Friedrich Ludwig Jahn ist eine der Personen, deren Ruf als großer Nationalheld vom „Dritten Reich“ in die alte Bundesrepublik und vor allem in die DDR hinübergerettet wurde. Besonders im Osten der Republik wird ihm auch heute noch große Bewunderung entgegengebracht. Eine der Stätten deutscher Jahn-Verehrung befindet sich in Sachsen-Anhalt: So wird Jahn in Halle nicht erst seit 2006 in einem Schaukasten am Riebeckplatz als „Turnvater“ und „Demokrat“ gewürdigt. Bereits 1878 benannte man eine an der Saale gelegene Höhle nach ihm, in der er zeitweise gehaust haben soll, um nach eigener Aussage „ungestört über das eine nachzudenken, was Deutschland not tut“. Ein wahres Mekka für Jahn-Fans ist das rund 50 Kilometer südlich von Halle gelegene Städtchen Freyburg, das nicht nur eine „Jahn-Erinnerungsturnhalle“, sein Grab und eine „Jahn-Ehrenhalle“ bereithält, sondern auch das einzige „Jahn-Museum“ der Republik beherbergt. Warum Jahn jedoch entgegen der landläufigen Meinung weder Sportler noch Demokrat war, und warum die Völkischen ihn zu Recht als ihresgleichen feierten, erläutert Knut Germar.
Ein typisches Merkmal von Provinzstädten ist, dass sie sich oftmals mit jenen Bürgern schmücken, die in jungen Jahren der geistigen Enge ihres Geburtsortes und der Idiotie seiner Bewohner noch rechtzeitig Adieu sagen konnten, um in der Ferne ihr Glück zu suchen. Mangelt es an solchen Persönlichkeiten, dann nehmen die jeweiligen Geburts- oder Wirkungsorte auch mit Gestalten vorlieb, die bereits zu Lebzeiten alles andere als Glanz versprühten und zu denen vernünftige Menschen auch damals schon auf Abstand gingen. Wirft man einen Blick auf Halle, dann kann man feststellen, dass beide Möglichkeiten auch nebeneinander existieren können. Georg Friedrich Händel – der seinen Weltruhm bekanntlich an der Themse und nicht an der Saale erlangte – verehrt man hier wohl vor allem deshalb als „Sohn der Stadt“, weil sein Name wenigstens einmal im Jahr ein paar zahlungskräftige Kultur-Touristen aus dem In- und Ausland überzeugen kann, der Stadt während der Händelfestspiele einen Besuch abzustatten. Wesentlich verbundener fühlen sich hallische Lokalpatrioten mit jenen Söhnen und Töchtern der Stadt, die landauf und landab als „Originale“ bezeichnet werden. Im Gegensatz zu anderen Zeitgenossen seien diese „vollkommen echt“, durch ihre „Bodenständigkeit“ erscheinen sie ihren Mitmenschen „wie Felsen in der Brandung, die sich in einer Zeit rasanter Beschleunigung treu geblieben“ sind, kurzum: „sie sind Halle“.1 Man liebt die „Originale“ also gerade deshalb, weil sie eben nicht – wie es Händel tat, als er sich 1712 endgültig in London niederließ – nach Höherem streben, sondern treu auf der heimatlichen Scholle im eigenen Mief verharren. Es ist, mit anderen Worten, die ihnen zugeschriebene „Volkstümlichkeit“, die sie in den Augen ihrer Verehrer so bewundernswert macht.
Gymnastik als Wehrsport
Verwundernswert ist daher auch nicht, dass gerade der Mann, der das Wort „Volkstum“ erfand und von 1796 bis 1799 in Halle studierte, als eines dieser „Originale“ ungebrochene Verehrung findet. Die Rede ist vom „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn. Zum hartnäckigsten Unsinn, der über seine Person verbreitet wird, gehört das Bild von Jahn als einem Vordenker des modernen Wettkampfsportes. Denn dem „Turnwüterich“ (Karl Marx) und der von ihm zu Beginn des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufenen Massenbewegung ging es um alles andere, als um die Gründung harmloser Sportvereine und die Etablierung halsbrecherischer Kunststücke als olympische Disziplin. Jahn hatte viel Größeres im Sinn. Seine Begeisterung für Bauchwellen, Barren und Bocksprünge war eingebettet in einen Nationalerziehungsplan, mit dem er „Deutschlands Rettungsstern“ zum Aufgang verhelfen wollte, und den er 1810 in seiner Schrift „Deutsches Volkstum“ darlegte.2 Allein der Titel verheißt nichts Gutes, und so entpuppt sich Jahn bereits nach einer oberflächlichen Lektüre als ein wahrhafter Urvater der völkischen Bewegung.
