Um Diskriminierte und Erniedrigte zukünftig nicht mehr tatenlos ihrem Schicksal auf dem Campus der hallischen Universität zu überlassen, besteht seit letztem Jahr die Präventionsstelle Diskriminierung und sexuelle Belästigung. Warum der Kampf gegen strukturelle Gewaltverhältnisse ein Kampf gegen Windmühlen ist, beweist die zu institutionalisiertem Herrschaftswissen geronnene Antidiskriminierungs- und Gleichstellungspolitik selbst, die zur Verschlimmbesserung der Situation beiträgt.
Wer kennt sie nicht – die taxierenden Blicke, das indiskrete Ausfragen, die diskriminierenden Witze und zufälligen körperlichen Annäherungen im stinknormalen Uni-Alltag? Um endlich einen diskriminierungs- und gewaltfreien Umgang miteinander zu gewährleisten, aber auch – so mutmaßt man – um mehr Punkte für die nächsten Hochschulrankings zu sammeln, hat der Senat der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg die Reißleine gezogen und entsprechende Richtlinien erlassen. Denn wie es scheint, ist das Leben von Studenten wesentlich stärker von psycho-physischen Grenzverletzungen beeinträchtigt als das eines Normalbürgers in der überfüllten Straßenbahn, in der Kneipe oder beim Aktivierungskurs des Jobcenters.
Um den allseitigen Macht- und Gewaltverhältnissen inner- und außerhalb der Universität entgegenzutreten, so die kulturwissenschaftlich geschulte Koordinatorin der Präventionsstelle Sabine Wöller in einem Interview, sei es notwendig, Diskriminierungssensibilität zu schaffen, Opfer zu beraten sowie diverse Beratungsstellen und dutzende Interessenvertretungen zu vernetzen. Auch eine Kultur des Hinsehens solle geschaffen werden.
Ein ungewollt komischer Hingucker ist der Flyer der Präventionsstelle, der mit dem Slogan »Wir sind für dich da« um Aufmerksamkeit buhlt. Diese Worte erinnern nicht zufällig daran, dass fürsorgliche Eltern ihrem Nachwuchs eine Atmosphäre verlässlicher Zuwendung und emotionaler Sicherheit schaffen. So wie gelingende elterliche Versorgung zur Stärkung des Urvertrauens beim Kind beiträgt, stellt die Präventionsstelle hier in Aussicht, den wehrlosen und hilfsbedürftigen Studenten in einer ihnen feindselig gegenüberstehenden akademischen Welt unter die Arme zu greifen.
Wenig überraschend ist, dass die Projektkoordinatorin und ehemalige Sprecherin des AK Queer Reinsteigern grenzüberschreitendes Verhalten zum subjektiven Empfinden des Opfers erklärt. Entscheidend ist demnach allein, wie eine Person die jeweilige Interaktion mit ihrem Gegenüber empfindet. Ursache und Wirkung drohen hier zu entkoppeln, so dass Bauchgefühle, Intuitionen, Andeutungen und Verdächtigungen als verlässliche Bezugsgrößen gelten, um eine missliebige Person zu denunzieren. Ist die Unschuldsvermutung erstmal außer Kraft gesetzt, so ist der Weg für internalisierte Selbstdisziplinierung bereitet. Denn Antidiskriminierung schafft auch ein Klima der vorbeugenden Einschüchterung.
Besonders aufschlussreich ist die Bildsymbolik des Werbeträgers. Darauf sind ausschließlich empowerte Repräsentanten optisch unterscheidbarer Minderheiten zu erkennen, die trotz und wegen realer oder vermeintlicher Stigmata in bunter Vielfalt auf der herrschaftsfrei gezeichneten Spielwiese des Campus harmonisch koexistieren, unter sich bleiben und allein aufgrund ihrer Verschiedenheit eine Bereicherung im Sinne postmoderner Identitätspolitik verkörpern. Die Abbildung zeigt ein lesbisches, interkulturelles Studentenpärchen mit Kind beim Picknicken. Daneben sitzt ein blinder, weißer Mann mit seinem Assistenzhund, dessen Rasse, Geschlecht und sexuelle Orientierung nicht erkennbar sind. Davor ist ein vollbärtiger, arabischstämmiger Student zu sehen, der lässig, mit dem Rücken an das Löwengebäude gelehnt, auf sein Smartphone starrt und Kopfhörer trägt. Im Vordergrund flaniert eine bunt gekleidete Kopftuchträgerin über den Campus. Hinter ihr steht eine schwarze Studentin, die sich unbefangen umsieht. Die Figuren sind beziehungslos im Raum angeordnet. Sie haben sich nichts zu sagen, verfügen aber als Selbstermächtigte über eine ausgeprägte Sprachsensibilität, die zum hysterischen Rundumschlag bereit ist, sobald ein Kränkungsgefühl auftritt. Dagegen verblassen die nur schwach konturierten Figuren im Hintergrund und lösen sich beinahe spukhaft in ihrer Zugehörigkeit zur Dominanzkultur auf.
