Die erste und bislang einzige armenische Gemeinde Ostdeutschlands wurde in Halle gegründet. Vor sechs Jahren weihte sie den ersten armenisch-orthodoxen Kirchenbau Deutschlands ein. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in Halle am 24. April 2015 auch ein Gedenkstein für die Opfer des Genozids an den Armeniern errichtet wurde. Der Einweihung des Steins wohnten der hallische Oberbürgermeister Bernd Wiegand und Sachsen-Anhalts Kultusminister Stephan Dorgerloh bei. Der ehemalige sachsen-anhaltische Ministerpräsident Christoph Bergner, der sich bei unserer Leserschaft vor allem als aussichtsreicher Anwärter auf den Peter-Sodann-Preis einen Namen gemacht hat, war zwar nicht anwesend. Er initiierte jedoch schon vor zehn Jahren im Bundestag einen Resolutionsantrag zur Verurteilung des Genozids. Seit dieser Zeit ist das Interesse am Thema deutschlandweit spürbar gestiegen. Woran das liegt und welche Bedürfnisse dahinterstecken, wenn sich Deutsche mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigen, nimmt unser Kaukasuskorrespondent Udo Cirfus unter die Lupe.
Im Jahr 2015 rückte der Genozid an den Armeniern stärker in den Fokus der deutschen Öffentlichkeit als je zuvor. Hintergrund war der 100. Gedenktag am 24. April, der an die Opfer erinnern soll. Als erster deutscher Bundespräsident überhaupt bezeichnete Gauck auf einem ökumenischen Gedenkgottesdienst in Berlin das Vorgehen des Osmanischen Reiches in den Jahren 1915/16 als Völkermord. Der Deutsche Bundestag beriet nach langem Hin und Her über drei Anträge zur Verurteilung des Genozids, wobei der Bundestagspräsident und die Abgeordneten die Aussprache über die Anträge für mahnende Worte nutzten. Die deutsche Zivilgesellschaft bedankte sich überglücklich, der Kulturbetrieb engagierte sich und die Presse berichtete ausgiebig darüber. In Provinzkäffern wie Halle spielte sich im Kleinen ab, was die Großen vormachten. Man ließ die armenische Gemeinde auf der hallischen Gedenkmeile am Hansering einen Gedenkstein aufstellen, der den Opfern gewidmet war und organisierte ein kulturelles Rahmenprogramm. Dabei wollte die Stadt Halle noch im Jahr 2012 nichts von einer Inschrift wissen, die den Begriff »Völkermord« verwendet und stattdessen lieber an »Vertreibungen und Massaker« erinnern – eine Formel, die noch aus einer Resolution des Bundestages von 2005 stammt. Initiator dieser Resolution war der ehemalige sachsen-anhaltische Ministerpräsident und damalige Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern Christoph Bergner, der eigentlich nur für Empathie für jammernde Ossis bekannt ist. Schon damals stieg das Interesse für das Thema schlagartig an, doch war das noch nichts im Vergleich zum großen Rummel im vergangenen Jahr. Es stellt sich die Frage, woher das jüngste Interesse am Thema kommt und was dahintersteckt.
»Die armenische Frage existiert nicht mehr« (Talaat Pascha)
Nur wenige Monate nachdem das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns in den Ersten Weltkrieg eintrat, wurden alle armenischen Soldaten aus dem aktiven Kriegsdienst entfernt. Am 24. April 1915 folgte die Liquidierung der politischen und intellektuellen Elite der Armenier, die überwiegend in der Hauptstadt Konstantinopel ansässig war, weshalb der 1965 ins Leben gerufene Völkermordgedenktag auf dieses Datum Bezug nimmt. Ähnlich wie der Elite erging es kurz darauf der gesamten männlichen armenischen Bevölkerung in den Dörfern. Zeitgleich fanden zahlreiche Pogrome statt, für die die osmanische Regierung grünes Licht gab und die sich bald über das gesamte Land ausbreiteten. Den Höhepunkt bildeten schließlich staatlich organisierte Todesmärsche, die offiziell als Umsiedlungsmaßnahmen deklariert wurden. Ohne Nahrung und Wasser sowie ständigen Überfällen türkischer und kurdischer Banden ausgesetzt, wurden die Armenier in die syrische Wüste geschickt. Wer den qualvollen Weg überlebte, musste spätestens hier sterben. Von den ca. zwei Millionen armenischen Bewohnern des osmanischen Reiches wurden bis zu 1,5 Millionen ermordet. In seinem Blutrausch hatte der Mob jedoch nicht allein die armenische Bevölkerung im Visier, sondern alle christlichen Minderheiten, darunter die aramäischsprachigen Volksgruppen (100.000 – 250.000 Todesopfer) und die orthodoxen Griechen (mindestens 350.000 Todesopfer).
