Die deutsche Linke bringt Martin Luther wenig Sympathie entgegen. Auch ihre Kritik hat dazu beigetragen, dass die halbe Bundesrepublik das Reformationsjubiläum im vergangenen Jahr dazu nutzte, zum Landessohn auf Distanz zu gehen. Doch anstatt diesen Wandel in der öffentlichen Meinung anzuerkennen, tun antideutsche Gruppen weiter so, als genieße Luther innerhalb der Berliner Republik noch einen uneingeschränkten Heldenstatus. So ist es inzwischen vor allem die deutsche Linke, die zur Geschichtsklitterung beiträgt, indem sie der Reformation jeden Beitrag zur Aufklärung abspricht. Mit ihrem dumpfen Luther-Bashing ist sie viel weiter von der historischen Wahrheit entfernt als die evangelische Kirche mit ihrem Reformationsbild. Statt die Kritik an Luther zu schärfen, trägt die deutsche Linke einfach die dümmsten Vorwürfe der deutschen Presse auf die Straße. Harald-Jürgen Finke erinnert angesichts dieser Einhelligkeit von Feuilleton und Antifa an die historischen Hintergründe der Reformation, die mehr zur Aufklärung der Gesellschaft beigetragen hat, als es Luthers Gegner wahrhaben möchten. Der Text ist die abgeänderte Fassung eines Vortrages, den der Autor im Oktober vergangenen Jahres bei der Veranstaltung »Luthers Erben – Über den Reformator und seine Gegner« in Halle hielt.1
Luthers Beitrag zur Aufklärung.
Der ehemalige Bundespräsident Gauck war einer der wenigen politischen Funktionäre, der sich während des Reformationsjubiläums im vergangenen Jahr bemühte, den einstigen Nationalhelden in das Selbstbild der Berliner Republik zu integrieren. Aber auch der Pfaffe, der zu einem besinnlichen Gedenkabend zu Ehren Luthers ins Schloss Bellevue lud, ließ den Judenhass des deutschen Reformators während des Festakts zur Eröffnung des Jubiläums nicht unerwähnt. Ebenso ging Margot Käßmann, die wohlgemerkt als Reformationsbotschafterin durchs Land zog, in Interviews immer wieder auf Distanz zum Ahnherrn der evangelischen Kirche. Die deutsche Presse wollte ohnehin lieber über Luthers – tatsächliche oder vermeintliche – Verfehlungen sprechen als über seine möglichen Verdienste. Noch der absurdeste Vorwurf fand einen Redakteur, der ihm ein paar Zeilen im Feuilleton einräumte.
Die Frankfurter Rundschau betitelte die Reformation als »Islamismus des Christentums«.2 Der deutsche Reformator habe die reine Lehre des Christentums wiederherstellen wollen: »Mit Aufklärung hatte dieser Luther nichts zu tun. Was es vor ihr gab, den Humanismus, hat er bekämpft.« Der Spiegel eröffnete seine Reihe zum Reformationsjubiläum mit dem Titel »Luther – Der erste Wutbürger«.3 Während das konservative Blatt aus Frankfurt Luther zum Gotteskrieger erklärte, machte ihn das Hamburger links-liberale Enthüllungsmagazin zum Lutz Bachmann der frühen Neuzeit. Die Stoßrichtung des Leitartikels der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) zum Reformationsjubiläum überrascht da nicht mehr wirklich. Die wirtschaftsliberale Zeitung betitelte den deutschen Theologen als »Antikapitalisten«, der in »einer globalisierungskritischen Öffentlichkeit viel Resonanz« gefunden hätte.4 So machte sie aus einem Mann, der noch mit der Kutsche unterwegs war, einen Vorkämpfer der No-Global-Bewegung. Das Spiel »Sag mir, was Luther für dich ist, und ich sag dir, welche Zeitung du liest« lässt sich fortsetzen. Die Wochenzeitung Die Zeit, deren Leser sich für Religion immer begeistern können und gerne aus ihrer Ernährung ein Glaubensbekenntnis machen, aber der Kirche zutiefst misstrauen, titelte: »Martin Luther, der Vater des Arbeitsfetischs«.5 Im Gegensatz zur FAS spricht der Autor dem Eislebener Bergarbeitersohn eine gewisse Mitverantwortung für die Auflösung der feudalen Verhältnisse zu – als Mitbegründer des Protestantismus habe er zur Zersetzung der mittelalterlichen Haus- und Wirtschaftsgemeinschaften beigetragen. Das sei jedoch kein Verdienst, sondern ein Verrat an der Religion: »Die Kirche und der Kapitalismus haben Jesus verraten. Der Protestantismus hat den Kapitalismus beflügelt und dabei die sozialrevolutionären Lehren Jesu entweder pervertiert oder schlichtweg verleugnet.« Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn Die Zeit dem Augustinermönch vorwirft, er hätte den Mammon vergötzt. Denn immerhin hat Luthers Theologie maßgeblich jenen Innerlichkeitskult mitbegründet, dem die Leserschaft des Hamburger Akademikerblattes so nachhängt.
