In Insel, einem sehr kleinen Dorf in der Nähe des altmärkischen Stendal, regt sich seit Monaten Widerstand gegen neue Nachbarn. Zwei aus der Haft entlassene Sexualstraftäter sollen sich dem Willen der Ureinwohner des Dorfes beugen und wieder verschwinden. Frank Roßlau und Mandy S. Dzondi über den Verfolgungseifer der Insulaner und dessen Folgen.
Wenn sich im Herbst in Insel, einem gottverlassen Dorf im nördlichen Sachsen-Anhalt, zweihundert Leute versammeln, kann das eigentlich nur bedeuten, dass die Erntekönigin gewählt wird. Die Stimmung war durchaus ausgelassen, die Menschen scherzten, lachten und tauschten sich über den neuesten Dorfklatsch aus. Allein eines wollte nicht ins Bild passen: Es gab weder ein Festzelt noch einen Bierausschank. Statt eines Rahmenprogramms mit Dankesgaben, einer Erntekrone und dem Frönen von Goldkronegenuss standen die Insulaner mit umgehängten Plakaten herum und lärmten mit Kochgeschirr. Inselbewohner sowie ihre Anverwandten und Bekannten, einschließlich der regionalen Nazi-Kameradschaft, fanden sich regelmäßig zu den Kundgebungen ein, die im Spätsommer und Herbst 2011 stattfanden. Der Anlass für die Versammlungen war der gemeinsame Kampf gegen zwei Sexualstraftäter, die angeblich den Frieden des Ortes störten. Und so sammelte man sich gemeinsam hinter Transparenten mit der Aufschrift „Todesstrafe für Kinderschänder“.
Der Hintergrund
Ende Juli 2011 zogen zwei entlassene Straftäter ins Dorf, und einige Wochen später war „durchgesickert“, dass beide Männer wegen Vergewaltigungen von Frauen in den 1980er Jahren verurteilt wurden, wie die Lokalzeitung „Volksstimme“ schrieb. Nach der jeweils fünfjährigen Haft kamen beide in Sicherungsverwahrung in Baden-Württemberg, bis diese im vergangenen Jahr vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für rechtswidrig erklärt wurde. Zunächst überwachte die Polizei die 54- und 64-jährigen Männer, die im Oktober 2010 freikamen. Nach sieben Monaten urteilte laut dem „Schwäbischen Tagblatt“ das Landeskriminalamt Baden-Württemberg in Abstimmung mit Behörden, Justiz und Polizei, dass „kein herausragendes Gefahrenpotenzial mehr“ besteht, da die Ex-Häftlinge eine Therapie gemacht und sich „vorbildlich“ verhalten hätten. Während der Sicherungsverwahrung lernten sie den Tierarzt ihrer Wellensittiche, Edgar von Cramm, kennen. Er überließ ihnen sein ererbtes Haus in der Gemeinde Insel. Doch die Dörfler vergönnten den Männern ihren Neuanfang im Osten. Einige Wochen nach dem Umzug begannen die Proteste. Rund um die Uhr ist seitdem ein Streifenwagen für den Schutz der beiden Männer vor ihrem Haus postiert. Nur wenige Tage nachdem die Dorfgemeinschaft von der Vergangenheit der Zugezogenen erfahren hatte versuchten einige Engagierte, die sich entsprechend Mut angetrunken hatten, das Haus anzuzünden.
Die Mehrheit der altmärkischen Wutbürger beließ es bei weniger handfesten Aktionen. Von Unterschriftensammlungen bis zu eilig einberufenen Einwohnerversammlungen wurde all das aufgeboten, was an Bürgerbeteiligung von Sozialkundelehrern immer gefordert wird. Die wütenden Appelle mit Schildern wie „Die Politik hat versagt“ richteten sich dabei nur vermeintlich gegen die Landesregierung. Die Insulaner fühlten sich „im Stich gelassen“, wie der Ortsbürgermeister Alexander von Bismarck immer wieder betonte, und wollten aus Magdeburg Unterstützung für ihren Unmut erhalten. Die Staatsgewalt sollte das Treiben in Insel legitimieren, in welcher Form auch immer. Nur in diesem Fall hätten sich mehr als ein paar Säufer zusammengefunden, um den Volkswillen zu vollstrecken.
Seitens der sachsen-anhaltischen Landesregierung ging man zunächst erfreulich wenig auf die Forderungen der frischgebackenen Volksbegehrer ein. Justizministerin Angela Kolb erinnerte daran, dass es gesetzlich vorgeschrieben ist, den Entlassenen „eine Chance auf Resozialisierung“ zu geben. Außerdem kritisierte sie laut der „Mitteldeutschen Zeitung“, dass die „Menschen nicht bereit sind, die Menschenwürde der Betroffenen zu achten“. Der deutliche Hinweis, dass Grundrechte wie die freie Wahl des Wohnorts selbst in der Altmark nicht ohne weiteres außer Kraft gesetzt werden können, konnte die Insulaner keineswegs besänftigen. Angeführt von Bürgermeister von Bismarck verstärkten sie ihre Proteste und kündigten an, solange zu demonstrieren, bis „Insel von dieser Belastung“ befreit sei.
