Die Reilstraße 78
und ihr Faible für Kultur.
Es gibt eine Reihe von Beispielen, mit denen Rassismus treffend veranschaulicht werden kann. Die Annahme, Polen wären kleptomanisch veranlagt, zählt ebenso dazu wie der Glaube, Afrikaner könnten von Natur aus besonders gut Trommeln oder Italiener wären geborene Liebhaber. Solche Aufzählungen können in Zukunft um ein Ammenmärchen erweitert werden, das aus den Reihen der Reilstraße 78 stammt. Dabei handelt es sich um einen linken Laden, der aus einer Hausbesetzung hervorgegangen ist und der sich auf die Fahnen schreibt, Rassismus nicht zu tolerieren.
In der Reil 78 ist man nämlich der Auffassung, Syrer seien kleine Dummerchen, die eine etwas längere Leitung haben als Deutsche. Daraus ergibt sich ein Verhaltenskodex, den es dringend zu beachten gilt: Man darf einen Syrer auf gar keinen Fall ernst nehmen. Daher verbietet es sich, ähnlich wie im Umgang mit kleinen Kindern, offen mit ihnen zu reden. Erzählt etwa ein Syrer Unfug oder gar Bösartiges, müsse Kritik besonders behutsam formuliert werden oder ganz unterbleiben. Stellt beispielsweise ein Syrer ein Palituch zur Schau, das heute weltweit für den Aufruf zum Judenmord steht, sollte man sich dennoch davor hüten, ihm gegenüber den gleichen Ton anzuschlagen, als würde es sich bei dem Träger des politischen Symbols um einen autochthonen Wittenberger, Leipziger oder Cottbuser handeln. Die Fixierung auf Herkunft wird allerdings nicht mehr auf angestaubte Rassentheorien zurückgeführt. An deren Stelle tritt heute ein Kulturverständnis, wonach die Kultur ebenso unabänderlich sein soll wie biologisch vererbte Eigenschaften. So wird im genannten Fall etwa das Tragen des Palituchs vor Kritik in Schutz genommen, da der schwarz-weiße Lappen substantieller Teil syrischer Kultur sei. Es wird so getan, als sei der Fetzen qua Geburt am Hals der Syrer wie ein Organ angewachsen.
Als wäre das Ganze nicht schon absurd genug, setzt das Plenum der Reilstraße 78 noch einen oben drauf. Das Plenum unterstellt Menschen, die sich nicht um die Herkunft ihres Gegenübers scheren und stattdessen die Symbolik des Textilstücks ernst nehmen, nun seinerseits Rassismus. So geschehen Anfang dieses Jahres, nachdem drei Personen auf einer Party einen syrischen Besucher wegen des Tragens des Palituchs zur Rede gestellt haben. Im Nachgang erteilt das Plenum den drei Personen Hausverbot in der Reil 78. Zur Begründung heißt es, das Ansprechen des syrischen Palituchträgers auf seinen Fetzen sei »offensichtlich rassistisch motiviert« gewesen. Dass sich überhaupt erst während des Gespräches herausstellte, dass es sich beim Gegenüber um einen Syrer handelt, ignoriert das Plenum. Die Hausverbote sind zwar wieder aufgehoben, doch auch in den darauf folgenden Gesprächen betont man mehrfach, dass syrische Palituchträger anders angesprochen werden müssten als deutsche.
Nun sollten jedoch auch die Leute aus der Reil 78 längst erkannt haben, dass das Unbehagen an Israel nicht allein Teil syrischen Brauchtums ist. Israelfeindschaft ist ebenso fester Bestandteil der deutschen Kultur. Trotzdem wird Kritik an antizionistischen Symbolen lediglich im ersten Falle als Rassismus denunziert. Folgt man der Logik dieses Gedankens konsequent, so wäre auch die Kritik an Israel- und Judenfeindschaft bei Bio-Deutschen als Rassismus zu brandmarken, denn Israel- und Judenfeindschaft sind Teil der deutschen Kulturgeschichte. Auf diese Idee kommt man allerdings nicht einmal im Hausprojekt. Das lässt wiederum nur einen Schluss zu: In der Reilstraße 78 spricht man allein den Syrern die nötigen Fähigkeiten zur Reflexion ab. Damit knüpft man ungewollt, aber erfolgreich an die Traditionen aus dem Zeitalter des Kolonialismus an, als man davon ausging, die Kolonialisierten wären nicht im gleichen Maße zur Zivilisation fähig wie die Kolonialherren.