Sein Ziel war nicht einfach nur ein einheitlicher deutscher Nationalstaat, wie seine Fans immer wieder verharmlosend betonen, sondern vielmehr ein großdeutsches Reich, das Österreich, die Schweiz, die Niederlande und Dänemark mit einschließen sollte. Damit „Deutschland […] seine ungeheurn, nie gebrauchten Kräfte“ entwickeln könne, fordert er in seiner völkischen Erweckungsschrift die Deutschen auf, sich ihrer „Wurzeln“ zu besinnen und sich ihres „Volkstums“ bewusst zu werden. Nur so könne Deutschland erreichen, „wozu es der hohe Ruf der Natur bestimmt hat“, nämlich „einst der Begründer des ewigen Friedens in Europa“ und „der Schutzengel der Menschheit“ zu sein. Dieses erst noch zu errichtende Deutschland sollte ein wahrhafter Volksstaat sein, denn: „Nichts ist ein Staat ohne Volk, ein seelenloses Kunstwerk; nichts ist ein Volk ohne Staat, wie die weltflüchtigen Zigeuner und Juden.“ Die Hauptschuld am vermeintlichen Niedergang Deutschlands trugen in Jahns Augen finstere fremdländische Mächte und allen voran Frankreich, dessen Truppen nach der preußischen Kapitulation im Jahr 1807 das Königreich besetzt hielten. Nur durch gezielte französische Beeinflussung seien die Deutschen in das „Irrgewirr der Verkünstelung“ geführt worden und hätten ihre wahre Bestimmung aus den Augen verloren; sie „verdarben“ sich „den Geist durch stumm und taub machendes Kartenspiel“, ihr „Herz“ durch „liebsieche Romane“ und ihren „Magen […] durch tagtägliche Kartoffeln“. Neben Rommé, Liebesromanen und Erdäpfeln war ihm besonders die französische Mode verhasst, vor deren „immer neuen Wüterei“ er die Deutschen mit einer eigens von ihm entworfenen „Volkstracht“ zu schützen gedachte. Jahn entblödete sich dann konsequenterweise auch nicht, mit einer eigens entworfenen, von ihm als „deutscher Rock“ bezeichneten schwarzen Tracht herumzulaufen, die dann auch den Hohn seines Zeitgenossen Heinrich Heine auf sich zog, der über den „aufgeregten Patriotismus“ und „den Mummenschanz jener schwarzen Narren“, gemeint sind die Turner, spottete. Die allergrößte Gefahr ging für Jahn jedoch von französischen Kindermädchen aus. Diese seien die Verkörperung des Undeutschen, eine „Landplage“ und das „Allerverderblichste für die weibliche Jugend“, da diese durch sie „entweiblicht und entdeutscht“ werde. Durch die von ihnen geleistete Erziehung würde der „Blumenkeim Deutscher Kindlichkeit“ angefressen, „die Blütenknospe Deutscher Jungfräulichkeit zernagt“ und „die Lebensfrucht des Volkstums wurmstichig“ gemacht. Intime Beziehungen mit französischen Frauen seien ein Verrat am „Volkstum“, denn ein echter Deutscher sei jemand, der „nach einer Gattin sich sehnt, die den Vaterländischen Eichenkranz mit Veilchen, Vergißmeinnicht und Deutschem Immergrün umwinde.“ Jahn fordert die „Verbannung der Ausländerei“ aus allen Lebensbereichen, damit Deutschland „sein Wiedergeburtsfest und seinen Auferstehungstag feiern“ könne. Sein Wunsch nach der Ausmerzung alles Fremdem geht soweit, dass er jeglichen ausländischen Einfluss aus der deutschen Sprache verbannt wissen will. Da „Deutsch“ das „dritte heilige Wort sein“ müsse, das jedes Kind „nach ‚Vater’ und ‚Mutter’ zuerst lallen sollte“, fordert er nicht nur die „Vermeidung fremder Wörter“ in der Amtssprache und die Verbannung der französischen Sprache