Sieg der Dorfstraße
Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte das Trauerspiel, als eine Vielzahl von Medien – angefangen von der „Altmark-Zeitung“ bis hin zu den „Tagesthemen“ der ARD – über die Proteste berichtete und mehrere Journalisten zu jeder Kundgebung anreisten. Auch die „Kameradschaft Salzwedel“ rückte Ende Oktober mit siebzig Deppen an. Nachdem die Dorfbevölkerung einträchtig mit den Kameraden gegen die Sexualstraftäter demonstriert und Bürgermeister von Bismarck vor laufender Kamera des MDR-Fernsehens die Kameraden herzlich im Kreise der Protestierer begrüßt hatte, nahm sich Landesinnenminister Holger Stahlknecht der Sache persönlich an. Hatte die Landesregierung bis dahin noch zaghaft darauf bestanden, dass die beiden Freigelassenen ihren Wohnort selbst wählen können, wenn sie die verhängten Bewährungsauflagen befolgen, rief Stahlknecht nun zum Krisengipfel. Nur vier Tage nach der genannten Demonstration mussten die beiden Männer eine Einverständniserklärung unterschreiben, das Dorf zu verlassen. Als Gegenleistung sollte von weiteren Demonstrationen abgesehen werden. Selbst die bis dahin nur zurückhaltend berichtende „Mitteldeutsche Zeitung“ titelte am nächsten Tag, halb beeindruckt, halb dämonisierend: „Sieg der Straße“. Auf die Nachfrage der Zeitung an den Innenminister, ob mit diesem Vorstoß nicht die Straße – respektive der Mob – über die Resozialisierung gesiegt habe, wollte Stahlknecht nur „die menschliche Vernunft“ am Werke sehen. Kaum hatte sich der einfache Dorfmob gemeinsam mit den offen bekennenden Nazis in ausreichend großer Zahl versammelt, fanden seine Forderungen Gehör. Zwar erhielten die Insulaner kein Signal, dass beim Losschlagen auf das begehrte Objekt die Polizei ruhig zusehen würde. Aber ganz ähnlich den Zuständen Anfang der 1990er Jahre, als das Asylrecht de facto abgeschafft wurde, reagierte Stahlknecht auf die Masse und lenkte ihren Willen in administrative Bahnen.
Anders als zu Beginn der 1990er Jahre sorgte das Vorgehen des Innenministers sorgte weder in der Regierung noch bei der Opposition für einhellige Zustimmung. Parallel zu den Erfolgen der Insulaner zeigte sich die Landespolitik bestürzt. Die Oppositionsparteien warfen der großen Regierungskoalition im Landtag vor, das Prinzip der Resozialisierung dem Willen der Straße geopfert zu haben. Alle im Landtag vertretenen Fraktionen verabschiedeten einen Beschluss, mit dem ausgedrückt werden sollte, dass die Resozialisierung grundsätzlich eine feine Sache sei und die Grundrechte in Sachsen-Anhalt weiter erwünscht seien. Wann diese Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, legen bis auf weiteres Dorf-Mob, im Wechselspiel mit Innenminister und Neonazis, fest.
„Insel der Verlierer“
Bei allem Erfolg in der Sache, recht glücklich werden die Insulaner wohl nicht mit ihrem Sieg werden. Die große Einigkeit, die die Bevölkerung allwöchentlich auf die Straße und in das Versammlungshaus getrieben hat, wird schon bald, nachdem die gefährlichen Eindringlinge vertrieben sind, dem üblichen Hass auf den Nachbarn und der unendlichen Langeweile des Dorfalltags weichen. Selbst ein Kommentator des Nachrichtenradios „MDR-Info“ kam unter dem Titel „Insel der Verlierer“ zu dem Schluss, dass die verfolgungswütigen Demonstranten ihre niedrigsten Instinkte zur Schau gestellt hätten. Schließlich würden nun die beiden Männer, die Medien und auch das (öffentliche) Interesse das Dorf verlassen, und die Insulaner blieben wieder mit sich allein.
Die Anwesenheit der beiden verurteilten Sexualstraftäter war die große Zeit eines völlig bedeutungslosen Ortes und seiner Bewohner. Für einige Monate konnten sämtliche Kriegsbeile begraben bleiben. Niemand sah sich genötigt, den nicht gefegten Fußweg des Nachbarn mit dem Vergiften von dessen Katze zu beantworten. Die freizügige Kleidung der Dorf-Schönheiten konnte einstweilen ignoriert werden, und der regelmäßig neu bestimmte Posten des schlimmsten Dorfschädlings blieb für diese Zeit besser besetzt. Es herrschte für einige Monate jene große Einigkeit, die sich sonst nur bei großen Naturkatastrophen oder anderen Schützengraben-Erlebnissen einstellt.