AG No Tears for Krauts
In Zeiten, in denen es angeblich keinen Rassismus in Deutschland mehr gibt, vielmehr ein antirassistischer Konsens sich in Staat und Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt habe, der die Islamisierung der Gesellschaft vorantreibe – in diesen Zeiten darf plötzlich doch von Rassismus die Rede sein, von Rassismus ausgerechnet in einem linken Hausprojekt in Halle.
Dort organisierte man jüngst auch einen Vortrag zur angeblichen Beliebtheit des Palituches in der Linken. Ungestört konnte man seinen Vortrag dort organisieren und abhalten, in einem Hausprojekt in dem (wie im zweiten linken Zentrum Halles) Palitücher seit Jahren Hausverbot haben. In der hallischen Linken gibt es zudem keine Palitücher. Aber nun, man sollte sich in Halle mit der Beliebtheit des Tuches und der dahinterstehenden Ideologie trotzdem unbedingt intensiv auseinandersetzen.
Nun also geht es um Rassismus, und um Hausverbote. Lassen wir diesen aufschlussreichen Text für sich sprechen. „Drei Personen“, heisst es, hätten einen Syrer „zur Rede gestellt“. „Zur Rede gestellt“, weil er ein bestimmtes Kleidungsstück trug – was durch geschickte Formulierung suggestiv mit dem „Erzählen von etwas Bösartigem“ identifiziert wird. Der Syrer habe ein Palituch getragen, weshalb er wohl Antisemit sei, was syrisches Brauchtum sei. Es sei skandalös, ja rassistisch, wenn mit syrischen Antisemiten anders verfahren wird, als mit Deutschen.
Nun ist es nicht verwunderlich, dass man gerne seinem Hobby frönt, nämlich Leute anhand von Äußerlichkeiten zu kategorisieren und danach blockwartmäßig gegen sie vorzugehen, sie etwa in Überzahl „zur Rede zu stellen“. Es ist auch nicht verwunderlich, dass man nicht außerhalb seiner eigenen ostprovinziellen bubble die Welt wahrnehmen kann. In dieser bubble kennt man das Palituch nur als Palituch, und da man es früher selber getragen hat, muss man die eigene Linie vor dem inneren ZK mit schärfster Abgrenzung („Antisemiten!“) immer wieder beweisen. Der Mob gegen einen Palituchträger bietet zudem politisch legitime maskulinistische Gruppendynamik, zwei Fliegen mit einer Klappe.
Dummerweise gibt es eine Welt jenseits der bubble, und in dieser existiert das als Palituch bezeichnete Tuch schon länger als ostdeutsche Antideutsche, länger als westdeutsche Antiimps, länger als Arafat und länger als Amin al-Husseini. Es existiert in dieser auch jenseits von Palästinensern und zwar in weiten Teilen Syriens, in Jordanien, in den kurdischen Gebieten des Vier-Länder-Ecks. Überall dort wird das Tuch, was eigentlich Keffiyeh heißt, schon seit vielen, vielen Jahrzehnten getragen. Mit Israel und Palästinensern hat das in all diesen Fällen nichts zu tun. Das muss man nicht wissen, auch nicht, dass viele junge Syrer im Exil die Keffiyeh als Symbol der syrischen Revolution tragen, oder viele junge Kurden sie als Symbol der kurdischen Nationalbewegung tragen. Man muss sich auch für die Kriege und das Leid in der Herkunftsregion dieser Leute nicht interessieren.
Aber dass es gerade angesichts dieser Tatsache problematisch sein könnte, wenn „drei Personen“ (vermutlich weiße Männer?) einen Syrer „zur Rede stellen“, ihn vermutlich zum Ablegen eines Kleidungsstückes auffordern, auf eine Weise, die er als Bedrohung empfindet….darauf könnte man ja schon kommen. Es kann sein, dass bei diesem Vorfall übergriffig und rassistisch agiert wurde. Dann würde das Hausverbote rechtfertigen. Darauf wird im Text auch nicht eingegangen. Im Text wird aber ausführlich erklärt, dass man nicht versteht, was der Unterschied ist zwischen einem Deutschen, der ein PALITUCH trägt als Zeichen von sogenannter Israelkritik und pro-palästinensischer Haltung, zu einem Deutschen, der komplett unpolitisch ist und sich ein Tuch bei H&M kauft, damit aber im deutschen Palituch-Diskurs-Kontext wahrgenommen wird, zu einem Syrer, der ein traditionelles syrisches Tuch trägt wie ein Bayer in der Diaspora eine Lederweste oder ein Ostfriese eine Ostfriesenmütze. Wobei der Syrer, wenn er das Tuch als politisch-nationales Symbol trägt, zudem ganz andere Bezüge aufrufen will. Das alles komplett zu ignorieren und nur zum hundertsten Mal etwas von Lappen und anti-Israel-Brauchtum zu schreiben, rechtfertigt zwar keine Hausverbote, aber zumindest das Nichternstnehmen.