und Werke von den Theaterbühnen. Auch bei der Namensgebung des Nachwuchses sei tunlichst darauf zu achten, „Echtdeutsche“ und nicht etwa „Jüdische Namen“ zu verwenden, verrieten letztere doch ein „judenzendes [jüdisches; K. G.] Gemüt“. Es war Peter Hacks, der, mit der treffenden Charakterisierung, Jahns Sprache klänge wie „ein deutsches Ur-Muhen“, feststellte, dass Jahns Feldzug gegen Fremdwörter zugleich und vor allem einer gegen die deutsche Sprache selbst war.3 Neben solch zurecht vergessenen Wörtern wie „Mangvölker“, „Quenckbrei“ und „Immerzüngler“ verdankt ihm die deutsche Sprache eben auch das Wort „Turnen“, die Jahnsche Eindeutschung von Gymnastik.
Neben der Reinhaltung der Sprache fordert Jahn im Veterinärs-Jargon auch die Reinhaltung des Blutes, denn: „Mischlinge von Tieren haben keine echte Fortpflanzungskraft, und ebenso wenig Blendlingsvölker ein eigenes volkstümliches Fortleben. […] Wer die Edelvölker der Erde in eine einzige Herde zu bringen trachtet, ist in Gefahr, bald über den verächtlichsten Auskehricht des Menschengeschlechts zu herrschen.“ Es ist der im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts weit verbreitete Mythos der Rasse, der sich an dieser Stelle mit aller Deutlichkeit bei Jahn bereits ankündigt, weshalb Léon Poliakov ihn auch als einen „großen Apostel des deutsch-christlichen Rassismus“ bezeichnet.4 Nicht nur die Vorstellung eines von Jahn erträumten und wesentlich über das Blut bestimmten großdeutschen Reiches war charakteristisch für den rassistischen Pangermanismus der völkischen Ideologen nach ihm. Auch die von Jahn ins Leben gerufene Turnbewegung nimmt, so Poliakov, „in mancherlei Hinsicht die paramilitärischen Organisationen des Nationalsozialismus vorweg“. Nicht nur das beim Antreten der Turner geblökte „Gut Heil!“ weckt Assoziationen zum „Sieg Heil!“ der Nazis. Es ist das bündische Organisationsprinzip der sich um einen geliebten Führer rottenden Turner, das sich die Völkischen einige Jahre nach Jahns Ableben auf die runenbesetzten Fahnen schrieben und als gesellschaftlichen Gegenentwurf zum verhassten Individualismus in Anschlag brachten.5
Vor diesem Hintergrund muss auch Jahns sportliches Engagement verstanden werden. Um seinen Traum vom großdeutschen Reich zu verwirklichen, forderte er von seinen Landsleuten Zucht, Ordnung und eben körperliche Ertüchtigung. Nur durch „des Krieges Eisenband und der Waffen Stahlkur“ 6 könnten die durch die „Ausländerei“ verweichlichten Deutschen zu ihrer naturgegebenen Stärke zurückkehren. Das Turnen, das er als wesentlichen Bestandteil seines Konzeptes der „Volkserziehung“ verstanden wissen wollte, sollte die Deutschen auf den „Kampf auf Leben und Tod fürs Vaterland“ vorbereiten. Sie sollten „durch Leibesübungen waffenfähig“ werden, um der Welt durch einen „vaterländischen Schutzkrieg“ zu zeigen, wo der Hammer hängt, bzw., um es mit Jahns Worten auszudrücken, die „Deutschheit als eine wohltätige Begründung der Menschheit unter den Völkern“ zu verbreiten. Und so setzten sich die berüchtigten Freikorps, die in den antinapoleonischen Kriegen über die Franzosen herfielen, nicht nur aus Jahns turnenden Anhängern zusammen, auch ihr Führer tat sein übriges und übernahm im Freikorps des Freiherrn von Lützow die Ausbildung einiger Volksbefreiungs-Guerilleros.