Die in Szene gesetzten Repräsentanten verschiedener Communities definieren sich meist ausschließlich über ihre Abweichung von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft, reagieren aber zum Teil hyperallergisch auf Fremdzuschreibungen. Diese wehren sie als Stereotypisierung, Respektlosigkeit, Intoleranz und Angriff auf die eigene Definitionsmacht ab. Damit immunisieren sie sich gegen Kritik. Einst stand es im Widerspruch zu linker Politik, Menschen aufgrund persönlicher Merkmale verschieden zu behandeln, da dies nicht vereinbar war mit Vorstellungen von Gleichheit und Universalismus. Heute brüsten sich links-progressive Befürworter offizieller Identitätspolitik damit, Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit zu sortieren und entsprechend zu behandeln. Paradoxerweise erscheint Gleichberechtigung so durch die nachdrückliche Hervorhebung der Ungleichheit von Menschen verwirklicht. Für offizielle Sprachrohre von Minderheiten hat es oftmals höchste Priorität, die Position des Schwachen zu zementieren. Denn das Festhalten an der Rolle des Opfers hat, ungeachtet der realen Lage, zumeist positive Effekte, stiftet es doch Gemeinschaft, ermöglicht positive Diskriminierung und lässt sich sogar als Mittel von Machtausübung einsetzen. Minderheitenpolitik strategisch zu betreiben, ist allemal Erfolg versprechender, als die privilegierte Position als Vertreter einer Gruppe aufzugeben. Folglich lassen sich Empowerment und Diversity Management als asphaltierte Wege in die Sackgasse des identitätspolitischen Erfolgsmodells verstehen.
Mit den angeordneten Sensibilisierungsmaßnahmen zur Steigerung der Achtsamkeit für Verhalten und Sprache ist ein weiterer Baustein dafür gelegt, ein steriles Arbeits- und Lernklima zu besiegeln, worin tendenziell die Bereitschaft zur Bespitzelung, Empörung, Kränkbarkeit, Hysterie und vor allem Denunziation wächst. Wenn eine Lehrkraft zukünftig das Gender-Sternchen vergisst, mag sich bereits der eine oder andere auf den Schlips getreten fühlen. Wo beginnt und wo endet Diskriminierung? Darüber nachzudenken sei Seminarteilnehmer*innen der Cultural Studies überlassen, denen es Freude zu bereiten scheint, in Endlosschleife freie Kreise im poststrukturalistischen Diskursblabla zu drehen, um in sprachlichen Leerformeln die letzten Reste von Sinn zu dekonstruieren.
Walentina Warszawski
Wunderbares Flugblatt.
War damals auch im Conne Island. Viel ist mir von dem Gedöns der Referentinnen nicht im Gedächtnis geblieben. Dafür aber eine geltungssüchtige Platzkuh im Publikum, die noch das Niveau der Veranstalterinnen unterbot. Die überdosierte Tante hielt es am Anfang der Diskussion für angebracht, die Flugblattverteiler als Zeugen Jehovas verunglimpfen zu müssen. Sie fragte auch, ob niemand von denen Eier in den Hosen hätte. Sehr peinlich…
Die Helikopter-Uni
Bonn warnt Studenten vor unschöner Wirklichkeit
Es lohnt, sich das Humboldt’sche Bildungsziel in Erinnerung zu rufen, bevor man den an die Universität Bonn zirkulierenden „Informationen und Anregungen zum Umgang mit Inhaltshinweisen in der Lehre“ durchliest. Bekanntlich besteht es darin, so viel Welt wie möglich so eng als möglich mit sich zu verbinden, nirgends schreibt Humboldt, man möge sich auf die schönen Seiten beschränken. Der namentlich nicht gekennzeichnete, aber mit offiziellem Logo versehene und vom Gleichstellungsbüro verschickte Leitfaden entwirft die Universität dagegen ausdrücklich als „safe space“: als Rückzugsort von Personen, die für sich das Recht fordern, von der Welt in Ruhe gelassen zu werden.
