Wenn deutsche Linke vor dem Hintergrund des 8. Mai 1945, des Tages, an dem die deutsche Generalität bedingungslos kapitulierte, ihren Pazifismus und Antimilitarismus entdecken, dann solidarisieren sie sich nachträglich mit denen, die Pazifismus und Antimilitarismus ein für alle mal diskreditiert haben. Die Bonjour Tristesse möchte ihren Lesern den Vortrag nicht vorenthalten, der Anfang Mai im Veranstaltungsraum der Ludwigstraße, eines linken Zentrums in Halle, gehalten werden sollte, vom Zentralkomitee des Vereins nach anfänglicher Zusage vier Tage vorher verboten wurde (Motto: Was interessiert uns unser dummes Geschwätz von letzter Woche) und schließlich in gekürzter Form bei einem öffentlichen Treffen der AG Antifa vor etwa 60 Zuhörern vorgetragen werden konnte.
„Der Krieg wird nicht unnötig
Wenn er nicht geführt wird
Sondern nur, wenn er unnötig ist
Braucht er nicht geführt zu werden“
(Bertolt Brecht)
Der Hintergrund der heutigen Veranstaltung dürfte allen bekannt sein. Darum nur ein paar Stichworte: Die größte hallische Antifa-Gruppe – die sich unverständlicherweise immer noch „Jugendantifa“ nennt, obwohl ein Großteil ihrer Mitglieder längst älter ist, als es die Stammtischantifaschisten aus der Ludwigstraße oder dem „GiG“ waren, als sie sich in Richtung Theke, „schöner Wohnen für Ex-Autonome“ oder „Leben im Einklang mit der Natur“ zurückzogen – wollte aus Anlass des 8. Mai eine Party in der Ludwigstraße veranstalten. Das Zentralkomitee der Ludwigstraße, das seine Räumlichkeiten sonst jedem Idioten überlässt, wollte die Veranstaltung allerdings nicht in seinen heiligen Hallen stattfinden lassen und verbot das Ganze. Nun lässt sich zwar bestens darüber streiten, ob der 8. Mai tatsächlich als Anlass für eine große Party mit Cocktail-Lounge, Spanferkel und Billigbier taugt. So stehen die Unterzeichnung der Kapitulationsurkunden in Reims am 7. und in Berlin-Karlshorst am 8. Mai 1945 ganz ohne Zweifel für einen Sieg der Menschheit über die Barbarei, weshalb die Menschen in Paris, Prag, Amsterdam, New York usw. an diesem Tag aus gutem Grund auch spontan auf die Straßen gingen und feierten. (Nur die Deutschen wollten sich nicht so richtig freuen und trauerten stattdessen lieber um Hitler, die Dresdner Frauenkirche oder die schöne, aber leider verlorene Heimat Schlesien.) Allerdings ist die Zeit, in der spontan Kriegsende gefeiert werden konnte, seit genau 65 Jahren vorbei. Soll heißen: Es ist inzwischen bestens bekannt, was die Menschen in Paris, Prag, Amsterdam, New York usw. auch schon 1945 verdrängen mussten, um überhaupt feiern zu können – und was sie in der Freude des Augenblicks wohl auch verdrängen konnten: (1.) was den Kampf gegen die Deutschen erst nötig gemacht hatte und (2.) wie hart dieser Sieg erkämpft werden musste. Einige Stichworte: drei Millionen Vermisste, 35 Millionen Verwundete, 55 Millionen Tote – davon 20 Millionen Sowjetbürger (rund zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung), sechs Millionen Polen (rund 17 Prozent der Gesamtbevölkerung), eine knappe Million Franzosen, sechs Millionen Juden aus fast allen europäischen Ländern usw. Wieland Herzfelde, der Gründer des „Malik-Verlages“ und Bruder John Heartfields, des Erfinders der Fotomontage, berichtet in seiner Autobiografie von einem Zusammentreffen von Emigranten und Widerstandskämpfern aus den späten 1940er Jahren, bei dem, anders als es der „Jugendantifa Halle“ wohl für ihre Party vorschwebte, keine richtige Stimmung aufkommen wollte: Eine jüdische Genossin, die einige Zeit zuvor aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland zurückgekommen war, sollte eine Festrede halten: „Sie erhob sich, unsicher, scheu. Sekundenlang sah sie ratlos auf nichts, dann öffneten sich langsam ihre Lippen. […] Ihre Stimme begann dunkel zu werden. ‚Verzeiht mir, Genossen, vielleicht könnt ihr mir …‘ […] wie ein schwacher, letzter Schrei kam es aus ihrer Brust, während Tränen sich in ihren Augen stauten: ‚Sie haben alle ermordet. Den Vater. Die Mutter. Die Freunde. Die Schwester!‘ Da sank sie vornüber. Zwischen den Blumen auf der Festtafel, vor den hilflos zuckenden Schultern, lag, verhüllt vom braunen Haar, ihr Kopf auf dem weißen Tischtuch.“ In dieser kurzen Passage verdichtet sich die Problemstellung des 8. Mai 1945 fast parabelhaft: Denn so sehr gegen die letzten drei Nationalkonservativen hierzulande betont werden muss, dass die Befreiung vom Nationalsozialismus ein Segen für die Menschheit war, so sehr ist doch zu bezweifeln, dass es richtig ist, auf 55 Millionen Gräbern zu tanzen.