„Demokratenfresser“ und Bücherverbrenner
Ein weiterer Mythos, der sich hartnäckig am Leben hält, ist der vom Demokraten Jahn. Der Hintergrund für die Mär vom demokratischen „Turnvater“ war seine Zeit als Abgeordneter der im Zuge der Märzrevolution gegründeten Frankfurter Nationalversammlung in den Jahren 1848/49. Als überzeugter Monarchist jedoch saß Jahn für die Erbkaiserlichen, die sogenannte „Casino-Fraktion“, im Paulskirchenparlament, die alles andere wollten, als eine bürgerliche Republik. Sie vertraten vielmehr die Idee der konstitutionellen Monarchie eines preußischen Erbkaisertums, das dann bekanntermaßen mit der Reichsgründung von 1871 verwirklicht wurde. Jahn vertrat alles andere als egalitäre Ansichten, glaubte er doch, dass eine „natürliche notwendige Ungleichheit der Menschen“, diese „von selbst in natürliche Stände“ teilen und „die Menge […] nur im Gefolge der Hoheit“ zählen würde. Sein Vorbild war vielmehr der mittelalterliche Ständestaat, an dem sich auch die erste Generation der Völkischen orientierte, bevor sich mit den Nationalsozialisten innerhalb der völkischen Bewegung die Begeisterung für die Massen Bahn brach. Der „Demokrat“ Jahn trat dementsprechend während seiner Frankfurter Abgeordnetenzeit, neben der Forderung polizeilicher Schritte zum Schutz von Maikäfern, politisch vor allem durch seine Attacken gegen die republikanische Minderheit in Erscheinung. Ein Beispiel hierfür liefert die vom Jahn-Museum gelobte „Schwanenrede“, eine paranoide Hetzschrift, in der er die republikanischen Kräfte als „Abtrünnige der deutschen Sache“ bezeichnet und die Idee einer bürgerlichen Republik mit „Pest und anderen Seuchen“ gleichsetzt. (Besagte Rede kann man übrigens im Museum in einer Ausgabe von 1936 erwerben, in deren Vorwort der Urenkel Jahns Hitler als Erfüller der „von Jahn ersehnte[n] Einheit und Freiheit“ des „deutschen Volkes“ würdigt.)
Doch nicht nur Jahns Ausbrüche im Frankfurter Parlament, die zeitgenössischen Karikaturisten wiederholt Anlass gaben, ihn als „Demokratenfresser“ und „Demokratenvertilger“ vorzuführen, verdeutlichen seine Feindschaft gegen die bürgerliche Republik.7 Eine seiner Hauptforderungen im „Volkstum“ ist die Etablierung eines autoritär-fürsorglichen Volksstaates, dessen oberste Aufgabe in der Erziehung des Einzelnen liegen soll. Vehement stellt er sich gegen die liberale Auffassung, dass „die bürgerliche Gesellschaft nur den Zwecke habe, die natürlichen Rechte und das Eigentum zu sichern“ und fordert die Zurichtung des Einzelnen nach den Erfordernissen des Staates und den Verlust der Staatsbürgerschaft für diejenigen, die in seinen Augen zum Staatsbürger nicht taugen. Und das sind einige. Jahn fordert den Verlust der Bürgerrechte für Juden, die andere bekehren, für Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft geraten, für Glücksspieler, für Zuhälter, für Ehebrecher, für Kriminelle, für Geisteskranke, für Bürger, die eine Ausländerin ehelichen und nicht zuletzt, denn bei Jahn herrscht Heirats- und Kinderzwang, für Junggesellen, die ehe- und kinderlos bleiben wollen. Jahns Hass auf Frankreich war im Wesentlichen ein Hass auf das bürgerliche Recht, hatte doch die preußische Niederlage von 1806/07 nicht nur die Besatzung durch napoleonische Truppen zur Folge, sondern auch die Einführung des „Code civil“ bzw. des „Code Napoléon“ im besetzten Preußen. Als 1817 die durch Jahn und Johann Gottlieb Fichte ins Leben gerufenen Burschenschaften auf der Eisenacher Wartburg