Im Oktober des Jahres 2017 veröffentlichte die New York Times einen Artikel, der dem amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein sexuelle Belästigung und Nötigung vorwarf. Zu diesem Zeitpunkt war es zumindest in Hollywood ein offenes Geheimnis, dass Weinstein für die Besetzung einer Rolle zuweilen sexuelle Gefälligkeiten verlangt. Mit der Veröffentlichung des Artikels erfuhr auch die breite Öffentlichkeit, dass er es nicht bei unlauteren Angeboten beließ. Zuweilen drohte er den Schauspielerinnen an, seinen Einfluss geltend zu machen, um ihre Karrieren in der Filmbranche zu ruinieren, falls sie sich weigerten, mit ihm ins Bett zu gehen. Bereits dieser Artikel rief ein immenses Echo hervor. Ein zweiter, der wenige Tage später in der Zeitung The New Yorker erschien, veröffentlichte die Aussagen verschiedener Mitarbeiter von Weinsteins Produktionsfirma, die unter anderem zugaben, das Vorgehen des Produzenten gedeckt zu haben. Er nannte auch erstmals die Namen zweier Frauen, die behaupteten, von Weinstein vergewaltigt worden zu sein.
Rückblende
Für ihren »Dienst an der Öffentlichkeit« erhielten die beiden Autoren der Artikel im vergangenen Jahr den Pulitzerpreis, mit dem die Jury explizit die Enthüllungen und Debatten honorierte, die sie nach sich zogen. In den Wochen nach den Veröffentlichungen wurden weitere glaubwürdige Anschuldigungen gegen verschiedene namhafte Vertreter der amerikanischen Filmbranche erhoben, denen man mehrheitlich sexuelle Belästigung vorwarf. Fast alle Beschuldigten, die nun in den Verdacht gerieten, wiederholt am Arbeitsplatz Frauen bedrängt und genötigt zu haben, gehörten der Kultur- und Medienbranche an. Die Vorwürfe warfen Licht auf die Zustände an Orten, an denen Leistung sich nicht in Stückzahl und Zeitstunden messen lässt. Orte, die nicht nur Menschen anziehen, die bereit sind, sich für Ruhm zu verkaufen, sondern auch jene Typen, die in dem Selbstverständnis leben, dass ihre Großzügigkeit bei der Rollenvergabe an anderer Stelle erwidert wird. Hollywood bietet Narzissten eine große Bühne. Anstatt jedoch eine Diskussion über die Arbeitsverhältnisse in Los Angeles, Deutschen Rundfunkanstalten und Staatsopern zu führen, entfernte sich die Debatte hierzulande mit jedem Tag mehr von ihrem eigentlichen Gegenstand. Von Tag zu Tag zog sie weitere Kreise: Nachdem weitere Enthüllungen auf sich warten ließen, weichten deutsche Journalisten einfach den Tatbestand der sexuellen Nötigung auf und behaupteten wider aller Evidenz die Existenz einer allgegenwärtigen Kultur, die sexuelle Gewalt gegen Frauen befördere und ihre Opfer verstummen ließe. Penetrante Blicke, anzügliche Kommentare und beiläufige Berührungen am Arbeitsplatz wurden zusammen mit juristisch fixierten Straftaten unter demselben Hashtag verhandelt. Das entsprach nicht zuletzt dem Wunsch der Leserschaft, die eigene Malaise auf ein gesellschaftliches Übel zurückzuführen. Wie das funktioniert, führten ihnen die Autoren selbst vor, denen das Themenfeld Macht, Arbeit und Sex genug Stichworte bot, um sich ihre privaten Sorgen und Nöte in selbstgerechten Pamphleten von der Leber zu schreiben. Ein Rückblick in die deutsche Presse gewährt zwar wenig Aufschluss über die Zumutungen, die Frauen zu erdulden haben, dafür jedoch tiefe Einblicke in das Seelenleben deutscher Journalisten. So war nicht immer klar, was sie meinten, wenn sie sich über Chefs ausließen, die ihre Macht benutzen würden, um ihre Untergebenen zu demütigen, oder wenn sie sich in die Psyche sexbesessener Vorstände hinein fantasierten, die sich einfach nähmen, was sie wollten. Um die eigenen Demütigungen und Wünsche zu beschreiben, ohne etwas über die tatsächliche Situation von Frauen sagen zu müssen, brauchte es nicht viel: Es genügte eine vorangestellte Solidaritätsadresse an den Feminismus.