Um solche – durchaus notwendigen – Diskussionen unter Gleichgesinnten ging es dem Plenum der Ludwigstraße bei seinem Verbot allerdings nicht. Das Zentralkomitee des Hauses störte sich nicht an Fragen der Pietät, sondern an den Fahnen der Alliierten, die im letzten Jahr bei der 8.-Mai-Party der Jugendantifa gezeigt worden waren, und einer vermeintlichen Verherrlichung des Militärs. Es entdeckte ausgerechnet vor dem Hintergrund des 8. Mai seinen Pazifismus, seinen Antimilitarismus und seine Liebe zur nationalfahnenbefreiten Zone.
„Nie wieder Krieg!“
Während des Zweiten Golfkrieges 1991, des großen traumatischen Erlebnisses der deutschen Traditionslinken, erklärten Arno Klönne und Klaus Vack, zwei der bedeutendsten deutschen Friedensgurus, dass die Parole „Nie wieder Krieg!“, der Schlachtruf aller deutschen Pazifisten, auf den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges basiere: „Das Erleben und Überleben hat uns dazu gebracht, ‚Nie wieder Krieg‘ zur Linie politischen Handelns zu machen.“ Mit dieser Aussage hatten Klönne und Vack gleichzeitig Recht und Unrecht: Sie hatten Recht, weil die Formel „Nie wieder Krieg!“ tatsächlich für eine der zentralen „Linien des politischen Handelns“ der deutschen Linken nach 1945 steht. Und sie hatten Unrecht, weil diese Parole selbst nicht so sehr auf den Zweiten Weltkrieg verweist. Mit ihr wird vielmehr die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg simuliert. Denn anders als es gerade von Linken immer wieder behauptet wird, stammt die Formel „Nie wieder Krieg!“ nicht aus dem Schwur von Buchenwald. (Dort taucht sie nicht einmal auf.) Sie wurde stattdessen schon 1920 vom „Friedensbund der Kriegsteilnehmer“, einer der ersten größeren pazifistischen Organisationen in Deutschland, die kurz zuvor von Karl Vetter, Kurt Tucholsky, Otto Lehmann-Rußbüldt usw. gegründet worden war, ausgegeben. So erinnert der Erste Weltkrieg im Unterschied zum Zweiten Weltkrieg tatsächlich an ein wechselseitiges Blutbad weitgehend – und hierauf liegt die Betonung – austauschbarer Maschinerien; die Blutpumpe von Verdun oder das Gemetzel an der Somme stehen für ein sinnloses Massenschlachten, dessen Ende weitgehend unabhängig vom gerade aktuellen Frontverlauf zu wünschen gewesen wäre. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung des sinnlosen Sterbens im Trommelfeuer, im Schützengraben und im Drahtverhau schrieb Tucholsky 1931 seine berühmte Formel „Soldaten sind Mörder“: „Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.“
The Times are changing
Im Unterschied zum Ersten Weltkrieg war der Zweite Weltkrieg allerdings kein sinnloses, wechselseitiges Massenschlachten weitgehend austauschbarer bewaffneter Haufen. Durch Auschwitz wurden die Welt und die Begriffe, in denen sie gedacht werden muss, entscheidend verändert. Mit Auschwitz war nicht nur gezeigt worden, dass es Schlimmeres als Krieg geben kann. Angesichts von Auschwitz und angesichts der Soldaten, die das Lager Ende Januar 1945 befreiten, erwiesen sich Armee und Krieg, wie Wolfgang Pohrt einmal bemerkte, als die wahren „Sachwalter und Vollstrecker der Menschlichkeit“. „Wenn jemals ein Krieg gerechtfertigt war“, so auch Dan Diner, „dann der Krieg gegen Hitler. […] Welche andere Möglichkeit des Einwirkens bestand einem wild entschlossenen Diktator gegenüber als die Androhung von Gewalt?