Auch wenn sich das deutsche Feuilleton widerspricht, so ist man sich doch einig darin, dass die Reformation ein reaktionäres Projekt gewesen sei. Die Anklage lautet entweder, sie hätte die Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise durch ihre Heiligsprechung der Arbeit befördert, oder dass sie das Christentum mit aller Gewalt erneuern wollte, als es sich im ausgehenden Mittelalter in einer Krise befand. Dass die Reformatoren, die die Unmittelbarkeit des Glaubens wiederherstellen wollten und die Kirche als Institution bekämpften, in dieser Absicht auch den Prozess der Säkularisierung befördert haben – insofern sie aus der gesamten Welt ein Gotteshaus gemacht und jeden zu seinem eigenen Pastor erklärt haben – kommt ihren Kritikern nicht in den Sinn. Die Reformation war nicht bloß ein fundamentalistisches Projekt zur Erneuerung des Glaubens, sondern hat ebenso zu seiner Rationalisierung beigetragen, wie schon ihre Vorgeschichte verdeutlicht.
Markt und Fegefeuer
Seit dem 14. Jahrhundert hatte sich der Markt innerhalb der feudalen Gesellschaftsstruktur langsam ausgedehnt. Immer mehr Menschen gerieten in den Einflussbereich des Warenhandels. Die Feudalherren verschuldeten sich bei den Kaufmännern. Zur Tilgung traten sie Handelsprivilegien und Pachtrechte ab. Deshalb mussten die bedrängten Fürsten viele Bauern aus dem Frondienst entlassen. Die Knechte entkamen zwar der Knute ihrer Grundherren, waren jedoch fortan gezwungen, ihre Erzeugnisse selbst zum Markt zu tragen. Wer nichts anderes mehr besaß, musste seine Arbeitskraft verkaufen. Die Arbeit begann sich ab dieser Zeit sukzessive von einem Dienst in eine Ware zu verwandeln, auch wenn es bekanntermaßen noch Jahrhunderte dauerte, bis diese Entwicklung mit der politischen Abschaffung der Leibeigenschaft in den Industrieländern ihr Ende fand. Im Zuge der Ausdehnung des Handels erlangten viele Menschen zwar relative Freiheiten, verloren jedoch zugleich gewisse Sicherheiten, die ihnen das starre Ordnungsgefüge des Feudalismus geboten hatte. Die Bauern und Handwerker, die dem Dienst entkamen, mussten sich auf bestimmte Arbeiten spezialisieren und sich hierfür mitunter von ihrem Boden trennen. Die Fürsten verloren angestammte Rechte, tradierte Privilegien sowie regelmäßige Einkünfte. Und die Geschäftstreibenden nötigte das beschleunigte Marktgeschehen dazu, immer neue Unternehmungen einzugehen, um den Anschluss nicht zu verlieren.