Der Genozid fand in einer Zeit des Umbruchs statt. Das einst so mächtige Osmanische Reich verkümmerte Ende des 19. Jahrhunderts zum »kranken Mann am Bosporus«, dessen Führung wenige Jahre zuvor von den Jungtürken unter Enver, Talaat und Djemal Pascha übernommen wurde. Als die Türken bald nach Kriegseintritt aufgrund dilettantischer Kriegsführung schwere Verluste hinnehmen mussten, gerieten die christlichen Minderheiten in den Fokus der Schuldzuweisung. Die Behauptung: Sie hätten sich mit dem Feind verbündet und wären der türkischen Armee in den Rücken gefallen oder hätten ihrerseits Massaker an der islamischen Bevölkerung verübt. Die türkische Version der Dolchstoßlegende hangelte sich entlang eines antiarmenischen Ressentiments, das dem des Antisemitismus zwar nicht aufs Haar gleicht, jedoch einige Gemeinsamkeiten zu ihm aufweist. Der Hass auf die Armenier war nicht neu. Bereits im 19. Jahrhundert – sowie weit über den Ersten Weltkrieg hinaus – waren die Armenier Opfer schwerer Pogrome. Einen Eindruck vom antiarmenischen Ressentiment vermittelt ein Zitat aus dem Werk des deutschen Völkerfreundes Karl May: »Ein Jude überlistet zehn Christen, ein Yankee betrügt fünfzig Juden, ein Armenier aber ist hundert Yankees über. So sagt man, und ich habe gefunden, dass dies zwar übertrieben ausgedrückt ist, aber doch auf Wahrheit beruht.«1
Die Mär von der angeblichen Illoyalität der Armenier bestimmt noch heute die türkische Staatsräson. Derzufolge wären die »Umsiedlungen« kriegsnotwendig gewesen. Gelegentliche Massaker seien zwar vorgekommen, hätten aber keinerlei staatliche Unterstützung erfahren. Die Absicht eines Völkermordes wird bestritten. Wer öffentlich dieser Sicht widerspricht, dem droht in der Türkei Strafverfolgung (»Beleidigung der türkischen Nation«) oder der wird, wie der Journalist Hrant Dink im Jahre 2007, von einem beleidigten Türken auf offener Straße erschossen. Allein aus diesem Grund spräche nichts dagegen, Druck auf die Türkei auszuüben.
»Hart, aber nützlich« (Hans Humann)
Hierzulande beruft man sich mit besonderem Stolz auf jene Handvoll Deutsche, die den Armeniern in ihrer Not halfen oder das Grauen dokumentierten. Exemplarisch steht dafür das große Interesse an Johannes Lepsius, der ein armenisches Hilfswerk gründete und versuchte, die Öffentlichkeit auf das Schicksal der Armenier aufmerksam zu machen, um dadurch eine Intervention zu bewirken. Das geschah aber nicht allein aus christlicher Nächstenliebe, sondern vor allem weil der kaisertreue Pfaffe die christlichen Armenier als Verbündete Deutschlands im Nahen Osten betrachtete. Dafür hätte er laut Hans-Dietrich Genscher den Friedensnobelpreis verdient, wie er in einer Rede während des Armenischen Weltkongresses im Jahr 2000 in Halle betonte. Hermann Goltz, der 1982 das Johannes-Lepsius-Archiv in Halle gründete, verglich Lepsius gar mit den Deutschen Heiligenfiguren des Zweiten Weltkrieges Stauffenberg, Bonhoefer und Schindler.
