mit der Reinigung von Stolpersteinen und der Veröffentlichung von Vertriebenengeschichten beschäftigt war, startete einen Aufruf an die Unterzeichner der ›interfakultären professoralen Initiative zur Umbenennung der Emil-Abderhalden-Straße‹ zum Überdenken ihrer Unterschrift. Neben zahlreichen Professoren hatten auch drei Bürgerrechtler, zwei Künstler und ein ehemaliger sachsen-anhaltischer Ministerpräsident, Christoph Bergner, den Gegenaufruf unterzeichnet. Abderhaldens Gegner würden, so beklagten dessen Fans in ihrem Appell, »ein negatives Zerrbild« zeichnen und seine »wissenschaftlichen und sozialpolitischen Verdienste nicht angemessen« berücksichtigen. Es sei, so die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und Geschäftsführerin des Vereins Heidi Bohley in der Mitteldeutschen Zeitung, »eine Ehrabschneidung, wenn man einen bestehenden Namen entziehen will«. Auch Henrik Eberle, Historiker an der hallischen Universität, sorgte sich um Abderhaldens Ehre und verkündete in der MZ, dass Abderhalden in vielem »das genaue Gegenteil« dessen gewesen sei, was ihm seine Gegner vorwerfen würden. »Er war ein Menschenfreund, er wollte die Welt verbessern.« Für den Ausschluss der jüdischen Mitglieder aus der Akademie warb Eberle um Verständnis: »Die Bedrohung, die wir heute nicht mehr verstehen, hieß ja nicht, die Juden auszuschließen oder den Posten zu verlieren, sondern die Juden ausschließen oder die Leopoldina wird geschlossen.« Mit anderen Worten: Wenn es um die Existenz einer altehrwürdigen Akademie geht, kann man auch schon mal ein paar Juden über die Klinge springen lassen.
Auch wenn nicht alle Gegner einer Straßenumbenennung in ihrer Verteidigungshaltung soweit gehen wie Eberle, einig ist man sich hinsichtlich Abderhaldens sozialer Verdienste. Jemand, der während des Ersten Weltkriegs die Ernährungssituation der hallischen Bevölkerung verbessert, ein Säuglingsheim gegründet und später für unterprivilegierte hallische Kinder Erholungsreisen in die Schweiz organisiert habe, könne einfach, so die Logik der Abderhalden-Freunde, kein schlechter Mensch sein. Dass Abderhalden jedoch alles andere als ein von reiner Sorge um seine hallischen Mitbürger getriebener Humanist war, zeigt sich, wenn man sich die Gründe für seine sozialpolitische Betätigung genauer anschaut. Wie bereits der Name seines Bundes zur Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft nahelegt, ging es ihm weniger um die Linderung individueller Not. Gegründet hatte Abderhalden seinen Verein, um, wie er 1940 schrieb, »das Durchhalten während der Kriegszeit zu erleichtern«. Seine »Hauptsorge galt der Verhinderung der Zermürbung des Volkes und insbesondere der Frauen«. Die »Wegnahme eines Teiles der Sorge um die Ernährung«, d. h. die Verpachtung von Ackerland und mehr als 1.000 Kleingärten, sollte die »Verstärkung des Willens zum Durchhalten« nach sich ziehen. Nicht reine Nächstenliebe war es, die Abderhalden zu seinem unermüdlichen Tun anstachelte, sondern die Sorge um eine mögliche Zersetzung der Wehrkraft an der Heimatfront. Abderhaldens heute so hochgelobtes soziales Engagement war sein kleiner Beitrag dafür, dass die Kriegsmaschinerie reibungslos lief und das Gemetzel auf den Schlachtfeldern ohne Protest der Daheimgebliebenen weiterging.