das 300. Jubiläum der Reformation und vor allem den vier Jahre zurückliegenden Sieg über Napoleon feierten, fand dann auch ein Ereignis statt, über das die Jahn-Jünger in der Regel erst gar nicht sprechen, zeigt es doch recht eindeutig, welches Verhältnis der „Turnvater“ und seine Anhänger zum bürgerlichen Recht pflegten. Jahn hatte als treibende Kraft hinter dem Wartburgfest Vorbereitungen getroffen, um der Feier zu einem besonderen Höhepunkt zu verhelfen. Eigens hatte er eine Liste mit Büchern zusammengestellt, die als Krönung des Festes von seinen Anhängern während eines Autodafés ins Feuer geworfen wurden. Unter nationalistischen und antisemitischen Schmähreden wurden bei der Wartburger Bücherverbrennung nicht nur Schriften von Autoren vernichtet, die sich gegen die völkische Deutschtümelei der Turner und Burschen richteten.8 Auch ein Exemplar des in den westrheinischen Gebieten Preußens auch nach dem Sieg über Frankreich noch teilweise gültigen „Code civil“ und Schriften von Juristen, die diesen auf deutsche Verhältnisse übertragen hatten, wurden dabei verbrannt.
„Die ersten Schwimmer Europas“
Nun ist dies alles eigentlich längst hinreichend bekannt, und kein ernstzunehmender Historiker bestreitet noch die bedeutende Vorbildfunktion, die Jahn für die völkische Bewegung ausübte. Doch bei keiner Person gehen öffentliche Wahrnehmung und historische Beurteilung so stark auseinander, wie bei Friedrich Ludwig Jahn. Vor allem auf dem Territorium seines damaligen Wirkens wird er nach wie vor als „bedeutender Deutscher“, der sich „eindrucksvoll zur deutschen Einheit bekannte“, gefeiert.9 Nun hat es sich sogar bis zur 1991 gegründeten Freyburger „Friedrich-Ludwig-Jahn-Gesellschaft“ – die für das Jahn-Museum verantwortlich ist und sich „die Pflege der Jahnschen Traditionen“ zur Aufgabe gemacht hat – herumgesprochen, dass eine Verherrlichung völkischer Ideologen in einer Zeit kritischer Vergangenheitsaufarbeitung nicht mehr besonders en vogue ist. Man übt sich also in verzweifelter Heldenrettung und in der Relativierung des Offenkundigen. Besonders verdient hat sich dabei ein emeritierter hallischer Professor für mittelalterliche Geschichte gemacht, der für sein Engagement in Sachen Sport und Jahnscher Traditionspflege vor kurzem mit der „Ehrennadel des Landes Sachsen-Anhalt“ ausgezeichnet wurde. Hans-Joachim Bartmuß, Ehrenvorsitzender und intellektuelles Aushängeschild der Jahn-Gesellschaft, hat es sich für die ihm noch verbleibenden Jahre das Ziel gesteckt, die „keineswegs gerechtfertigt [en]“ aber dennoch „bis heute von vielen Wissenschaftlern und inzwischen auch in breiten Bevölkerungskreisen“ vertretenen Auffassungen über Jahn zu korrigieren.10 Besonders ärgert es Bartmuß, wenn Jahn als Antisemit bezeichnet wird. Dies sei „wissenschaftlich nicht zu vertreten“, denn Jahn könne gar kein Antisemit gewesen sein, da es zu Jahns Lebzeiten gar keinen Antisemitismus gegeben hat, trat dieser doch erst Mitte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung. Bei Jahn und dessen Zeitgenossen könne maximal von einer „latente[n] Judenfeindschaft, für die […] Forscher auch die Bezeichnung ‚Antijudaismus’ verwenden“, gesprochen werden. Nun kann man über die Tauglichkeit des Begriffs des Antijudaismus streiten, die unterschiedlichen Formen des Judenhasses voneinander abzugrenzen und den Wandel vom christlich motivierten Antisemitismus zum rassisch aufgeladenen Antisemitismus der Nazis aufzuzeigen.11 Was der Begriff aber definitiv nicht hergibt, ist, das eine im Vergleich zum anderen niedriger zu hängen und als harmloser darzustellen. Das scheint auch Bartmuß zu ahnen und so gibt es interessanterweise zwei Dinge, über die er sich in seinen Jahnverteidigungsschriften beharrlich ausschweigt. Zum einen war der Antisemitismus zu Jahns Lebzeiten alles andere als latent, sondern vielmehr sehr aktiver Natur, weshalb Bartmuß in seinen Auslassungen die Hep!