Die neuen Ängste und Unsicherheiten äußerten sich auch vor dem Altar. So wuchs die Frömmigkeit in den Jahrhunderten vor der Reformation beständig an. Vor allem in Nordeuropa verbreitete sich, parallel zur Ausdehnung des Marktes und mit den regelmäßigen Ausbrüchen der Pest, die Furcht vor dem Fegefeuer, die sich zuweilen in Massenhysterien entlud. Nach den landläufigen Vorstellungen war das Purgatorium ein Zwischenreich, in dem der Mensch für eine gewisse Frist leiden musste, bevor er überhaupt in den Genuss der himmlischen Seligkeit kommen konnte. Um die Zeit des Aufenthalts zu verkürzen, konnte der Gläubige für sich und verstorbene Verwandte um Fürbitte ersuchen, indem er Messfeiern abhielt, Wallfahrten antrat und Geld stiftete. Der Erwerb von Ablassbriefen war nur ein möglicher Versuch, die Barmherzigkeit Gottes zu erwirken. Das Geschäft mit der Fürbitte bot die Option, sich bereits zu Lebzeiten des eigenen Heils zu vergewissern. So hegte die Furcht vor dem Fegefeuer auch die Ängste, die Markt und Seuchen hervorriefen, ein. Denn während die Menschen dem Auf- und Ab von Preis und Pest hilflos ausgeliefert waren, konnten sie etwas tun, um die Zeit im Purgatorium zu verkürzen.
Geschäft und Glaube
Das breite Bedürfnis, sich Gottes Fürsorge bereits zu Lebzeiten zu versichern, geriet jedoch zusehends in Widerspruch zu den weltlichen Anforderungen. Das System der Fürbitte verlangte nicht zuletzt Zeit und Geld, während das Tagesgeschäft die Menschen zur immer stärkeren Rationalisierung ihrer Mittel zwang. So erfreuten sich bald andere Andachtsformen wie der Rosenkranz steigender Beliebtheit, die den profanen Interessen der Geschäftstüchtigen entgegenkamen und gleichzeitig dem weitverbreiteten Bedürfnis nach einer intimeren Beziehung zum Herrn genügten. Nicht nur Geschäftsleuten und Kaufmännern missfiel zunehmend die Form der offiziellen Kirche, die sich auf die Mittlerrolle der Priester bei der Erteilung der Sakramente stützte und von den Gläubigen Werke verlangte. Auch die Fürsten und der niedere Klerus nördlich der Alpen, denen das weit entfernte Rom wenig zu bieten, aber vieles zu nehmen hatte, fanden an dem Gedanken einer nach innen gerichteten Frömmigkeit Gefallen. Jene Schichten, die weniger an Altar und Thron gebunden waren, dafür umso mehr vom Marktgeschehen abhingen, hatten zudem ihre eigenen materiellen Interessen. Unmittelbar vor der Reformation befand sich etwa ein Drittel des Landes in Mitteleuropa in der Hand der Kirche. Die Anhäufung von Reichtümern über Abgaben und Ablass sowie den lukrativen Ämterhandel empfanden auch diejenigen, die nicht von einem tiefen Glauben beseelt waren – und dies waren die wenigsten –, als ein frevelhaftes Verbrechen. Vor einem halben Jahrtausend ereiferte sich der gesamte Norden des Kontinents über den Papst, der mit den Ablassgeldern Prunkbauten wie die Basilika St. Peter errichten ließ. Die Angriffe richteten sich nicht allein gegen den Klerus, der allzu sehr auf sein eigenes Seelenheil bedacht zu sein schien. Ebenso trafen sie das Klosterleben der Mönche, die sich des weltlichen Lebens in der stillen Überzeugung entsagten, Gott damit näher zu kommen. Die zahlreichen Orden riefen wachsenden Missmut hervor. Den Brüdern wurde nicht nur nachgesagt, sie seien faul, liederlich und würden mehr Zeit in der Schenke verbringen als am Pult beim Studium der heiligen Schrift. Ihre gesamten Bemühungen um ein gottgefälliges Leben in Enthaltsamkeit wurden der Lächerlichkeit preisgegeben. Zwar galt vielen die disziplinierte Lebensweise der Mönche als Vorbild, gleichzeitig erblickte man in ihrer Abschottung jedoch den unredlichen Versuch, sich seiner weltlichen Pflichten zu entziehen.