“ Die Lager wurden nicht von friedfertigen Pazifisten, Baum-Umarmern und Pace-Taschen-Trägern, sondern von den Hassfiguren der Antimilitaristen und Pazifisten befreit: von Soldaten. Mit anderen Worten: Wenn Kurt Tucholsky vor dem Hintergrund der Erfahrung des Ersten Weltkrieges jeden Soldaten, unabhängig von seinen konkreten Taten, qua Beruf als Mörder bezeichnet, wäre es vor dem Hintergrund von Auschwitz nur richtig, diese Parole gegen diejenigen zu wenden, die nicht nur daran gescheitert sind, den Deutschen Einhalt zu gebieten und Auschwitz zu befreien, sondern es nicht einmal versuchten: gegen die Appeasement-Politiker, die, in den Worten Winston Churchills, „die Schande“ (der Zusammenarbeit mit Hitler, der Auslieferung der Tschechoslowakei an die Nazis usw.) auf sich genommen haben, „um den Frieden zu retten“; die deutschen Pazifisten, die sich zu blöde anstellten, auch nur einen Nazi zu entwaffnen; oder die Linken, die gegen den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg trommelten, weil die Roosevelt-Regierung nur „eigene imperialistische Interessen“ verfolgen würde oder Kriege „immer schlecht“ seien. Genau darauf zielt Heiner Geißlers so oft skandalisierter Ausspruch von 1983 – eine Reaktion auf Joschka Fischers Gleichsetzung von Auschwitz und Nato-Doppelbeschluss –, der deutlich zeigt, dass ein nonkonformistischer Konservativer gelegentlich schlauer als ein konformistischer Linker ist: „Der Pazifismus der 30er Jahre, der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis nehmen müssen, dieser Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht.“
Zumindest ein Teil der Pazifisten und Antimilitaristen der 1920er und frühen 1930er Jahre erwies sich allerdings ebenfalls als schlauer und weniger erfahrungsresistent als die konformistische Linke von heute. Nach dem Reichstagsbrand, der Errichtung der ersten Konzentrationslager und der Verabschiedung des „Gesetzes zum Schutz von Volk und Staat“ setzten die damaligen Pazifisten und Antimilitaristen ihre Hoffnung zunächst fast strömungsübergreifend auf einen Aufstand der Deutschen gegen die Nazis: nach Möglichkeit gewaltfrei, mit Blumen im Haar und mit Wandergitarre. Als die Sitzblockaden und das massenhafte Anketten vor dem Lagertor von Buchenwald ausblieben, wanderte ein Teil der Pazifisten und Antimilitaristen, ebenso wie unzählige andere Nazigegner, die Deutschland nach 1933 verlassen mussten, in ein, wie Walter Loeb und Curt Geyer 1942 erklärten, „German Wonderland“ aus. Soll heißen: Während der alliierte Krieg gegen die geliebte Heimat auch weiterhin als Teufelszeug galt, wurde der deutsche Widerstand in die Phantasie verlagert: Kommunisten und Sozialdemokraten sprachen von antifaschistischen deutschen Untergrundarmeen, der „oppositionellen SA“ oder, wie vor einiger Zeit auch noch einmal die DKP Halle auf einem ihrer grandiosen Aufkleber, dem „Klassencharakter des Nationalsozialismus“ – ergo: der heldenhaften deutschen Arbeiterklasse, die die Nazis so tief im Untergrund bekämpft hat, dass es niemand bemerkt hat.