Dagegen wird gern übersehen, dass das Deutsche Kaiserreich maßgebliche Beihilfe zum Völkermord leistete.2 Das gab nämlich nichts auf Lepsius geostrategische Expertise, sondern avancierte stattdessen zum wichtigsten Verbündeten des Osmanischen Reiches. Vor allem mit der Neuformierung und Bewaffnung der osmanischen Armee, sowie dem Bau der Bagdadbahn stellte es die Infrastruktur für die Massaker. Zum Teil war deutsches Armeepersonal unmittelbar an den Gräueltaten beteiligt und trieb diese sogar voran. Das gut unterrichtete3 Deutsche Kaiserreich deckelte das Morden. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg formulierte die deutsche Leitlinie in einer knappen Aktennotiz: »Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.«
Protest wurde von deutscher Seite lediglich eingereicht, um den aufkommenden Gerüchten entgegenzuwirken, dass Kaiserreich sei an den Grausamkeiten beteiligt gewesen. Noch das viel gerühmte Lebenswerk von Johannes Lepsius steht in dieser Tradition. Als er nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine Dokumentation vom Schicksal der Armenier anhand von Akten des Auswärtigen Amtes veröffentlichte,4 geschah das im Auftrag desselben mit dem Ziel, die deutsche Rolle beim Völkermord herunterzuspielen. Um Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine bessere Position bei den Friedensverhandlungen zu verschaffen, manipulierten das Auswärtige Amt und Lepsius verräterische Akten.5
»Eine Schar ausgemachter Türkenfeinde« (Hans Humann)
Lepsius Werk fällt in die kurze Phase nach dem Ersten Weltkrieg, in der es ein paar Versuche gab, den Genozid publik zu machen. Danach wurde es in der Öffentlichkeit weitgehend still um das Thema. Bis zur Jahrtausendwende wurden in der Politik, der Presse, dem akademischen Betrieb und in den Schulbüchern die Geschehnisse überwiegend verschwiegen. 6 Das lag jedoch nicht allein daran, dass die deutsche Mitverantwortung unter den Tisch gekehrt werden sollte. Man wollte auch auf die alten Waffenbrüder aus Ankara nichts kommen lassen, die sich auch später als gute Freunde Deutschlands erwiesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte die Türkei zu den ersten Staaten, die in den 1950er Jahren diplomatische Beziehungen zu Deutschland aufnahmen. Schon frühzeitig setzte sie sich für den Nato-Beitritt Deutschlands ein. Heute ist Deutschland der größte Handelspartner der Türkei. Wer den Völkermord dennoch auf die Tagesordnung setzen wollte, dem wurde schnell vorgeworfen, Fremdenfeindlichkeit gegen Türken zu schüren – gerade so, als läge deutschem Fremdenhass eine Abneigung gegen die Menschenschlächter dieser Welt zugrunde. Stattdessen nahm man Rücksicht auf die Gefühle der Türken – sowohl in der Türkei, als auch in Deutschland.
Nach 1945 kam noch ein weiteres entscheidendes Motiv hinzu, von dem Thema die Finger zu lassen. Wer nämlich von nun an in Deutschland über den Völkermord an den Armeniern gesprochen hätte, wäre um Auschwitz nicht herumgekommen. Schließlich hatten es die Deutschen fertig gebracht, noch das barbarische Morden der Osmanen in den Schatten zu stellen. Und daran wollte man vorerst nicht erinnert werden. Noch in den Jahren 2000/2001, als die armenische Gemeinde mit einer Petition an den Bundestag herantrat, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen, und daraufhin die PDS einen Resolutionsentwurf einreichte, der zusätzlich die deutsche Mitschuld ansprach, reagierten die Bundestagsabgeordneten der übrigen Fraktionen ablehnend. Cem Özdemir erklärte zum Beispiel: »Aber von dem Vorhaben, mit erhobenem Zeigefinger auf das Land zwischen Bosporus und Ararat zu zeigen, sollten wir uns distanzieren. Die Retourkutsche mit dem Hinweis auf die eigene dunkle Vergangenheit käme […] sicher […]«.7 Aufgrund des Versuchs, den Beitrag des Deutschen Kaiserreiches auf die Tagesordnung des Bundestages zu setzen, befürchtete der damalige Vorsitzende der FDP-Fraktion, Wolfgang Gerhardt, noch weit schlimmeres: »Dies scheint vor allem Ausdruck des Bemühens zu sein, an jedwedem Übel in der Welt eine wie auch immer geartete deutsche Mitschuld zu konstruieren.«8