VON »DROHNEN« UND »LUMPEN«
Es spricht einiges dagegen, Emil Abderhalden einfach nur als Opportunisten zu charakterisieren, der sich aus reinen Nützlichkeitserwägungen mit den Nazis arrangierte. Man hört aufrichtiges Gekränktsein aus seinen Worten, wenn er 1942 an den Kurator der Universität schreibt, dass er hofft, »dass eine spätere Zeit« ihn »gerechter« in seinem »Wirken für Deutschland beurteilen wird, als das jetzt der Fall ist«. Beigelegt hatte er dem mit »Heil Hitler!« unterzeichnetem Schreiben einen von einem Bund der Schweizer in Großdeutschland e. V. veröffentlichtem Aufsatz über ihn, der seiner Personalakte beigefügt werden sollte. In seinem Rundschreiben freute sich besagter Verein, dass »ausgerechnet ein schweizerischer Wissenschaftler vor Jahren und Jahrzehnten Gedanken vertreten hat, die man heute als ›nationalsozialistisch‹ zu bezeichnen pflegt«. Abderhalden sei, so die Schweizer Nazis, »ein Pionier jener Ideen […], die der Nationalsozialismus auf seine Fahnen geschrieben« habe. Auch wenn Abderhalden weder Rassist noch Antisemit war: Sein anbiederndes Schreiben und die Lobhudelei durch die Schweizer Nationalsozialisten wirft die Frage nach vorhandenen ideologischen Parallelen zwischen dem deutschen Liberalen und den Nazis auf. Wie die Lektüre seiner politischen Schriften zeigt, war Abderhalden Zeit seines Lebens vor allem eines: Anhänger einer Ideologie, die zwar keine rein nationalsozialistische Erfindung war, jedoch in ihrer nationalsozialistischen Variante die große Mehrheit der Deutschen hinter ihren Führer scharte. Noch in seinen 1947 erschienen Gedanken eines Biologen zur Schaffung einer Völkergemeinschaft und eines dauerhaften Friedens versuchte er »den Völkern«, zu denen er im greisen Größenwahn mit seiner Schrift zu sprechen meinte, die »Entwicklung einer wahren Volksgemeinschaft« als Weg zur Neugestaltung der Welt anzudrehen. Seine Vision einer Völkergemeinschaft der Volksgemeinschaften formuliert Abderhalden so: »Die Völker sollen ohne Ausnahme in dem Ausmaße volle Freiheit genießen und ihr Schicksal selbst gestalten, als sie höchstes Verantwortungsgefühl allen anderen Völkern gegenüber besitzen. Freiheit ist nicht egoistisches Sichausleben, vielmehr freiwillige Einordnung in ein Ganzes.«
Die »freiwillige Einordnung in ein Ganzes« war es dann auch hauptsächlich, die der liberale Abderhalden vor Augen hatte, als er im Jahr 1919 als Abgeordneter der DDP seine Vorstellungen zur Gestaltung der noch jungen demokratischen Republik zum Besten gab. »Demokratie heißt: alle Volksgenossen haben gleiche Rechte und vor allem auch Pflichten!« Die Pflicht aller Demokraten bestünde darin, »das Gesamtwohl des ganzen Volkes und damit des gesamten Vaterlandes über das Einzelwohl […] zu stellen«, um ein »Vaterland« jenseits von »Egoismus« und »Parteizwist« zu erschaffen. »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« schrieb sich die NSDAP unter Punkt 10 in ihr Programm, und es ist genau diese Forderung, die Abderhalden mit dem Nationalsozialismus verbindet. Im Unterschied zu den Nazis meinte er, wenn er vor »Feinden im Volkskörper« warnte und zum »Kampf gegen dem deutschen Wesen fremde Erscheinungen« aufrief, jedoch ausdrücklich nicht die Juden. Als undeutsch galten ihm stattdessen alle, die sich in seinen Augen der »Pflicht zur Arbeit« entzögen, weshalb er sie in Anlehnung an die Insektenwelt als »Drohnen im Staate« beschimpfte. Für Abderhalden war »jeder ein Lump, der isst ohne zu arbeiten, schneide er nun als Faulpelz seine Zinsscheine ab oder wälze er sich als Vagabund im Straßengraben«. Selbst »Damen, die mit Stöckelschuhen untätig daherrauschen« zogen seinen Zorn auf sich, sie seien »ebenso verachtenswert« wie »jede andere Person, die ihre Pflicht dem Staate gegenüber versäumt« und die damit, wie er 1947 noch einmal bekräftigte, »außerhalb der Volksgemeinschaft« stünde. Diejenigen, die innerhalb Abderhaldens Volksgemeinschaft stehen, haben längst die Verfügungsgewalt über sich selbst verloren. »Niemand im Volke«, so Abderhalden in seinem politischen Programm von 1919, »gehört nur sich! Niemand kann mit Körper und Geist nach seinem Gutdünken verfügen. Jeder Volksgenosse und jede Volksgenossin ist ein Teil des gesamten Volkskörpers!« Und deshalb sei, ergänzte Abderhalden drei Jahre vor seinem Tod, »die Pflege der eigenen Gesundheit und damit die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit im Interesse der Allgemeinheit« die höchste Pflicht eines jeden Staatsbürgers.
