Im Herbst vergangenen Jahres erschien auf einem kleinen hallischen Nachrichtenportal ein kurzer Artikel, der sich unter der Überschrift »Steigender Antisemitismus in Halle« mit antisemitischen Vorfällen in der jüngeren Vergangenheit befasste. Konkret wurde unter anderem von einem Übergriff auf ein jüdisches Kind in der Nähe des Steintors in Halle berichtet, der nur wenige Tage zuvor stattfand. Das Kind wurde auf offener Straße attackiert, weil es eine Kippa trug. Die Familienmitglieder des Jungen konnten Schlimmeres verhindern. Wie bei vielen weiteren Vorfällen ging der Übergriff von Personen aus dem arabischen Raum aus. Trotz der Brisanz des Artikels blieben nennenswerte öffentliche Reaktionen aus. Die Redaktion der Bonjour Tristesse sprach mit Max Privorozki, der der Jüdischen Gemeinde Halle und dem Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt vorsitzt.
Im Oktober 2017 erschien ein Bericht, der den Wandel antisemitischer Übergriffe auf Juden in Halle thematisiert. Wie sehen diese Übergriffe aus und was unterscheidet sie von antisemitischen Übergriffen der Vergangenheit?
Die Frage betrifft den Begriff »antisemitische Übergriffe«. Man muss klar definieren, was ein »antisemitischer Übergriff« bedeutet. Wenn es sich um Gewalttaten handelt, dann bleiben wir mit Gottes Hilfe davon verschont. Wenn es sich um Beschimpfungen oder Beleidigungen handelt, dann wurden die bis jetzt immer oder fast immer anonym artikuliert – also in Briefen oder per Telefon. Das geschieht jetzt offen und ohne Versuche, sich zu verstecken.
Was für Beleidigungen fallen dann?
Ich kann nur das wiederholen, was ich persönlich gehört habe: »Kindermörder«
Würden sie von einer Zunahme antisemitischer Vorfälle sprechen?
Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass ich keine Zunahme verzeichnen kann – zumindest nicht quantitativ. Mir geht es nicht in erster Linie um die Zahlen der antisemitischen Vorfälle in Halle, sondern um die allgemeine Atmosphäre. Es mag sein, dass unsere Mitglieder überempfindlich sind, aber die ständige antiisraelische Hysterie und die zumindest für uns offensichtliche Tarnung der antisemitischen Ressentiments hinter der »berechtigten Kritik der israelischen Politik« machen die Stimmung wahrscheinlich schlechter, als sie es verdient.
Können sie das etwas ausführen?
Was ich damit meine? Hier sind ein paar Beispiele. Am 9. November 2017 habe ich festgestellt, dass wesentlich weniger Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Halle zur Gedenkveranstaltung am Jerusalemer Platz erschienen sind als üblich. Danach habe ich bei einigen, die bis jetzt stets zu Gedenkveranstaltungen gekommen sind, nach der Ursache gefragt. Ich bekam als Antwort: Sie hatten einfach Angst.
Wir gratulieren unseren älteren Mitgliedern zu Geburtstagen mit einer Postkarte. Zum ersten Mal habe ich vor kurzem erlebt, dass uns jemand bat, den Stempel mit der Rückanschrift der Gemeinde nicht zu verwenden. Zur Begründung hieß es, angeblich sind mit den Postboten auch Lehrlinge aus dem Flüchtlingskreis unterwegs. Ich erkenne hier dieselbe Angst, die meine Eltern in der Sowjetunion hatten. Briefe aus Israel oder den USA waren zu gefährlich. Ob diese Angst berechtigt ist? Ich kann es nicht beurteilen, muss es aber akzeptieren.
Hat diese Angst etwas mit aktuellen Ereignissen zu tun?
Die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde verstehen nicht, weshalb man nach einem Terrorangriff in Spanien, England, Belgien oder Deutschland über Opfer des islamistischen Terrors spricht und nach einem ähnlichen Anschlag in Israel nicht. Sie verstehen nicht, weshalb Muslime in Halle, Berlin, Amsterdam, Malmö etc. gegen die Entscheidung des US-Präsidenten protestieren und dabei puren Antisemitismus ausüben.
Jede jüdische Familie hat Erfahrung mit Antisemitismus, egal ob in Deutschland oder in der ehemaligen Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten. Wir sind es aus der Geschichte – von Generation zur Generation übertragen – gewohnt, dass die Pogrome und Ermordungen stets mit Verleumdungen beginnen; ob die vergifteten Brunnen, Matze mit dem Blut christlicher Kinder, die Dreyfus-Affäre in Frankreich, die Beilis-Affäre in Russland, oder auch die Ermordung von Ernst vom Rath.