Andere bekannte Pazifisten der 1920er Jahre erkannten im Unterschied dazu allerdings schon angesichts der Appeasement-Politik der Jahre 1937 ff., als der Westen die Tschechoslowakei den Nazis preisgab, dass Krieg die Menschheit manchmal vor Schlimmerem bewahren kann. Ganz in diesem Sinn engagierten sich Freunde Tucholskys wie Otto Lehmann-Rußbüldt, der 1920 zu den Mitbegründern des „Friedensbundes der Kriegsteilnehmer“ gehört hatte, bald, nachdem die Westmächte ihren Fehler erkannt hatten, an der Seite der alliierten Armeen gegen Nazideutschland. Lehmann-Rußbüldt arbeitete im Umfeld der „Fight-for-Freedom“-Gruppe, eines Zusammenschlusses früherer Sozialdemokraten und Sozialisten, die im britischen Exil auf Distanz zu den emigrierten Deutschlandfreunden der SPD, der SAP oder der Gruppe „Neu Beginnen“ gegangen waren. Tucholsky selbst konnte eine solche Kehrtwende nicht mehr vollziehen; er hatte sich schon 1935, u. a. aus Verzweiflung über die Machtübernahme der Nazis und den damit verbundenen Autismus der Linken, das Leben genommen: „Man hat eine Niederlage erlitten“, so erklärte er kurz vor seinem Selbstmord. „Man ist so verprügelt worden, wie seit langer Zeit keine Partei. Nun muss, auf die lächerliche Gefahr hin, dass das ausgebeutet wird, eine Selbstkritik vorgenommen werden, gegen die Schwefellauge Seifenwasser ist.“
Auch die Überlebenden von Buchenwald, denen aufgrund ihres Lebens im Vorhof der Hölle jede Dummheit zu verzeihen wäre, hatten mehr historische Urteilskraft als das Zentralkomitee der Ludwigstraße 65 Jahre später. Im Schwur von Buchenwald, auf den sich jeder linke Trottel, vom Pazifisten bis zu den Freunden des „bewaffneten Kampfes“ beruft, ohne ihn zu kennen, heißt es wortwörtlich: „Wir danken den verbündeten Armeen der Amerikaner, Engländer, Sowjets und allen Freiheitsarmeen, die uns und der gesamten Welt Frieden und das Leben erkämpfen. Wir gedenken an dieser Stelle des großen Freundes der Antifaschisten aller Ländern, eines Organisatoren und Initiatoren des Kampfes um eine neue, demokratische, friedliche Welt. F. D. Roosevelt. Ehre seinem Angedenken.“ (Roosevelt war wenige Tage zuvor gestorben.)
Die linke Volkssturm-Perspektive
Denjenigen, die den Schwur von Buchenwald im April 1945 nachsprachen, war mit anderen Worten durchaus bewusst, was sich viele Linke auch heute noch zu begreifen weigern: Gerade der Krieg, vor dessen Hintergrund die deutsche Linke die Losung „Nie wieder Krieg“ im großen Rahmen für sich entdeckte, wurde von alliierter Seite mit dem größten Recht der Geschichte geführt. Es waren ausgerechnet die Deutschen: die Omas und Opas all der Sveddys, Eddys und Freddys, die den Pazifismus jetzt am linken Stammtisch für sich entdecken, die diesen Pazifismus ein für allemal diskreditierten.
Nett formuliert, steht die Parole „Nie wieder Krieg!“ für einen Blick auf den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, der weder die Besonderheiten des Nationalsozialismus noch des Zweiten Weltkrieges wahrzunehmen imstande ist. Auch hier nur ein paar Stichworte: der Vernichtungskrieg der Wehrmacht, das „Bündnis von Mob und Elite“, die Begeisterung bei der Frage „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ und nicht zu vergessen: Auschwitz, Treblinka, Chelmno, Sobibor und Majdanek. Mit weniger Rücksicht auf den linken Stammtisch, den WG-Konsens oder das Familienerbe ist allerdings auch eine andere Formulierung möglich. Auch das verdeutlichen die beiden Friedensbewegungs-Häuptlinge Arno Klönne und Klaus Vack. So heißt es in ihrem bereits zitierten Text von 1991 vollständig: „Menschen aus unserer Generation – und wir unter ihnen –, die in den fünfziger Jahren die Protestbewegung gegen die Wiederbewaffnung in Deutschland in Gang brachten, die später die Kampagne gegen die atomare Rüstung und dann die ersten Ostermärsche organisierten, frönen keinem abstrakten, sondern sind geleitet von einem auf Erfahrungen gegründeten politischen Pazifismus. Wirksam wurde für uns die Erfahrung des Krieges. Das Erleben und Überleben hat uns dazu gebracht, ‚Nie wieder Krieg‘ zur Linie politischen Handelns zu machen. Wir hatten begriffen, wie menschenverachtend so genannte Ideale sein können. Wir trauten keiner Politik mehr über den Weg, die um irgendwelcher ‚Ordnungsvorstellungen‘ willen das Leben von Massen von Menschen riskiert.“ Hier beklagen sich mit anderen Worten zwei Hitlerjungen darüber, dass ihre hehren Ziele und Ideale von den Nazis missbraucht worden seien: „Wir hatten begriffen, wie menschenverachtend so genannte Ideale sein können.