Martin Luther war nicht der erste, der die mönchischen Ideale auf alle Menschen übertragen wollte und gleichzeitig die Auflösung der Klöster forderte. Den Gedanken, dass sich Gott keineswegs nur während der Messe, sondern auch auf dem Feld, dem Markt und im eigenen Heim ohne die Anwesenheit eines Geistlichen näher kommen lasse, hatten bereits vorher die Humanisten unter den gebildeten Schichten Nordeuropas verbreitet. Für Erasmus von Rotterdam war das Gemeinwesen nichts anderes als ein großes Kloster. Gleichzeitig wetterte er gegen die Absonderung der Mönche. Nach ihm müsse sich der Glaube im Alltag beweisen. Er beruhe weniger auf Werken und Zeremonien als auf innerer Gewissheit und strenger Disziplin. Während Erasmus der alten Kirche noch die Treue hielt, brach Luther mit ihr und formte so aus diesen Gedanken ein neues Bekenntnis. In seiner Theologie ist vieles von dem humanistischen Glaubensbekenntnis enthalten, in dem sich religiöser Eifer und profane Interessen seltsam miteinander verbanden.
Körper und Geist
Luthers Theologie gründet auf der Zwei-Reiche-Lehre des Neuen Testaments. In seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen formulierte er die zentralen Gedanken der Reformation: Die Versöhnung mit Gott finde allein im Glauben statt, sei also nicht durch Werke herbeizuführen. Aus diesem Grund lehnten die Reformatoren das gesamte System der Fürbitte ab. Jeder Versuch, Gottes Gunst zu erlangen – etwa durch die Anrufung von Heiligen –, sei ein frevelhaftes Bemühen des Menschen. Er beweise damit nur, dass er Gnade nicht verdient hat. So gibt es Luther zufolge nichts, was die Menschen tun können, um Heilsgewissheit zu erlangen. Weder das Abhalten von Messfeiern, noch das Antreten von Wallfahrten, erst recht nicht der Erwerb von Ablassbriefen, könnte sie dem Seelenheil näher bringen. Ihnen bliebe nur übrig, in der ständigen Ungewissheit und äußersten Verzweiflung den aufrechten Glauben an Gottes Gerechtigkeit und Güte zu bewahren. Nach Luther geschieht die Rechtfertigung des Menschen vor Gott somit allein aus dem Glauben heraus. Diese Auffassung enthält jedoch keinen Freibrief für Sonntagsheilige, die es mit den Geboten und Pflichten eines Gläubigen nicht so genau nehmen. Denn auch wenn gute Taten nicht das Seelenheil garantieren, verraten Tun und Lassen doch etwas über die Festigkeit des Glaubens.6 Laut der dualistischen Theologie Luthers ist der innerliche Mensch frei. Im Glauben habe er an Gottes Verheißungen und Zusagen teil. Der äußere Mensch sei jedoch an den Leib und die Welt gebunden. Er müsse die unzähligen Anfechtungen durch das Fleisch abwehren und die Pflichten des Alltags erfüllen.7 Damit steht er vor der doppelten Aufgabe, der weltlichen Herrschaft unbedingt Gehorsam zu leisten und die körperlichen Regungen durch »Fasten, Arbeiten und Wachen« zu bändigen. Auf der Basis seines Dualismus billigt Luther den Menschen nur dann Widerstand gegen die weltliche Obrigkeit zu, wenn diese ihren Machtanspruch auf das Reich des Glaubens ausweitet.