Auch gegenwärtig erleben wir immer wieder neue Verleumdungen. Mahmud Abbas erzählt im Europarlament über den angeblichen Versuch irgendwelcher Rabbiner, die arabischen Wasserbrunnen zu vergiften und bekommt dafür Standing Ovations. Die UNESCO leugnet die Verbindung von Juden zu Jerusalem. Ein deutsches Gericht bestätigt »im Namen des Volkes«, dass eine Fluggesellschaft auf deutschem Boden Leistungen für einen Passagier verweigern darf, nur weil er jüdisch ist. Und ein TV-Korrespondent begründet eine Äußerung Karl Lagerfelds zur Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen damit, dass die Eigentümer seines Modehauses jüdisch sind. Das alles hat Konsequenzen, die Zukunftseinstellung vieler unserer Mitglieder ist pessimistisch.
Würden sie sagen, dass die antisemitischen Vorfälle in Halle überwiegend mit Personen aus dem arabischen Raum in Verbindung stehen?
Ja.
Wie sieht das mit den klassischen, neonazistischen Übergriffen aus, sind die mittlerweile vollkommen verschwunden?
Die Friedhofsschändungen auf den jüdischen Friedhöfen des Landes mit Hakenkreuzen gibt es weiterhin – nicht jedoch in Halle. Ich würde aber weder sagen, dass klassischer Antisemitismus neonazistisch war und ist, noch dass neonazistischer Antisemitismus vollkommen verschwunden ist. Die Verschwörungstheoretiker sind meistens ultra-rechts und die Theorie der jüdischen Weltverschwörung blüht wie lange nicht mehr. Auch in Halle, zum Beispiel bei den Montagsdemos vor einigen Monaten.
In der Vergangenheit spielte der Antisemitismus von links eine größere Rolle. Sind in Halle auch Übergriffe von linker Seite her zu verzeichnen?
In Halle sind mir keine Übergriffe aus der linken Szene bekannt. Allgemein würde ich sagen, dass der Antisemitismus in allen Parteien präsent ist. Man kann nicht sagen, dass die AfD in dieser Hinsicht »besser« oder »schlechter« als andere Parteien ist.
Gern wird zum Beispiel zwischen klassischem Antisemitismus und Israelhass unterschieden. Wie sehen sie das?
Ich sehe keine Unterschiede zwischen klassischen Antisemiten und Israelhassern. Israelhass ist einfach ein bis jetzt leider erfolgreicher Versuch, Antisemitismus in Deutschland salonfähig zu machen.
Bekommen sie Unterstützung oder Rückhalt gegen die Übergriffe?
Sie meinen wahrscheinlich, ob wir ausreichend von der Polizei geschützt sind? Das kann ich nicht beurteilen. Die Stadt Halle ist nicht Berlin, München oder Frankfurt. Andererseits hört man immer wieder, dass der eine oder andere Terrorverdächtige auch in kleineren Städten aufgespürt wurde. Wir stehen in Kontakt zu den Behörden. Ob es ausreichend ist? Das müssen die Behörden besser einschätzen können.
Bei der Frage hatten wir weniger an das Verhalten von Polizei und Behörden gedacht. Wir meinten hier vor allem, ob Sie vonseiten der Politik oder der Öffentlichkeit Unterstützung oder Rückhalt erfahren.
Was bedeutet »Unterstützung und Rückhalt vonseiten der Politik oder der Öffentlichkeit«? Man kann verbal unterstützen oder auch mit konkreten Taten. Die verbale Solidarität ist da, insbesondere an den Gedenktagen wie dem 9. November oder dem 27. Januar. Und diese Solidaritätsbekundungen sind zumindest bei den hallischen Politikern nicht nur leere Worte, sondern sie kommen »von der Seele«. Leider fehlen die Taten. Es geht dabei nicht um die konkreten Maßnahmen im Paulusviertel, wo die Synagoge steht oder insgesamt in der Stadt Halle. Es geht um wirklich durchgreifende Programme. Nicht mit dem Ziel, Geld für die Integration auszugeben und somit nach oben über die Erfolge zu berichten. Sondern um Programme, die zumindest bei ehrlichen und lernfähigen Zugewanderten dem aus den muslimischen Heimatländern mitgenommenen Antisemitismus etwas entgegenstellen können. Um diese Programme erfolgreich durchzuführen, muss man mindestens sich selber überzeugen, dass sie unumgänglich sind. Und Letzteres ist leider nicht der Fall. Die voreingenommene, israelfeindliche Position von vielen Medien und Politikern macht es kaum möglich, etwas anderes in der Integrationsarbeit zu erreichen. Deswegen habe ich Ihre Frage in Bezug auf Polizei und Sicherheitsbehörden verstanden. Denn diese Zusammenarbeit und Unterstützung ist für uns immens wichtig.
Gibt es Bestrebungen organisierter Muslime in Halle, dem Antisemitismus in deren eigenen Reihen entgegenzuwirken?
Leider nicht. Und nicht nur in Halle.
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