“ Um zu begreifen, dass es „menschenverachtend“ ist, von „Deutschland über alles“, von slawischen oder jüdischen Untermenschen zu sprechen, muss erst die halbe Welt, oder genauer: Deutschland in Schutt und Asche gelegt werden. Denn tatsächlich empören sich die beiden Friedensfreunde weniger über die Politik der verbrannten Erde in der Sowjetunion, in Polen oder der Tschechoslowakei. Klönne und Vack beschweren sich vielmehr stellvertretend für diejenigen, die durch ihren Dienst in der Wehrmacht oder an der Heimatfront dazu beitrugen, dass Europa in ein Schlachthaus verwandelt und hinter dem Rücken der Front Auschwitz betrieben werden konnte, darüber, dass Hitler den deutschen Soldaten weder ein väterlich-besorgter Freund noch ein guter Stratege war: dass er also nicht daran dachte, dass der Krieg irgendwann einmal nach Deutschland, in den Luftschutzbunker Klönnes und Vacks, zurückkommen könnte. So geht es den beiden Friedensbewegungs-Häuptlingen ganz augenscheinlich nicht um das Schicksal der Opfer des Nationalsozialismus; ihnen geht es stattdessen um das Leid der Deutschen: „Wir trauten keiner Politik mehr über den Weg, die um irgendwelcher ‚Ordnungsvorstellungen‘ willen das Leben von Massen von Menschen riskiert.“ Abgesehen davon, dass Klönne und Vack merkwürdigerweise keine Probleme damit zu haben scheinen, wenn Menschenleben für etwas anderes als für „Ordnungsvorstellungen“ riskiert werden – wahrscheinlich für den Frieden –, wurde von Hitler allenfalls das Leben der deutschen Soldaten, um das es den beiden Friedensmarschierern zu gehen scheint, „riskiert“. Das Leben der Angehörigen der so genannten Feindvölker wurde nicht bloß „riskiert“, sondern entweder als Konkursmasse betrachtet oder gleich ganz zur Vernichtung freigeben.
In der Parole „Nie wieder Krieg!“ verlängert sich mit anderen Worten weniger die Perspektive der Opfer oder Gegner des Nationalsozialismus. (Auch wenn diese Gegner und Opfer des Nationalsozialismus nach 1945 gelegentlich in diese Parole einstimmten – Auschwitz oder Buchenwald waren bekanntlich keine Einrichtungen zur Steigerung der Erkenntnisfähigkeit, sondern Konzentrationslager –, hatten sie dem Krieg der Alliierten im Unterschied der Mehrheit der Deutschen doch einiges zu verdanken.) In dieser Formel verlängert sich vielmehr der Blick derjenigen, die so lange nichts gegen den Krieg und den Nationalsozialismus einzuwenden hatten, bis Dresden, Hamburg, Magdeburg, die eigene Gartensparte oder das BDM-Heim von nebenan bombardiert wurde; in ihr verlängert sich der Blick von Hitlerjungen oder Flakhelfern wie Arno Klönne und Klaus Vack, SS-Leuten wie Günter Grass oder Wehrmachtssoldaten wie dem früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt, der über seine Zeit bei der HJ zu sagen pflegte: „Was wir gemacht haben, war Rudern und Segeln, und das war ne schicke Sache.“
„Opa war in Ordnung“
Diese Tradition schien in jeder größeren Kampagne der deutschen Friedensbewegung seit 1945 auf: der „Kampf-dem-Atomtod“-Bewegung in den 1950er Jahren, der Bewegung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen in den 1980er Jahren, den Protesten gegen den Irakkrieg 2003 oder den Ostermärschen, die in diesem Jahr mit viel Tamtam zum 50. Mal durchgeführt wurden. Wenn Body-Index-Maß-Götter wie Michael Schäfer, der im sachsen-anhaltischen Wernigerode beheimatete Vorsitzende des NPD-Nachwuchsvereins, in diesem Jahr erklärt, dass sich sein Verein mit der Parole „Bundeswehr raus aus Afghanistan“ in der Tradition der Ostermärsche sieht, dann ist das zwar ein weiterer Beweis für das, wie Manfred Beier vor einiger Zeit in der Bonjour Tristesse erklärte, erbärmliche Niveau des vielbeschworenen „intellektuellen Rechtsextremismus“. Ganz einfach: Schäfer und Co. scheinen vollkommen unfähig zu sein, irgendetwas auch nur halbwegs Kreatives – oder zumindest, es muss nicht immer kreativ sein, Eigenständiges – auf die Beine zu stellen. Vom Dresscode über die diversen rechten „Slime“-Kopien bis hin zum Aktionstheater ist alles nur eine Ramschkopie dessen, was auch bei der Linken schon nicht besonders originell war. Aber nichtsdestoweniger gibt es gute Gründe dafür, dass sich Schäfer et al. ausgerechnet von der deutschen Friedensbewegung und den Ostermärschen angezogen fühlen: von der Feindbestimmung, die immer in Richtung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs ging, über die Vorstellung, dass die Deutschen die großen und unschuldigen Opfer der Weltpolitik seien, bis hin zur Entstehung als Therapiekreis frustrierter Kriegverlierer, die keine großen Probleme mit dem Krieg hatten, als sie Frankreich, Polen und die Tschechoslowakei mit ihren Wehrmachtseinheiten überrannten.