-Hep!-Pogrome – bei denen im Jahr 1819 flächendeckend in den deutschen Staaten jüdische Wohnviertel und Synagogen gebrandschatzt wurden – gar nicht erst erwähnt, ganz zu Schweigen von der führenden Rolle der deutschtümelnden Professoren- und Studentencliquen um Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Arndt und auch Friedrich Ludwig Jahn bei der Einpeitschung des Mobs. Die zweite Sache, die der rüstige Jahnverehrer unter den Tisch fallen lässt, ist, dass der „Turnvater“ seine gegen die Juden gerichteten Hasstiraden keineswegs religiös begründet. Jahn arbeitet eben nicht mit dem Gegensatzpaar Christ und Jude, sondern bringt explizit die Deutschen gegen die Juden in Stellung. So zum Beispiel, wenn er dem „Kaufmann alle […] Deutschheit“ abspricht und ihn mit „dem Schacherjuden“ gleichsetzt. Bartmuß scheint wenig auf die Tauglichkeit seiner Rettungsversuche zu vertrauen, weshalb er zusätzlich dann auch mit sämtlichen Registern impertinentester Relativierungsversuche aufwartet, um Jahn aus dem braunen Sumpf zu ziehen, in den er gehört. Zähneknirschend räumt er zwar Jahns „gelegentlichen, fast (!) stereotypen Äußerungen über die Juden“ ein, betont aber, als hätte Hitler dies nicht auch getan, dass „Jahn […] in seinen Schriften lediglich das auf[nimmt], was im gesellschaftlichen Diskurs von anderen bereits vorweggenommen war“. Vielleicht teilt er aber auch Jahns Weltanschauung, ist doch sein einziger Kritikpunkt am „Turnvater“, dass dieser „die Ablehnung von ‚Ausländerei’, insbesondere von Franzosen- und Judentum, extrem übersteigerte“ 12. Demzufolge scheint Bartmuß keine Einwände gegen Fremden-, Juden- und Franzosenhass zu haben, solange man es eben nicht übertreibt. Vollends den Vogel schießt der Professor ab, wenn er meint, Jahn könne gar kein Antisemit gewesen sein, da er sich, „als er in Frankfurt kurze Zeit erkrankt war, […] nicht von irgendeinem Arzt, sondern von […] einem Juden […] behandeln“ ließ.
Vielleicht tut man den ostdeutschen Jahnjüngern Unrecht, wenn man ihre Begeisterung für den „Turnvater“ auf das autoritäre Bedürfnis nach Volk, Vaterland und mutig zur Tat schreitenden Nationalhelden zurückführt. Vielleicht gibt es für die ungebrochene Jahnbegeisterung, zumindest für die an der Saale, auch noch ganz andere Gründe, erkannte doch kein geringerer als der „Turnvater“, welch großes Potential im gemeinen Hallenser schlummert. Denn schließlich, so Jahn, hatten „wir Deutschen […] die ersten Schwimmer Europas, die Halloren, ein vaterländisch gesinntes Geschlecht“. Daher wollte Jahn, „bei Kolberg ein Neu-Halle anlegen und ein Stämmlein Halloren an die Persante verpflanzen“, um auch in Polen dem deutschen „Volkstum“ zu neuer Lebenskraft zu verhelfen. So oder so besteht wenig Hoffnung, dass ostdeutsche Sportlehrer in nächster Zeit damit aufhören werden, die ihnen anvertrauten Zöglinge mit Barren, Pferd und Schwebebalken zu quälen und, als sei dies nicht schon schlimm genug, ihnen dabei auch noch mit einem „frisch-fromm-fröhlich-frei“ den Sportunterricht vollends zu vergällen.