Weinende Männer
In der Frankfurter Rundschau war ein Autor in diesem Sinne besonders freizügig.17 Die Parteinahme für den Feminismus fiel bei ihm umso wortgewaltiger aus, je mehr er von den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen absah. Zum Unrecht, das Frauen geschieht, fiel ihm nichts ein, zu ominösen Herrschaftsstrukturen indes jede Menge. »Wenn eine unterdrückte Gruppe an den Säulen einer Herrschaftsstruktur rüttelt, dann wird den Herrschenden auch mal schwindlig. Das ist das Mindeste. Sollen Strukturen der Herrschaft aufgelöst werden, dann muss das nicht unbedingt zu Enthauptungen führen, aber um ein wenig Tumult kommen wir Herren und Damen nicht herum. […] Und selbst vorhandene Unterschiede müssen gar nicht aufgelöst werden, dürfen aber de facto keine Rolle spielen. Manche Menschen sind größer und stärker als andere, manche klüger. Aber jeder versteht, dass wir erst dann in einer gerechten Gesellschaft leben, wenn diese Faktoren nicht Chancen determinieren, Würde oder rechtlichen Status.« Gesellschaftliche Unterschiede, die existieren, aber de facto keine Rolle spielen, gibt es nicht. Es stellt sich die Frage, was sein Wunsch nach einer Gesellschaft, in der Körpergröße und Intelligenz nicht mehr Chancen determinieren, mit dem Geschlechterverhältnis zu tun hat. Der Autor, der seinen Wortschatz dem linken Akademikersprungbrett Phase 2 entnommen zu haben scheint, dachte dabei vor allem an die Vorteile, die eine Rollenangleichung für seinesgleichen bietet: »Und bei all der Macht, die wir Männer im Zuge dieser Entwicklung wohl verlieren werden, es gibt auch einiges zu gewinnen. In einer emanzipierteren [sic!] Welt muss nicht jeder ein hetero-harter Kerl mit Hang zu Technik und Fußball sein. Er kann Gefühle zeigen, ohne zum Schwächling abgestempelt zu werden. Der Mann muss nicht jede Antwort parat haben, hatte er vorher ja auch nicht. Die Bürde des Versorgers der Familie bleibt ihm erspart.« Offenbar treibt den Autor vor allem Selbstmitleid um, wenn er an die Ungleichheit der Geschlechter denkt. So sinniert er über die Vorteile einer Welt, in der seinesgleichen Schwäche zeigen darf, nicht mehr Rede und Antwort stehen und den Versorger der Familie spielen muss. Ihn plagen einfach die vom Partner und Chef herangetragenen Erwartungen. Derart die Bürden des Mannes bedauernd, geht er offenbar davon aus, dass seine weiblichen Kollegen im Privaten und im Beruf mehr Nachsicht erfahren als er selbst. Dies zeigt endgültig, was es mit seiner mit revolutionärem Pathos vorgebrachten Parteinahme für den Feminismus auf sich hat.
Nach dem Lesen dieser Zeilen liegt die Vermutung nahe, in den Redaktionsräumen der Frankfurter Rundschau wäre die Zeit stehen geblieben. Oder welche abschreckenden Zustände stehen dem Autor vor Augen, wenn er von einer Welt träumt, in der nicht jeder Kerl ein Autobild- und Kicker-Abonnement haben muss? Immerhin redet er über eine Zeit, in der Frauen bei der Bundeswehr unter dem Oberkommando von Ursula von der Leyen an der Waffe dienen, während Heute-Journal-Sprecher Klaus Kleber in einer laufenden Sendung beim Erzählen einer rührseligen Anekdote mit seinen Tränen ringt – was damals viele Zuschauer nicht etwa unprofessionell, sondern anrührend fanden. Der Autor tut einfach so, als gäbe es nach wie vor ein steifes Rollenbild, das die gesellschaftliche Norm bestimmt. Selbstverständlich existieren immer noch Milieus, in denen Männer, die in der Öffentlichkeit heulen, verlacht werden. Der Fernsehsender DMAX, der Reportagen über technische Wunderwerke und Überlebenstrainings in der sibirischen Taiga ausstrahlt, hat seinen Platz auf dem Fernsehmarkt gefunden. Deutschsprachige Hip-Hop-Crews wie K.I.Z mit ihren »Fick-die-Fotze«-Reimen belegen die vordersten Plätze der Charts. Doch aus diesen Phänomenen spricht weder das Fortexistieren irgendwelcher heteronormativer Strukturen geschweige denn eines bürgerlichen Patriarchats. Der faszinierte DMAX-Zuschauer bewundert an den Maschinen, Bauwerken und Männerkörpern die Zuverlässigkeit, Größe und Härte, die er selbst nicht mehr besitzt. Die kahlgeschorenen Jungs von K.I.Z haben nicht deshalb so viele Fans, weil sie eine Norm besingen, sondern kraftmeierisch Tabus brechen. Mit anderen Worten: Beide Phänomene bezeugen vor allem die fortschreitende Auflösung männlicher Vorherrschaft und tradierter Rollenbilder. Der Autor des zitierten Artikels interessiert sich nicht für das merkwürdige Neben- und Ineinander von rührseligen Männern und harten Kerlen. Er nimmt es noch nicht einmal zur Kenntnis. Ihm geht es ausschließlich um seine eigenen Wehwehchen.