Diese Traditionslinien, die für Nazis ohne größere Probleme anschlussfähig sind, finden in der aktuellen Entscheidung des Zentralkomitees der Ludwigstraße eine Verlängerung. Wenn Leute, die noch nie etwas an jamaikanischen, kubanischen oder, in der Ludwigstraße lange Zeit sehr beliebt, kurdischen Flaggen auszusetzen hatten, vor dem Hintergrund des 8. Mai plötzlich ihre Abneigung gegen Nationalfahnen entdecken; wenn Leute, die ihr halbes Leben mit schwarzgefärbten Armeehosen, Ranger- oder BW-Boots und ausgemusterten Bundeswehr-Rucksäcken ausgerüstet waren, vor dem Hintergrund des 8. Mai ihren Antimilitarismus entdecken; und wenn Leute, die immer wieder sehnsüchtig von den 1980er Jahren sprechen, als in der Linken noch alles in Ordnung war – und die Linke u. a. „Waffen für El Salvador“ sammelte –, vor dem Hintergrund des 8. Mai plötzlich ihre Liebe zum Frieden entdecken, dann ist keine besondere Böswilligkeit nötig, um zu vermuten: (1.) Sie haben nichts gegen Krieg als solchen, sondern vor allem etwas gegen den Krieg, der 1939 bis 1945 gegen Deutschland geführt wurde. (2.) Sie haben weniger etwas gegen Armeen, Waffen und Uniformen, sondern eher etwas gegen die Armeen, Waffen und Uniformen der Staaten, die Deutschland 1945 besiegt haben. (3.) Ihnen geht es weniger um Nationalfahnen im Allgemeinen, sondern um die Nationalfahnen, die beim Potsdamer Abkommen auf dem Tisch standen: die Fahnen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, der Sowjetunion und Frankreichs. (Wobei ausgerechnet die Fahne der Sowjetunion stets für die geringste Empörung sorgt: die Fahne des Staates also, der seine Soldaten am viehischsten von all diesen vier Ländern behandelte, auf dessen Konto Millionen Tote gehen und gegen dessen Säuberungsaktionen sich selbst der bestialische Krieg der Vereinigten Staaten in Vietnam – ein Krieg im Übrigen, gegen den zu demonstrieren vollkommen richtig war – wie eine etwas derb geratene Wirtshausschlägerei ausnimmt.) Die Sveddys, Eddys und Freddys der diversen linken Hausprojekte scheinen es den Alliierten des Zweiten Weltkrieges noch immer nicht verziehen zu haben, dass sie Opa Sveddy, Eddy und Freddy nicht genügend Zeit ließen, sich eventuell doch noch für den – natürlich gewaltfreien – Aufstand gegen Hitler zu entschließen: nach der Ermordung der letzten Juden, der Einnahme der britischen Inseln durch die Wehrmacht oder dem Fall Moskaus. Wenn deutsche Linke ausgerechnet angesichts des 8. Mai ihre Liebe zu Pazifismus und Antimilitarismus entdecken, dann fallen sie mit anderen Worten nicht nur hinter die Erkenntnisse der Pazifisten der 1930er und frühen 1940er Jahre zurück. Sie solidarisieren sich vielmehr, bewusst oder unbewusst, nachträglich mit denen, deren Wüten nur mit militärischen Mitteln aufgehalten werden konnte. Wenn sich das Zentralkomitee der Ludwigstraße fast zum selben Zeitpunkt, zu dem es der „Jugendantifa Halle“ verbietet, ihre 8.-Mai-Party in seinen Räumlichkeiten zu veranstalten, einer Gruppe von Zen-Buddhisten gestattet, im Haus ihren Gebetsraum einzurichten (kein Witz!), dann gibt es damit offen zu, was immer zu vermuten war, aber selbst seine ärgsten Kritiker nie so explizit formuliert hätten: Es verbindet mehr mit den „Zen-fascists“ (Jello Biafra) vom heiligen Feigenbaum als mit dem antifaschistischen Kampf der Alliierten des Zweiten Weltkrieges.