Knut Germar
Anmerkungen:
1 Udo Grashoff: Hallesche Originale aus 1200 Jahren. Halle a. d. Saale 2006.
2 Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volkstum. Berlin 1991. So nicht anders gekennzeichnet, entstammen alle im Text verwendetet Jahn-Zitate daraus.
3 Peter Hacks: Ascher gegen Jahn. Ein Freiheitskrieg. Berlin 1991.
4 Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Bd. 6. Emanzipation und Rassenwahn. Worms 1987.
5 Es ist nicht nur die Bestimmung des Volkes über das Blut, der deutsche Sendungs- und Heilsauftrag und der Antisemitismus, die Jahn zum Vordenker der völkischen Bewegung machen. Neben Betrachtungen über die „nachartende Schädelbildung einzelner Völker“ und „den Boden, wo das Volkstum festwurzeln soll“, birgt sein Buch bereits die völkische Kampfansage an die Künstlichkeit der Zivilisation, gegen die er das „einfache Leben“ in Anschlag bringt. Er wettert gegen „Großstädterei“ und Kosmopolitismus, huldigt germanischem Brauchtum, wünscht sich die Wiedererweckung eines gegen „die jüdischen Priester“ gerichteten „Urchristentums“ usw. usf.
6 Zit. nach: Poliakov 1987.
7 So sind dann auch die Karikaturen das einzig Sehenswerte im Freyburger Jahn-Museum, sagen sie doch mehr über den jahnschen Wahn aus, als die ganze Ausstellung, die eifrig darum bemüht ist, ihm ein patriotisches Denkmal zu errichten.
8 So fiel beispielsweise die gegen Arndt, Jahn und Fichte gerichtete „Germanomanie“ des Schriftstellers Saul Ascher den Flammen zum Opfer. Aschers Buch wurde vom Studenten und Jahnfreund Hans Ferdinand Massmann mit folgenden Worten ins Feuer geworfen: „Wehe über die Juden, so da festhalten an ihrem Judentum und wollen über unser Volkstum und Deutschtum schmähen und spotten!“. Zit. nach: Hacks 1991.
9 Zit. nach: http://www.jahn-musem.de
10 Alle Zitate von Bartmuß so nicht anders gekennzeichnet aus: Hans-Joachim Bartmuß: Ascher gegen Jahn. Ein Freiheitskrieg? Antisemitismus und Nationalismus im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Bremen 2004. Nachzulesen unter: http://www.jahn-museum.de/texte/Ascher.pdf
11 Problematisch am Begriff des Antijudaismus ist, dass er eine Zäsur zwischen dem christlichen und dem nazistischen Antisemitismus setzt, die es in dieser Form gar nicht gab, und dass er den Blick auf vorhandene Kontinuitäten verstellt, wenn nicht sogar leugnet.
12 Hans-Joachim Bartmuß: Der Schöpfer des „deutschen Turnens“. Friedrich Ludwig Jahn und die Universität Halle. In: scientia hallensis 4/2001. Nachzulesen unter: http://www.verwaltung.uni-halle
[…] Germar erläutert auf dem Webblog Bonjour Tristesse aus Halle, warum Jahn, der dort geboren wurde, entgegen der landläufigen Meinung weder Sportler […]
Ja, ja der Pangermanismus ist nicht auszurotten. Jetzt kommt er sogar in Reiseführern wieder scheinbar ganz harmlos daher.
[…] Wenn es um Nazis in Deutschland geht, gibt es zwei offizielle geschichtspolitische Linien: heutige Nazis gelten generell als böse. Aber unter den historischen Nazis versteckte sich der ein oder andere gute Junge, weshalb noch heute nicht wenige Straßen, Kasernen und Schulen nach Altnazis benannt sind. Einer dieser braunen Arschlöcher trägt den Namen Carl Diem und gilt als der „Gründungsvater des organisierten deutschen Sports“. Ebenso wie der Antisemit und Mitbegründer der nationalistischen Turnbewegung Friedrich Ludwig Jahn (1,2). […]