Trotzige Frauen
Ein weiteres Beispiel für die Neigung deutscher Journalisten, die eigenen Befindlichkeiten in Pamphleten zum Geschlechterverhältnis zu verhandeln, bot eine Autorin in der Zeit.18 Der Titel des Artikels, #OhneMich, kündigt eine trotzige Abrechnung an. Ein Versprechen, das auch eingehalten wird: »Die #MeToo-Debatte hat ein enorm verbreitetes Verhalten zutage gefördert: die Selbstverständlichkeit, mit der Männer Frauen als knackige Körper und leichte Beute betrachten und ernsthaft glauben, ein kurzer Griff oder markiger Spruch sei kein Grund zur Aufregung.« Eine Korrektur an dieser Stelle: Die Erlebnisse und Bekenntnisse, die unter dem Hashtag ihren Weg an die Öffentlichkeit fanden, haben nur gezeigt, dass es Männer gibt, die Frauen belästigen, nötigen und manchmal sogar vergewaltigen. Das hat weltweit für ziemliche Empörung gesorgt, Rücktritte erzwungen, Kündigungen und Anklagen nach sich gezogen, was ganz und gar nicht darauf hindeutet, dass die Mehrheit der Gesellschaft solch ein Verhalten hinnimmt. Die Autorin hält sich auch nicht weiter damit auf. Ihr geht es um ein tieferliegendes Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern, das sich in den in der Debatte verhandelten Fällen geäußert hätte: »Darunter liegt die sozial verfestigte Asymmetrie, dass es bei Frauen mehr aufs Aussehen ankommt als bei Männern. Dies ist ein altes, seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden etabliertes und in sehr vielen Gesellschaften auftauchendes Muster. Bei der Partnerwahl und auch sonst im Leben gilt: Die Frau muss in erster Linie schön sein; beim Mann schadet Schönheit nicht, sie wird durchaus goutiert, entscheidend sind aber letztlich Status oder Leistung. Die Frau ist mehr als Körper präsent, der Mann mehr als Geist, Witz, Wille.« Schief wird das Verhältnis vor allem durch das Bild, das die Autorin von ihm zeichnet. Sie verwechselt die Kriterien, die im Kontaktanzeigenteil der Zeit bei der Partnersuche vorherrschen, mit denen, die auf dem Sexualmarkt tatsächlich maßgebend sind. Außerhalb des Feuilletons sind Geist, Witz und Wille bestimmt nicht die primären Dinge, über die sich Männer profilieren, sondern wohl Statur, Vermögen und Status. Das Leistung – unabhängig vom Geschlecht – längst kein maßgebender Faktor mehr ist – weder auf der Stellen- und erst recht nicht auf der Partnerbörse –, hat sich selbst schon bei Soziologen herumgesprochen, die unnötigerweise ganze Bücher schreiben, in denen sie erzählen, dass wir in einer Spaßgesellschaft leben. Das Bild, das die Autorin vom Geschlechterverhältnis zeichnet, ist wenig mehr als eine Projektion. Sie stört sich ohnehin weniger daran, dass Frauen immer noch mehr leisten müssen, um dieselbe Anerkennung zu erfahren, als an ihrer Kleiderwahl, die jene Asymmetrie reproduziere: »Mädchen tragen Hotpants, Businessfrauen figurbetonte Kostüme und glänzende Strumpfhosen, feiernde Frauen im Nachtleben sind durchgestylt vom Scheitel bis zur Sohle. […] Solange wir uns bereit erklären, unsere Hintern in hautenge Hosen zu zwängen, unsere Beine in Strumpfhosen vorzuführen und auf hohen Absätzen daherzuklappern, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir als ›knackiger Hintern‹ oder ›scharfe Schnitte‹ wahrgenommen werden.