Betrachtet man die gegenwärtigen Gesundheitskampagnen, wird man feststellen, dass sie an den Liberalismus Abderhaldens anknüpfen, der aus Sorge um die Arbeitsfähigkeit des Einzelnen und die Kosten für das Gesundheitswesen vehement den Genuss von Tabak, Alkohol und fettem Essen verteufelte. Sie werden hauptsächlich von einem Milieu getragen, dem auch die Mehrzahl jener hallischen Professoren angehört, die sich heute ganz antifaschistisch gegen ihren Kollegen wenden. Dem linksliberalen Milieu fällt die tatsächliche Parallele Abderhaldens zum Nationalsozialismus schon deshalb nicht auf, weil die von ihren Angehörigen propagierte Lebensweise – mit ihrem Sermon vom gesunden Essen, Nichtraucherschutz und Fitsein bis ins hohe Alter – selbst in der Tradition der Volksgemeinschaft des deutschen Liberalismus steht.
»DEN TÜCHTIGEN FREIE BAHN«
Es ist die Kombination aus biologistischer Staatsauffassung und fanatischem Hass auf alles Unproduktive, die in Abderhaldens sozialdarwinistischem Mantra, den »Tüchtigen freie Bahn« zu gewähren, zu sich selbst findet. Aus ihm leiten sich auch Abderhaldens eugenische Forderungen ab. So schrieb er 1921 in einem von den großdeutschen Schweizern besonders gelobtem Aufsatz: »Solange der Staat ungeheure Summen ausgeben muss, um lebensuntüchtige Individuen mühsam am Leben zu erhalten, solange er Millionen für geistig Minderwertige auswerfen, gewaltige Kranken- und vor allem auch Irrenhäuser unterhalten muss, bleibt für die körperlich und geistig Gesunden nur ein Bruchteil jener Summen übrig, die zur Verfügung ständen, müsste nicht eine so gewaltig große Zahl von Opfern mangelhafter Fürsorge für die Gesunderhaltung verpflegt werden.« Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass Abderhalden das im letzten Jahr der Weimarer Republik entworfene und von den Nazis 1934 in Kraft gesetzte »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« öffentlich unterstützte, im gleichen Jahr den Aufruf Deutsche Wissenschaftler hinter Adolf Hitler unterzeichnete und in den NS-Lehrerbund eintrat. Mit Zwangssterilisationen hatten die Nazis einen neuen Sympathisanten gewonnen.
Insgesamt zeigt der Fall Abderhalden, dass man kein überzeugter Nazi gewesen sein muss, um den Nationalsozialismus de facto mitzutragen. Um abschließend beantworten zu können, wer Abderhalden war, ist es jedoch wirklich nicht nötig, auf das demnächst erscheinende Gutachten der Leopoldina zu warten. Es genügt eine kleine Anekdote seiner Tochter über die gemeinsamen sonntäglichen Spaziergänge in die von Abderhalden gegründeten Kleingartenanlagen der Saalestadt. Er habe dabei, erzählte sie unlängst der Mitteldeutschen Zeitung, immer darauf geachtet, »dass alles in den Gärten ordentlich war, dass nichts verlottert und vergammelt«. Trotz seiner Schweizer Staatsbürgerschaft war Emil Abderhalden ein ganz normaler Deutscher – wie Millionen andere auch.
Knut Germar
Literatur:
Emil Abderhalden: Die hohen Aufgaben des deutschen Demokraten und seiner Partei, Halle 1919.
Ders.: Drei Vorträge zu politischen Tagesfragen, Halle (Saale) 1919.