Nun ist die Universität schon per se das Gegenteil eines sicheren Orts. Sie konfrontiert mit Dimensionen, die ein selbstzentriertes Weltbild durchschütteln. Ganz im Gegensatz dazu umschmeichelt der Leitfaden das studentische Ego. Dozenten werden zu Psycho-Coaches umfunktioniert, die Seminarteilnehmer vor seelisch belastenden Inhalten warnen und ihnen die Möglichkeit geben sollen, in solchen Fällen den Raum zu verlassen. Der Orwell’sche Neusprech reicht bis in den Titel des Leitfadens hinein: Man will nicht wie an amerikanischen Hochschulen von Trigger-Warnungen, sondern neutral von Inhaltshinweisen sprechen, als hätte der Hinweis eine andere als eine warnende Funktion. Ideologie beginnt bekanntlich dort, wo man Dinge nicht mehr beim Namen nennen darf.
Der Leitfaden beschreibt Studenten als Patientenkollektiv, dem negative Emotionen wie Ärger und Stress erspart bleiben sollen. Teils klingt er wie ein medizinischer Beipackzettel („könnte Unwohlsein verursachen“). Die Liste der potentiellen Stressfaktoren ist so lang, dass man sich fragen muss, wie Medizinstudenten überhaupt noch ohne Vorabpädagogik unterrichtet werden können. Neben Blut umfasst er etwa Rassismus und Frauenfeindlichkeit, Tod und Sterben, Gewalttätigkeit, Pornographie oder Klassenkampf. Nun sollte jeder Dozent von selbst darauf kommen, dass ein Seminar keine Abspielstation für Gewalt- oder Pornofilme ist. Von Studenten ist zu erwarten, dass sie zwischen gegenwärtiger und historischer, realer und fiktiver Gewalt unterscheiden können. Wer Berichte über historische Gräueltaten nicht erträgt, muss sich fragen lassen, ob er dem akademischen Gegenstand gewachsen ist. Man kann beispielsweise die Vergangenheit nicht auf ihre bekömmlichen Anteile reduzieren ohne die Geschichtswissenschaft ad absurdum zu führen. Und warum soll, wie der Leitfaden vorsieht, auf Tod und Sterben vorab hingewiesen werden? Weil es in der Alltagswelt der Studenten keine Rolle spielt? Oder weil es einfach keinen Spaß macht?
Der Leitfaden entwirft Studenten als Affektbündel, die nicht über die Fähigkeit verfügen, Dinge intellektuell zu distanzieren. Schon persönliches Beleidigtsein reicht als Grund, sich in der Tat verstörenden Themen wie Klassenkampf, Kriminalität oder sexuelle Gewalt zu entziehen. Was drückt sich darin anderes aus als die Aufkündigung der Solidarität mit jenen, die davon betroffen sind? Und welchen Wert hat ein Bildungsabschluss, der auf selektiver Wahrnehmung beruht? Hier stößt der Leitfaden auf einen praktischen Widerspruch, denn mit dem Stoff soll sich der Student trotzdem vertraut machen, etwa in der gefühlten Sicherheit der eigenen vier Wände, die offenbar viel besser dafür geeignet sein sollen als die schmutzige Hochschulwelt.
Man muss sich nicht dumm stellen: Wenn ein Seminarteilnehmer den Raum verlässt, bevor eine Gewaltpassage von Dostojewski gelesen oder ein Akt von Courbet präsentiert wird, dann färbt das negativ auf den Gegenstand ab. Dozenten werden ihn meiden und eine geschönte, zensierte Wirklichkeit präsentieren, in diesem Fall also öde Kunst und Literatur. Man weiß von amerikanischen Hochschulen, wie niedrig die Toleranzschwellen mittlerweile sind. Gerade das auch in dem Leitfaden prominente Thema Rassismus ist durch die Vertreter der Critical Race Theory mit subjektivistischen Prämissen aufgeladen worden, die wissenschaftlichen Standpunkten widersprechen und sich hervorragend zur mittlerweile auch in Deutschland viel geübten Denunziation eignen.
Wo die Universität ihre Mitglieder nicht dazu auffordert, sich der ganzen Wirklichkeit zu stellen, hat sie als kritische, aufklärerische Instanz ausgedient. Ihre Studenten entlässt sie in eine Welt, die ihnen als unzumutbare Katastrophe erscheinen muss. Bonn geht voran.
Thomas Thiel
FAZ, 23.09.2021, S. 11