Erkenntnis versus Konformismus
Wer die Entwicklungen im alternativen Bermuda-Dreieck zwischen Reilstraße, „GiG“ und Ludwigstraße in den letzten Jahren aufmerksam verfolgt hat, müsste angesichts der merkwürdigen Abneigung gegen die Fahnen der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges ein Dèjá-vu-Erlebnis haben. So wurden die Diskussionen um den Charakter des Zweiten Weltkrieges, die Nationalfahnen der Alliierten und den 8. Mai selbst in Halle, wo bundesweite Debatten immer um einige Dezennien zu spät ankommen, schon vor knapp zehn Jahren geführt. Das Merkwürdige ist: Es waren in der aktuellen Diskussion, Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel, scheinbar weniger jüngere Leute, die sich für das Verbot der Fahnen der Alliierten, gegen symbolische Danksagungen an die Alliierten und die 8.-Mai-Party aussprachen. (Immerhin scheinen jüngere Linke in ihrer individuellen politischen Entwicklung sonst oftmals in Zeitrafferform den Erkenntnisprozess nachholen zu müssen, den der vernünftigere Teil der Linken im Verlauf seiner langen Geschichte durchgemacht hat.) Es waren in erster Linie diejenigen, die offensichtlich schon zu alt und zu verbohrt sind, um noch erkenntnisfähig zu sein – und die sich schon in den Diskussionen vor zehn Jahren als die Kinder ihrer Eltern erwiesen haben. Diese merkwürdige Konstellation lässt die Vermutung aufkommen: Dass die entsprechenden Auseinandersetzungen so lange nicht öffentlich geführt wurden, dass in Sachen „Fahnenstreit“, wie das Ganze gern genannt wird, als würde es tatsächlich um eine Fahne oder um ästhetische Dinge gehen, so lange Ruhe herrschte, basierte weniger auf einem Sieg der Erkenntnis, sondern auf dem Gegenteil: einem Sieg des Konformismus. Es basierte nicht auf einer Kapitulation vor der Vernunft, sondern auf einer Kapitulation vor den innerlinken Kräfteverhältnissen, die nun wohl in einer Mischung aus Altersstarrsinn und Größenwahn wieder infrage gestellt werden sollen. Und so lange das so ist, solange nicht die Vernunft, sondern nur der Konformismus siegt, der aufs Engste mit dem Autoritarismus verbandelt ist (Stichwort: Verbot, Zensur usw.), so lange sich also Leute durch eine Feier aus Anlass des 8. Mai, alliierte Fahnen oder die Kritik des Pazifismus provoziert fühlen, so lange ist es möglicherweise doch richtig, eine solche Party zu veranstalten. Allerdings wohl eher nicht im Vorraum eines Zen-Buddhismus-Tempels oder in der verlängerten Wohnküche von Leuten, die die Reflexion zugunsten von Reflexen ausgeschaltet haben.
AG Antifa
guter text. aber eine anmerkung: frankreich war beim potsdamer abkommen nicht dabei. da standen nur die fahnen von usa, gb, udssr auf dem tisch. frankreich ist erst später aus politischen gründen mit zur hauptsiergermacht erklärt worden.
Mit Frankreich ist das so eine Sache: Frankreich hat an den ersten (Haupt)verhandlungstagen nicht offiziell teilgenommen (Vertreter waren aber trotzdem vor Ort), sondern erst ab dem 6. oder 7. August – bei den Nachverhandlungen in Potsdam. Stalin und Co. waren da schon abgereist, aber die Fahnen wurden dann, wie man bei der Ausstellung im Cecilienhof sehen kann, mit auf dem Tisch. Die Schul-Bezeichnung „Dreimächtekonferenz“ ist insofern etwas irreführend: Drei Mächte haben zunächst darüber beraten, ob eine vierte mitmachen darf.