Ders.: Das Recht auf Gesundheit und die Pflicht sie zu erhalten, Halle (Saale) 1921.
Ders.: Rasse und Vererbung vom Standpunkt der Feinstruktur von blut- und zelleigenen Eiweißstoffen aus betrachtet, in: Nova Acta Leopoldina. Abhandlungen der Kaiserlich Leopoldinisch-Carolinisch Deutschen Akademie der Naturforscher. Neue Folge, Band 7, Halle (Saale) 1939.
Ders.: Bund zur Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft. 1915–1940, Halle (Saale) 1940.
Ders.: Gedanken eines Biologen zur Schaffung einer Völkergemeinschaft und eines dauerhaften Friedens, Zürich 1947.
Wieland Berg: Emil Abderhalden und die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina nach 1932 – eine Projektskizze, in : Benno Parthier (Hg.): Jahrbuch 1991. Leopoldina, Band 37, Halle (Saale) 1992.
Benno Parthier: Die rätselhafte »Streichung« von Albert Einsteins Mitgliedschaft im Matrikelbuch der Leopoldina. Ein Indizienbericht mangels eindeutiger Beweise, in: Susan Splinter u. a.: Physica et historica. Festschrift für Andreas Kleinert zum 65. Geburtstag, Halle (Saale) 2005.
Der Artikel übt Teils heftige Kritik sowohl an den Befürwortern der Umbenennung als auch an deren Gegnern. Ob und inwiefern die dargebrachten Ausführungen richtig sind kann ich nicht beurteilen , da ich mich mit dem Thema nicht auseinandergesetzt habe.
Was mich hingegen sehr interessiert ist wie der Autor und die Redaktion Tristesse nun zu dem Thema an sich steht. D.h. denkt ihr das die Verfehlungen die Abderhalden begangen hat ausreichen um eine Umbenennung zu rechtfertigen?
Ich selbst würde das alles im allen eher bejahen da seine vehemente Unterstützung für Eugenetische Maßnahmen meiner Ansicht nach eine schwere moralische Sünde ist für die ich im Lebenslauf Abderhaldens keinen entschuldigenden Notstand oder gar rechtfertigenden Notstand sehe.
Abschließend möchte ich sagen das ich finde das der Text am Ende viel zu polemisch wird. So nervend und moralisierend der Hype um gesunde Ernährung, Fitness Nichtraucherschutz usw teilweise auch ist so sehe ich ihn um ehrlich zu sein in keiner Weise in der Tradition volksgemeinschaftlicher Bewegungen. Wo seht ihr die konkreten Indizien dafür?
Mit solch rabiaten und scharfen Angriffen untergräbt man die eigene Idee , die für sich genommen sicherlich keine falsche ist, nämlich eine fundierte Methodenkritik an den Argumenten der Befürworter und Gegner.
1. Mir persönlich ist der Name der Straße zwar relativ egal, es spricht aber auch nichts dagegen, sie umzubenennen. Wer dafür eintreten möchte, kann das ja gerne tun, nur sollten dann auch die richtigen Argumente verwendet werden.
2. Dass die aktuellen Gesundheitskampagnen vor allem mit der Volksgesundheit argumentieren, sollte Indiz genug sein. Ein kurzer Blick in die Geschichte: Es waren die Nationalsozialisten, die erstmal im Sinne des Nichtraucherschutzes tätig wurden und die ersten Rauchverbote im öffentlichen Raum durchsetzten. Der Unsinn rund um die gesunde Lebensweise (Veganismus, körperliche Ertüchtigung usw.) ist ebenfalls keine Erfindung des 21. Jahrhunderts sondern geht auf die Lebensreformbewegung des späten 19. Jahrhunderts zurück, die alles andere als in Opposition zur völkischen Bewegung stand.
3. Wie kommen Sie darauf, meine Idee sei eine fundierte Methodenkritik gewesen? Mir kam es einfach nur darauf an, den offensichtlichen Blödsinn, der von beiden Seiten des Straßenkampfes verzapft wird, zu denunzieren.