Verschiebung und Identifikation
Die Dorfbewohner interessierte nicht, dass die beiden Männer keine Kinder missbraucht, sondern Frauen vergewaltigt hatten. Diese verschobene Angst, die keinen Bezug zu den konkreten Taten der Entlassenen hatte, hatte vielmehr Gründe, die im Innenleben des Dorfes zu verorten sind. So hatte eine Insulanerin der „Stuttgarter Zeitung“ berichtet, dass ihre damals elfjährige Tochter vor einigen Jahren von einem Dorfbewohner sexuell missbraucht worden war. Andere Dorfbewohner rieten ihr damals von einer Anzeige gegen den Jungen ab. Begründung: Seine Zukunft sollte nicht zerstört werden. Diejenigen, so die Frau, die ihr damals abgeraten hätten, befänden sich nun unter den aktuellen Protestlern. Das identitätsstiftende Moment der Dorfgemeinschaft verbot es damals, den Täter zu verfolgen, ohne sich damit selbst zur Zielscheibe zu machen. Mit diesem von außen kommenden „Fremdkörper“ fand sich ein Objekt, an dem der in der Vergangenheit unterdrückte Wille zur Verfolgung ohne Hemmungen ausgelebt werden konnte, ohne das eigene Weltbild einer Revision unterziehen zu müssen. Mittels dieser kollektiven Verschiebung versuchten die Insulaner die unausgetragenen Konflikte in ihrem Kaff zu beseitigen und den Dorffrieden wiederherzustellen.
Trotz der Aufmunitionierung mit wohlig schaudernden Phantasien über die abscheulichsten, aber nicht stattgefundenen Verbrechen, konnte sich der Mob nicht bis zum Äußersten durchringen. Die Erfüllung durch das kollektive Lynchen blieb ihm verwehrt. Mag das Einknicken der Landespolitik vor den Dorfbewohnern ein kleiner Sieg über „die da oben“ gewesen sein, die Vollstreckung eines Lynchmords kann es jedoch kaum ersetzen. Glücklicherweise warteten die Insulaner vergeblich auf den entscheidenden Fingerzeig der Autoritäten, ohne den der Wunsch loszuschlagen unerfüllt bleiben musste. Ohne zumindest zeitweilig die Sicherheit einer Billigung durch die staatliche Autorität zu haben, fehlte dem Mob die entscheidende Kraft. Als Ausdruck der Hoffnung, dass Andere das vollenden, was in Insel begonnen wurde, kündigten die Dorfbewohner an, jeden neuen Wohnort der beiden Männer umgehend zu denunzieren.
Bereits beim Erreichen der ersten Protesterfolge, wurde jedoch auch deutlich, dass die herbeigesehnte Einheit nicht vollständig erreicht werden konnte. So wurde in einigen Zeitungsberichten angedeutet, dass manche Einwohner bereit sind, sich der Verfolgungsgemeinschaft zu entziehen. Von einer geplanten Gegendemonstration und vorsichtigen Kontaktaufnahmen zu den Ex-Häftlingen wurde berichtet. Die Verräter der bekennenden Dorfgemeinschaft sind also schon bekannt, der künftige Feind ist identifiziert.
Frank Roßlau und Mandy S. Dzondi
Die Wutbürger rebellieren weiter:
http://www.volksstimme.de/nachrichten/lokal/stendal/830136_Kein-Rueckzug-nach-Wegzug-In-Insel-wird-weiter-demonstriert.html
http://www.volksstimme.de/nachrichten/lokal/stendal/831734_Sucht-das-Gespraech-Jeder-kann-bei-mir-klingeln.html
„Anders als zu Beginn der 1990er Jahre sorgte das Vorgehen des Innenministers sorgte weder in der Regierung noch bei der Opposition für einhellige Zustimmung.“
Auch wenn es schon etwas her ist, könnte das evtl. geändert werden? Ansonsten sehr guter Artikel, vielen Dank.
[…] fallweise massiv durch neonationalsozialistische „Freie Kameradschaften“ angestachelten Mob im altmärkischen Dorf Insel, der alle Register gezogen hatte, um zwei aus der Haft entlassene verurteilte Sexualstraftäter, […]
[…] fallweise massiv durch neonationalsozialistische „Freie Kameradschaften“ angestachelten Mob im altmärkischen Dorf Insel, der alle Register gezogen hatte, um zwei aus der Haft entlassene verurteilte Sexualstraftäter, […]