Dieses ganze Gelaber über die vermeintlich ewige Existenz des Palituchs, die weit über seine Verknüpfung mit dem Abschlachten von Juden hinaus gehe und in diesem Zusammenhang auch heute noch getragen werde, funktioniert nur, wenn man vollkommen ausblendet, dass die Keffiyeh selbst einen Bedeutungswandel hinter sich hat. Von diesem Wandel zeuget etwa die Tatsache, dass die mehrfarbigen Varianten mittlerweile nahezu verschwunden sind zugunsten der zweifarbigen Variante, die seit dem arabischen Aufstand als Symbol des antizionistischen Kampfes beliebt sind. Und auch als Symbol der syrischen Revolution und der kurdischen Nationalbewegung ist das Tuch in seiner jetzigen Form nicht einfach vom Himmel gefallen. Denn auch in diesen Fällen erlangte das Tuch seine Bedeutung in Anlehnung an den vermeintlichen Befreiungskampf der Palästinenser. Anstatt aber mal zu fragen, was daran problematisch sein könnte, bemühst du hier zum Zweck der Kritikabwehr die ahistorische Mär von Urururgroßvaters Tradition.
Im Übrigen aber, und das macht deinen Kommentar so wertvoll, bestätigst du doch, wovon die Autoren hier berichtet haben: Dass es linke Kreise gibt, die überzeugt davon sind, man hätte mit einem syrischen Palituchträger anders umzugehen, als mit einem deutschen. Nicht umsonst überliest du diesen Textabschnitt: „Zur Begründung heißt es, das Ansprechen des syrischen Palituchträgers auf seinen Fetzen sei »offensichtlich rassistisch motiviert« gewesen. Dass sich überhaupt erst während des Gespräches herausstellte, dass es sich beim Gegenüber um einen Syrer handelt, ignoriert das Plenum.“; und behauptest stattdessen einfach: „Es kann sein, dass bei diesem Vorfall übergriffig und rassistisch agiert wurde. Dann würde das Hausverbote rechtfertigen. Darauf wird im Text auch nicht eingegangen.“
Welche Rolle spielt es, dass die „drei Personen“ mutmaßlich weiß sind? Was wäre anders, wenn die „drei Personen“ nicht weiß wären? Wäscht die vermeintlich ursprünglichere Bedeutung des „Keffiyehs“ das Blut von diesem globalen Emblem des internationalen Judenhasses?
Folgendes Zitat von Ihnen entlarvt sich selbst: „Im Text wird aber ausführlich erklärt, dass man nicht versteht, was der Unterschied ist zwischen einem Deutschen, der ein PALITUCH trägt als Zeichen von sogenannter Israelkritik und pro-palästinensischer Haltung, zu einem Deutschen, der komplett unpolitisch ist und sich ein Tuch bei H&M kauft, damit aber im deutschen Palituch-Diskurs-Kontext wahrgenommen wird, zu einem Syrer, der ein traditionelles syrisches Tuch trägt wie ein Bayer in der Diaspora eine Lederweste oder ein Ostfriese eine Ostfriesenmütze.“ Purer Kulturalismus! Auch einem strammen Neo-Nazi mit H&M-Keffiyeh muss zugestanden werden, das Kleidungsstück aus Sympathie mit der Syrischen Revolution zu tragen. Es wäre rassistisch, ihn aufgrund seiner Situiertheit Böses zu unterstellen.
Wenn das Tragen des Palituches mit Israel und Palästinensern nichts zu tun haben soll, weshalb sieht man dann ausgerechnet auf antiisraelischen Demos so viele von den Dingern?
https://dubisthalle.de/palaestinenser-protestieren-am-steintor2
PS: Die Dame mit dem motorisierten Rolli stammt übrigens aus Damaskus.
Btw: Im Gegensatz zu den Nahostexperten scheinen die Syrer und Kurden in Halle noch nicht zu wissen, dass es sich beim Palituch um ein Symbol ihrer politischen Absichten handelt:
– https://dubisthalle.de/kurden-in-halle-protestieren-gegen-krieg-im-irak
– https://dubisthalle.de/syrer-demonstrieren-gegen-russland-is-und-assad