1. Da bin ich weitestgehend bei Ihnen. Die Grundidee in einen solchen Streit mal die schwächen in den Argumenten der Befürworter und Gegner aufzudecken halte ich auch für sehr gut und in nicht wenigen Punkten haben sie das auch auf solide Art und Weis getan, zumindest soweit ich das beurteilen kann.
2. Und hier gehen unsere Wege dann wohl doch auseinander. Die Tatsache das die Nationalsozialisten aus völkischen Motiven heraus viel vom rauchen und Gesunder Ernährung schwadroniert haben bedeutet meiner Ansicht nach nicht das man jeden der heute für Nichtraucherschutz und „gesunde Ernährung“ eintritt ( unabhängig davon wie penetrant er das tut) in die Tradition des Nationalsozialismus stellen kann.
In allen Ländern dieser Erde oder zumindest in allen westlichen Ländern gibt es eine mehr oder weniger aggressive Gesundheitslobby. Diese fährt auch überall die selben Argumente auf nämlich Gesundheit. Nerven die? … Ja das tun sie teilweise gewaltig. Sind sie nun in der Tradition des Dritten Reiches und des NS Staates und seiner Ideologie ? Ich glaube nicht.
Man kann über die „Ökos“ und Gesundheitsfanatiker sicherlich einiges schreiben. Aber eine Brücke von der NS Zeit zu denen zu schlagen ist meiner Ansicht nach unsinnig.
Die Menschen die ich aus dieser Fraktion kennen nerven … ohne Frage. Aber ich sehe bei ihnen nicht das sie den NS Rassenüberlegungen , den Führerstaat, Deutschnationalen Überlegungen , Antisemitismus, usw irgendetwas abgewinnen können oder dafür eintreten.
Ich meine sind die ganzen japanischen, französischen, kanadischen, britischen , israelischen , argentinischen , schwedischen , polnischen , us-amerikanischen usw Nichtrauchergegner ,die im großen und ganzen exakt die gleichen Positionen mit den gleichen Argumenten vertreten auch alle in der NS Tradition? Oder sehen sie bei den deutschen Vertretern dieser Lobby irgendwelche Argumente die völkischer oder bevormundender sind als bei den Lobbyvertretern in anderen Ländern? Wenn ja wo genau ?
3. Gut , den Fehler das ich ihre Intention offenbar vollkommen falsch wiedergegeben habe muss ich mir in der Tat selber ankreiden. Ich finde es um ehrlich zu sein Schade das es viele Beiträge in diesen Magazin mit ihrer Polemik übertreiben, besonders weil sich neben der aggressiven Polemik oftmals recht interessante und kluge Ansätze verbergen. Ich bin kein Konsensorientierter Wohlfühlmensch , aber wenn dann schon Leute die sich für Nichtraucherschutz einsetzen als Menschen die sich in der NS Tradition befinden gebrandmarkt werden ist jede Sachlichkeit und damit auch jede sachliche Diskussion nicht mehr vorhanden bzw möglich.
Das schmälert natürlich die Außenwirkung, weil es dazu führt das viel über den Stil und wenig über die Sache gesprochen wird. Falls das erstere nicht ihr Ziel ist so tut es mir Leid das ich ihre Intention erneut falsch gedeutet habe, letztendlich muss jeder selber wissen was er mit seinen Argumenten und seiner Argumentationsstrategie erreichen will. Daher sollen meine Ausführungen auch nicht so normativ verstanden werden wie sie vielleicht klingen. Ich Frage mich nur immer mal wieder ob das was das Magazin erreichen will nicht irgendwie durch die Polemik die es teilweise nutzt sich selbst behindert.
Ich meine wir haben gravierende Probleme mit Rechtsextremismus, Linken Antisemitismus und Islamismus. Alles drei Strömungen die Brandgefährlich sind. Und hier arbeitet man sich an Menschen ab die etwas mit Nichtraucherschutz nerven oder an Grünen die ein paar Tische zusammenbauen. Ich habe da doch deutlich andere Prioritäten.
Aber gut , da hat sicherlich jeder seine eigenen Ansichten und außerdem ist es nicht mein Magazin. Insofern hoffe ich das ihr meine recht kritischen Ausführungen nicht missversteht , als Angriff empfindet oder gar denkt das ich sämtliche eurer Ansätze ablehne.