« Da nicht zu erwarten sei, dass Männer irgendwann nochmal Herren ihrer Sinne werden, appelliert die Autorin an die Frauen, bei der Morgentoilette in den nüchternen Verwaltungsmodus überzugehen: »Legt die Kosmetikdosen in den Schrank und kauft sie nie mehr nach. Wenn ein Männergesicht ohne Tünche schön genug ist für die Welt, warum nicht auch ein Frauengesicht? Hört auf, jeden Tag schicke, formlich und farblich aufeinander abgestimmte Klamotten zu tragen! Zieht das an, was im Schrank gerade oben liegt. Spart die Energie, die das Schminken, Augenbrauenzupfen, Nägellackieren, Beinerasieren, Schmuckanlegen, Shoppen, Durchblättern von Modemagazinen kostet, und steckt sie in das Voranbringen eurer Karriere durch Lernen, Leistung, Sachverstand, oder wahlweise in Spaß und Erholung. Geht nicht mehr als einmal im Vierteljahr zum Friseur.«
Der Artikel ist eine einzige Frechheit gegenüber Frauen. Dass er trotzdem von zahlreichen Lesern positiv aufgenommen wurde, legt nahe, dass die Autorin mit ihren im Text geäußerten Wünschen nicht alleine ist. Bei ihr lösen weniger Männer, die wenig Respekt gegenüber Frauen aufbringen, Unbehagen aus, sondern vielmehr die ganzen Strapazen des Zurechtmachens. Sie findet das tägliche Schminken und Anziehen nur lästig, da es Zeit frisst und Nerven kostet. Das Gefühl, anderen gefallen zu müssen, empfindet sie als ungemeine Belastung. Ihr infantiler Überdruss an den alltäglichen Verpflichtungen geht soweit, dass sie bereit ist, die Möglichkeiten individueller Selbstentfaltung aufzugeben, um sich dem sozialen Druck zu entziehen. Bei ihr löst die Vorstellung, sich ein Leben lang auf dem Arbeits- und Sexualmarkt behaupten zu müssen, mehr Entsetzen aus, als ein religiöser Zwangsverband, in dem die Familie von der Heirat bis zur Arbeit alles arrangiert. Eine Gesellschaft, in der die Frauen so wenig voneinander zu unterscheiden wären, wie jene, die im Islam unter die Burka gezwängt werden, stellt für sie im Vergleich dazu das geringere Grauen dar. In der Umma wäre sie von der Last befreit, sich täglich aufs Neue der Konkurrenz stellen zu müssen. Vor einem entgültigen, individuellen Rückzug vom Markt der Eitelkeiten zögert sie, weil sie die berechtigte Befürchtung hegt, von solch einem Schritt Nachteile zu erleiden. Auch deshalb, vor allem aber aus bloßem Neid auf die Vorzüge anderer, will sie ihre heimlichen Konkurrentinnen zur kollektiven Abrüstung bewegen. Auf einem derart befriedeten Markt, auf dem es dann verstärkt auf die inneren Vorzüge ankäme, rechnet sie sich erhöhte Chancen aus. Trotz ihres Appells weiß natürlich auch die Autorin, dass es bei der Partnerwahl auch dann noch auf das Aussehen ankommen würde, wenn alle dieselbe Uniform trügen. Schminke und Kleidung sind eine Möglichkeit, ererbte Makel zu kaschieren, sprich biologische Nachteile wettzumachen. Ohne solche Mittel wäre jeder auf das zurückgeworfen, was ihm Mutter Natur in die Wiege gelegt hat. In einer solchen Welt würde es noch viel barbarischer zugehen als in einer Gesellschaft, die allen die Verantwortung aufbürdet, selbst für das eigene Glück zu sorgen.