Eine Quelle für Luthers Theologie ist die Augustinische Gnadenlehre, die besagt, dass der Mensch nicht in der Lage ist, sich seine Erlösung zu verdienen. Stattdessen sei er seit dem Sündenfall Adams und Evas bis ins Mark verdorben. Dieses Menschenbild Luthers begründet den Unterschied zu den Humanisten des ausgehenden Mittelalters, die davon ausgingen, dass der Einzelne grundsätzlich zur Besserung fähig sei, er somit Gottes Gesetzen und Geboten genügen könne. Ihnen zufolge kann es also eine reale Versöhnung zwischen Mensch und Gott geben. Bei Luther ist sie indes nur als geistiger Akt vorstellbar. Seine Gegner vergessen gerne, dass diese Vergeistigung nicht mit der Aufgabe jeglicher Erlösungsvorstellung gleichzusetzen ist. Denn indem Luther den Menschen jede Möglichkeit abspricht, im Hier und Jetzt auf Gott einzuwirken, rettet er die Hoffnung auf eine zukünftige Versöhnung.8 Anstatt das Individuum zu verherrlichen, das im Sinne des bürgerlichen Skeptizismus allein Geltung beanspruchen soll, ist in seiner Theologie der Gedanke an eine höhere Gerechtigkeit aufgehoben. Die Erfüllung der weltlichen Pflichten hält Luther zwar für notwendig, sie sei aber keine Vorarbeit für die Erlösung. Dies unterscheidet seine Lehre vom Methodismus und Puritanismus, nach denen die Lebensführung eines Gläubigen unmittelbar darüber Aufschluss gewährt, ob er an Gottes Gnade teilhat. John Wesley etwa verherrlichte den gesellschaftlichen Zwang in viel stärkerem Maße als Luther. Diese Differenz zwischen der Anschauung von Lutheranern und Puritanern missachtet das Feuilleton ebenso wie die unfreundlichen Aspekte des humanistischen Menschenbildes. Denn der Glaube der Humanisten, dass der Einzelne in der Lage sei, ein Leben gemäß den Geboten und Gesetzen der Bibel zu führen, leistet einem moralischen Rigorismus Vorschub, der nur wenig Nachsehen mit menschlichen Schwächen hat. Auf der anderen Seite wird übersehen, dass das protestantische Menschenbild zwar Strenge und Härte rechtfertigt, jedoch ebenso die Möglichkeit der Nachsicht enthält. Wenn der Einzelne per se den christlichen Idealen nicht genügen kann, so relativiert dies auch seine Vergehen. In Luthers Gnadenlehre verlieren die guten Werke an Bedeutung für das Seelenheil, genauso aber – zumindest tendenziell – die schlechten Taten.9
Im Gegensatz zur Lehre der mittelalterlichen katholischen Kirche verlangten die Reformatoren von den Menschen jedoch nicht einfach die Unterdrückung der sündhaften Begierden. Sie diskreditierten verstärkt das Verlangen selbst. Schon der Wunsch beflecke den aufrichtigen Glauben an Gott. Nach ihrer Lehre lauert nicht nur überall die Sünde, vielmehr hätten sich die Agenten des Teufels längst im Inneren der Menschen eingenistet. Der hervorstechende Zug der protestantischen Lehre ist eben diese Verdammung der leiblichen Begierden. So liefert Luthers Theologie die Rechtfertigung für die bürgerliche Ideologie, die den Geist preist und die Sinnlichkeit herabsetzt. Doch auch diese Haltung unterscheidet Luther weniger von den Humanisten, als es seine Gegner wahrhaben möchten. Nicht zuletzt Erasmus hegte einen wahren Ekel vor jeder sinnlichen Glaubensform.