[…] ein netter Text der AG Antifa Halle zu leider doch immer wieder anzutreffenden formen des linken Antinationalismus und Pazifismus: Wenn Leute, die noch nie etwas an jamaikanischen, kubanischen oder, in der Ludwigstraße lange Zeit sehr beliebt, kurdischen Flaggen auszusetzen hatten, vor dem Hintergrund des 8. Mai plötzlich ihre Abneigung gegen Nationalfahnen entdecken; wenn Leute, die ihr halbes Leben mit schwarzgefärbten Armeehosen, Ranger- oder BW-Boots und ausgemusterten Bundeswehr-Rucksäcken ausgerüstet waren, vor dem Hintergrund des 8. Mai ihren Antimilitarismus entdecken; und wenn Leute, die immer wieder sehnsüchtig von den 1980er Jahren sprechen, als in der Linken noch alles in Ordnung war – und die Linke u. a. „Waffen für El Salvador“ sammelte –, vor dem Hintergrund des 8. Mai plötzlich ihre Liebe zum Frieden entdecken, dann ist keine besondere Böswilligkeit nötig, um zu vermuten: (1.) Sie haben nichts gegen Krieg als solchen, sondern vor allem etwas gegen den Krieg, der 1939 bis 1945 gegen Deutschland geführt wurde. (2.) Sie haben weniger etwas gegen Armeen, Waffen und Uniformen, sondern eher etwas gegen die Armeen, Waffen und Uniformen der Staaten, die Deutschland 1945 besiegt haben. (3.) Ihnen geht es weniger um Nationalfahnen im Allgemeinen, sondern um die Nationalfahnen, die beim Potsdamer Abkommen auf dem Tisch standen: die Fahnen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, der Sowjetunion und Frankreichs. weiter… […]
[…] daß die Fahnenrunterreißer für diese Aktion im Haus heftig kritisiert werden: das ist schon eine längere Geschichte und ich finde es so oder so erschütternd, zum 8. Mai von Punks und Linken dafür körperlich […]
[…] daß die Fahnenrunterreißer für diese Aktion im Haus heftig kritisiert werden: das ist schon eine längere Geschichte und ich finde es so oder so erschütternd, zum 8. Mai von Punks und Linken dafür körperlich […]
die hallesche linke hat kein nennenswertes problem mit organisierten gewaltbereiten neonazis.dafür hat die antifa in den 90ern gesorgt.das jn-zentrum in der reideburger strasse ist ein schrotthaus.dort in der gegend leben jetzt burgstudenten,migranten und andere leute,die keine angst haben müssen,dort zu wohnen.
eventuelle schlussfolgerung:die hallesche linke zerfleicht sich selbst.
bornierte vl-linke vs. bornierte antideutsche,das sagen diejenigen,welche keinen bock auf interne grabenkämpfe haben.
ganz schön traurig.kommt raus aus euren hütten und versucht endlich mal,nicht recht haben zu müssen,sondern das gegenüber zu verstehen oder wenigsten zu aktzeptieren.keine aktzeptanz des anderen als menschen ist anti-aufklärung,ist faschismus im denken.
so ist das.
Genau, die VL-Linke ist borniert, die Anti-Ds sind borniert, nur Sigrun nicht. Die ist nämlich die goldene Mitte, und alles, was nicht golden und mittig ist, ist „Extremismus“ (Innenministerium) oder „Faschismus im Denken“ (Sigrun). Genau so sieht Verständnis und Akzeptanz aus, Sigrun.
dank facebook über kulla auf diese fast seit einem halben jahr nicht aktualisierte blogseite geleitet, muss ich feststellen: es ist schon witzig, dass die kommentardebatten hier einfach nicht enden wollen, wo doch der kapitalistische alltag offensichtlich wenigstens die autor_innen dieses sonntagsblattes von halleschen linken für hallesche linke aka „leuchtturm der kritik“ am weiteren verfassen belangloser artikel abhält, und der ganze narzißtische popanz bald vergessen sein könnte. (selbstreflektion: mist, ich beteilige mich jetzt ja auch.)
cool,find ich voll lustig,dass ich als die goldene mitte verherrlicht werde.aber es geht gar nicht um mich.und ich hab die weisheit auch nicht mit löffeln gefressen.
haste leider nicht kapiert.
eine frage:wärst du bereit,für deine meinung und deine weltanschauung ne knarre in die hand zu nehmen und dich zu verteidigen? schon mal gemacht? das ist keine mitte,das ist „extremistisch“. aber manchmal gibt es situationen, die manche(!) linke kritische theoretikerInnen leider nicht nachvollziehen können. da sie halt keine praxiserfahrungen haben.
ich hoffe,das mißverständnis sei hiermit geklärt.
Nein, hab ich wohl leider nicht kapiert. Geklärt ist aber immer noch nichts. Außer vielleicht, dass ich gern Deine Drogen haben will. Find ich nämlich voll lustig.
ich nehm gar nicht so entsetzlich viel drogen,aber kannst ein paar haben: seroquel 200. so jetzt wirds aber intim. matthias bader holst („ceaucescu, meiner seele!“)
Seroquel ist ein, meist zu schwaches, Medikament gegen Psychosen, also Wahnvorstellungen. Quot erat demonstrandum.