Behind the scenes
Die beiden Autoren der Frankfurter Rundschau und der Zeit teilen den Wunsch, sich von den Pflichten, die ihnen die Gesellschaft auferlegt, zu befreien – ein Bedürfnis, das sie mit ihren Lesern gemein haben. Ihnen sprechen sie aus dem Herzen, wenn sie den alltäglichen Behauptungskampf und alles, was mit ihm einhergeht, als einzige Zumutung darstellen. Das Gefühl der Überforderung, das Autoren und Leser plagt, dürfte weniger das Produkt einer verfehlten Erziehung sein, die den Einzelnen nur unzulänglich auf die gesellschaftlichen Anforderungen vorbereitet, sondern mehr mit dem objektiven Anwachsen des sozialen Anpassungsdrucks zu tun haben. Arbeits- und Sexualmarkt verlangen eine immer größere Flexibilität. Einmal erworbenes Wissen hat nur noch einen kurzen zeitlichen Wert, wozu nicht zuletzt der technische Wandel beigetragen hat. Für den Einzelnen wird es dabei immer undurchsichtiger, welche Strategie auf lange Sicht Erfolg verbürgt. Die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen wurde längst zu einer sozialen Forderung erhoben, während der persönliche Werdegang bis ins hohe Alter von ständigen Branchen-, Job- und Wohnortwechseln geprägt ist. Der Zwang zur permanenten Mobilisierung verschärft sich zwar in Zeiten der wirtschaftlichen Krise enorm, äußert sich aber auch verstärkt in Phasen anhaltender Hochkonjunktur. Er greift zudem auf die Freizeit über. In zahlreichen Branchen ist es weniger die fachliche Qualifikation, die über längere Zeiten Garantien bietet, sondern vielmehr das persönliche Netzwerk. Ein weitreichender Freundeskreis und eine solvente Familie sind die bessere Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. In der wieder steigenden Zahl der Eheschließungen äußert sich, verdeckt unter dem Wunsch nach verlässlichen Verhältnissen, auch die Panik vor dem Abstieg. Nicht zuletzt die Sozialen Medien sind Ausdruck der verschärften Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, der längst die Privatsphäre nach seinen Gesetzen umgemodelt hat. Ihre Bewertungsfunktionen lassen den sozialen Status zu einer messbaren Größe werden. Der Nutzer wird nicht nur dazu genötigt, das eigene Leben dem fremden Urteil preiszugeben. Er wird fortwährend mit den Biographien von Freunden, Bekannten und Fremden konfrontiert, zu denen er sich ins Verhältnis setzt. Nachrichten nötigen zu einer schnellen Antwort, erfährt der Sender doch sogleich, wann sie gelesen wurden. Die Kommunikation hat zudem die Verbreitung von Moden und Trends aller Couleur enorm beschleunigt. Facebook, Instagram, Tinder und Co. sind nicht nur Abbild des gestiegenen Drucks zur sozialen Anpassung, sondern tragen gleichzeitig zu seiner Verstärkung bei. So haben sie nicht nur den Sexualmarkt gewissermaßen in Zeit und Raum ausgedehnt, sondern zeitgleich auch die Konkurrenten einander näher gebracht.
Auf diesen verschärften sozialen Druck reagieren die Autoren der beiden Artikel mit infantiler Rebellion. Ihr Wunsch ist es, sich der individuellen Verantwortung für das eigene Leben zu entledigen. Aus Angst davor, dabei als Verlierer vom Platz zu gehen und aus Neid gegenüber dem Glück der Anderen, sehnen sie sich nach einer Gesellschaft ohne Unterschiede. Zusammen mit ihren begeisterten Lesern träumen sie von einem Land, in dem es keine Konkurrenz mehr gibt, in dem die Unterschiede zwischen den Menschen keine Bedeutung mehr besitzen und das niemandem die Freiheit bietet, sich von den Anderen abzuheben. Man wünscht sich an einen Ort, an dem man immer Nachsicht erfährt, keine Verantwortung tragen muss, nicht mehr mit lästigen Fragen konfrontiert wird, Rasur und Schminken sich erübrigen, niemand mehr irgendwelche Privilegien genießt und Enttäuschungen immer ausbleiben. Das Themenfeld Arbeit, Sex und Gewalt bietet eine perfekte Projektionsfläche für diesen Charakter. Der überforderte Volontär, der in irgendeiner Redaktion buckelt, fand für seine alltägliche Demütigung durch seine Vorgesetzten einen Namen; frustrierte Frauen fanden nun Zuhörer und Zuspruch; alle erhielten die Chance, im Dienste der Öffentlichkeit über ihre Bettgeschichten zu erzählen; jeder konnte die tagtägliche Belastung, die er empfindet, mit dem Alpdruck tradierter Rollenbilder identifizieren. So ist das herausgeschriene »Me too!« nicht die Losung von Frauen, die zum Schweigen verdammt sind, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse ihnen keine Stimme geben. Es ist vorrangig die Losung eines Menschenschlags, der jederzeit bereit ist, Alles und Jeden für das vorenthaltene Glück in die Pflicht zu nehmen, aber niemals dazu, die persönliche Verantwortung dafür zu übernehmen.
Harald J. Finke
Anmerkungen:
17 Vgl. Daniel Dillmann: Der verunsicherte Mann ist verschmerzbar, Onlineausgabe Frankfurter Rundschau, 9.12.2018.
18 Vgl. Barbara Kuchler: #OhneMich, Onlineausgabe Die Zeit, 12.11.2017.
Kommentar verfassen