Berufung zum eigenen Herrn
Luthers Verbannung Gottes ins unerreichbare Jenseits birgt noch eine weitere Konsequenz. Die Reformatoren sprachen den Menschen jede Möglichkeit ab, auf Gott durch die Anrufung von Heiligen einzuwirken. Damit degradierten sie sie zu passiven Empfängern göttlicher Gnade. Zugleich nahmen sie ihnen jedoch die falsche Hoffnung, durch Opfer (Wallfahrten, Messfeiern, Ablassbriefe) etwas für ihr Seelenheil tun zu können. So wurde es den Menschen ermöglicht, sich auf weltliche Angelegenheiten zu konzentrieren. Nach der Auffassung der alten Kirche galt die Arbeit allein als Fluch, der seit der Erbsünde auf der Menschheit laste. Die Reformatoren haben sie aufgewertet. Diejenigen, die in der Abschaffung zahlreicher Feiertage durch die Protestanten allein das Resultat eines Arbeitswahns sehen wollen, vergessen, dass die Maloche auch vor dem Thesenanschlag Luthers ein realer Zwang war. Die Menschen mussten nicht mehr rackern als bisher, nur weil die Pastoren die Arbeit lobten. Durch die Aufwertung von Arbeit und weltlichen Angelegenheiten haben die Reformatoren nicht nur die Ausbeutung gerechtfertigt, sondern den Menschen auch den Gedanken nahe gebracht, dass sie Herrn ihres eigenen Schicksals sind – da Gott ihnen nicht helfen wird, sind sie auf sich allein gestellt. Anstatt nur die Sakramente der Priester zu empfangen, kann der Mensch nun in der Welt seinen Glauben festigen. Zwar existiert in Luthers Theologie die Erlösung nur als göttlicher Gnadenakt, den der Herr aus Erbarmen vollzieht. Doch in der Verbannung Gottes aus der Welt ist die Berufung des Menschen zum Herrn seines eigenen Schicksals zumindest angelegt.
Allein die Schrift
Die Reformation hat viele Menschen aus der Vormundschaft der alten Kirche befreit, die sich selbst als »Heils- und Erlösungsanstalt« verstand. Sie dachte das religiöse Opfer noch als besondere Tat, die zu Ehren Gottes erbracht wird. Im Protestantismus hingegen wird das Glaubensbekenntnis zu einem Akt der geistigen Hinwendung sublimiert. Für die humanistischen und protestantischen Reformatoren war die Heilige Schrift die wichtigste Quelle der göttlichen Offenbarung. Den Erzählungen der Priester und Bischöfe, die sich auf die apostolische Sukzession beriefen, um ihre Macht zu begründen, misstrauten sie indes.
Im Protestantismus gewinnt so das Wort, das der Idee nach allen zugänglich ist, an Gewicht gegenüber der mündlichen Überlieferung, an der nur der geweihte Klerus teilhat. So übersetzten die Reformatoren das Alte und Neue Testament in die jeweiligen Landessprachen. Sie stellten zudem die Predigt ins Zentrum der Liturgie. Wo sich der Protestantismus durchsetzte, erfuhren die Kirchen eine rasche Umgestaltung. Die Stuhlreihen wurden um neunzig Grad gedreht, sodass die Gläubigen nicht mehr auf den Altar blickten, sondern auf die Kanzel. Die Verkündung des Wortes rückte in den Mittelpunkt, während die priesterlichen Zeremonien bei der Erteilung der Sakramente an Bedeutung verloren. Die protestantischen Gemeinden führten Unterricht ein, in dem die Menschen anhand des Katechismus in Glaubensfragen unterwiesen worden. So trugen sie auch dazu bei, zahlreiche Menschen an abstrakte Gedanken zu gewöhnen, die sich im Alltag nur dem Naheliegenden widmeten. Anhand von Testamentsbestätigungen lässt sich zumindest für einige gemischtkonfessionelle Regionen Europas zeigen, dass protestantische Haushalte deutlich mehr Bücher besaßen als katholische. Diese Affinität für das Wort dürfte auch ein Grund dafür gewesen sein, dass viele humanistische Anhänger der alten Kirche, die während der Gegenreformation der Häresie beschuldigt wurden, Zuflucht bei den Protestanten suchten.
Luthers Gegner
Die protestantische Lehre hat zweifellos die Verinnerlichung von Herrschaft befördert. Die Reformatoren richteten die Menschen jedoch nicht nur für den Markt zu, indem sie von ihnen Disziplin und Gehorsam verlangten, sondern erzogen sie auch zur Mündigkeit. Von alldem wollen Luthers Gegner nichts wissen. Sie interessieren sich weder für die Unterschiede, noch für die Gemeinsamkeiten zwischen Humanisten und Protestanten. Nach ihrer Erzählung, die an die Auffassungsgabe eines Vorschulkindes angepasst zu sein scheint, ist Luther der von Gott besessene Bad Guy, der die Menschen hasst, während Erasmus von Rotterdam zum freundlichen Schokoonkel verklärt wird. Besonders merkwürdig wird es, wenn antideutsche Linke plötzlich beginnen, dass Ablasssystem der katholischen Kirche zu retten, nur weil ihnen – verständlicherweise – der Antikatholizismus hierzulande zuwider ist. Oder wenn sie sich auf Max Weber berufen, um Luther zum Vater eines angeblich spezifisch deutschen Arbeitswahns zu erklären – völlig unbeeindruckt davon, dass der deutsche Soziologe den Ursprung der protestantischen Erwerbsethik explizit nicht bei den Lutheranern verortete, sondern bei den Vertretern calvinistischer Traditionslinien. So sind die Einlassungen der deutschen Linken zum Wittenberger Reformator leider oftmals nur wenig klüger als die Lobeshymnen der wenigen verbliebenen Fans auf Junker Jörg. Dabei könnte eine kritische Auseinandersetzung mit der Reformation interessante Erkenntnisse zu Tage fördern, etwa über die theologischen Ursprünge bürgerlicher Ideologie und ihre spezifische Form in Deutschland. Aber um solche Einsichten zu erlangen, müsste sich die Linke vorab von liebgewonnen Gewissheiten verabschieden. Davon ist sie derzeit weit entfernt. Sie macht stattdessen, was sie in den vergangenen Jahren meistens getan hat: Sie stößt, was fällt.
Harald-Jürgen Finke
Verwendete und weiterführende Literatur:
Knut Germar: Entsorgung eines Nationalhelden, Bahamas Nr. 77, 2017.
Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen.
Diarmaid MacCulloch: Die Reformation 1490–1700, München 2008.
Gerhard Stapelfeldt: Aufstieg und Fall des Individuums, Freiburg 2014.
Hugh Trevor-Roper: Religion, Reformation und sozialer Umbruch. Die Krise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1970.
Anmerkungen:
1 Den zweiten Vortrag hielt Knut Germar. Er ist unter dem Titel Entsorgung eines Nationalhelden in der Bahamas Nr. 77 abgedruckt und widmet sich der linken Luther-Kritik während des Reformationsjubiläums.
2 Arno Widmann: Der Islamismus des Christentums, Frankfurter Rundschau, 30. Oktober 2016.
3 Zum Vergleich: 2003 titelte der Spiegel noch: »Martin Luther – Abschied vom Mittelalter«.
4 Ralph Bollmann: Der Anti-Kapitalist, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30. Oktober 2016.
5 Patrick Spät: Martin Luther, der Vater des Arbeitsfetischs, Onlineausgabe Die Zeit, 25. November 2016.
6 »Die Werke, gleichwie sie nicht gläubig machen, so machen sie auch nicht fromm; aber der Glaube, gleichwie er fromm macht, so macht er auch gute Werke.« (Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen.)
7 »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemanden untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« (Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen.)
8 Nach Luther kann der Mensch zwar nichts tun, um die Erlösung zu erlangen. Aber er kann den aufrichtigen und unbeirrten Glauben an Gott bewahren. So wird die Versöhnung bei Luther zu einem geistigen Akt: »Nun sind diese und alle Gottesworte (im Neuen Testament, Anm. Finke) heilig, wahrhaftig, gerecht, friedsam, frei und aller Güte voll; darum, wer ihnen mit einem rechten Glauben anhängt, des Seele wird mit ihm vereinigt so ganz und gar, daß alle Tugenden des Wortes auch eigen werden der Seele und also durch den Glauben die Seele von dem Gotteswort heilig, gerecht, wahrhaftig, friedsam, frei und aller Güte voll, ein wahrhaftiges Kind Gottes wird, wie Johann. 1 sagt: ›Er hat ihnen gegeben, daß sie mögen Kinder Gottes werden, alle, die in seinem Namen glauben.‹« (Ebd.)
9 »So beweist z. B. das Gebot: ›Du sollst keine böse Begierde haben‹ (2. Mose 20, 17), dass wir allesamt Sünder sind und dass kein Mensch ohne böse Begierde zu sein vermag, er mag tun, was er will.« (Ebd.)
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