In den seltenen Fällen, wo die Angelegenheit nicht unter den Tisch gekehrt wurde, war unschwer das Bestreben herauszulesen, Auschwitz zu relativieren. Im Vorwort der ersten wissenschaftlichen deutschen Monographie über den Völkermord an den Armeniern gab der Autor Peter Lanne seine Motivation preis, sich der Sache anzunehmen.9 Darin erklärte er, dass der Holocaust ohne Wissen der deutschen Bevölkerung von der NS-Führung begangen worden sei, der Vernichtungsversuch der Armenier dagegen von einem ganzen Staatsvolk. Außerdem seien die Verbrechen des Holocaust bereits gesühnt und in ständiger Erinnerung gehalten, während die des Osmanischen Reiches in Vergessenheit gerieten und eine Bestrafung ausblieb. Auch in der Lepsius-Verherrlichung, deren jahrelange Hochburg Halle unter der Federführung von Hermann Goltz war, steckt der Versuch, die Deutschen reinzuwaschen: Bei den großen Blutbädern der Weltgeschichte waren sie nicht nur Täter, sondern auch Wohltäter. Als die Bundesrepublik neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Antivölkermords-Konvention beitrat, hielt der SPD-Abgeordnete Jacob Altmaier eine Rede, in der er neben Auschwitz das Schicksal der Christen im Osmanischen Reich und die »Austreibung der Deutschen« als exemplarische »Untaten« bezeichnete.10 Während man sich in anderen europäischen Parlamenten durchaus mit dem Genozid an den Armeniern befasste, blieb sie dessen einzige Erwähnung im Bundestag im 20. Jahrhundert.
»Wir können durch unsere eigene Erfahrung andere ermutigen« (Norbert Lammert)
Langsam zu ändern begann sich das erst, nachdem Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2000 den Aufstand der Anständigen gegen deutsche Bilderbuchnazis ausrief. Die oben erwähnte Rede Genschers bezeugt den beginnenden Wandel ebenso, wie die Diskussion um die in den Bundestag eingebrachte Petition – wenngleich sich die Abgeordneten damals noch sträubten. Am 24. April 2002 gab schließlich der brandenburgische Bildungsminister Steffen Reiche auf der jährlichen Gedenkveranstaltung des Zentralrats der Armenier die neue Stoßrichtung vor: »Wir Deutsche stehen in einer besonderen Verantwortung, unsere türkischen Freunde und Bündnispartner zu mahnen, den Genozid anzuerkennen. Nicht nur weil wir in Vergangenheit und Gegenwart in einer engen Beziehung stehen, nicht nur weil in Deutschland besonders viele türkischstämmige Mitbürger leben, sondern weil die Deutschen besser als irgendein Volk wissen, dass nur Anerkennung von Schuld den Weg zu einem friedlichen Miteinander öffnet. Wir Deutschen sind nur geworden, was wir sind, durch die Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Juden.«11 Reiche forderte also nicht nur die anständigen Deutschen auf, das lange Schweigen mit dem Verweis auf Auschwitz zu beenden. Vielmehr sollte den alten Waffenbrüdern ans Herz gelegt werden, ihnen auf den Weg der Rehabilitierung zu folgen. Um den Türken diesen Weg schmackhaft zu machen, wurde sogleich darauf verwiesen, wie gewinnbringend es für die Deutschen war, an die Leichen im eigenen Keller zu erinnern. Wenn die Türken ihnen folgten, spränge für Deutschland ein zusätzlicher Bonus heraus: Es wäre nicht mehr nur Weltmeister, sondern auch Lehrmeister der Wiedergutwerdung.
Damit hatte Reiche die wesentlichen Punkte zusammengefasst, die in den darauffolgenden Jahren den deutschen Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern bestimmen sollten. Die Versuche des Verschweigens oder der Relativierung verkamen in Deutschland dagegen immer mehr zur Randerscheinung. Der Bundestag befasste sich erstmals 2005, anlässlich dessen 90. Jahrestages, mit dem Thema im Rahmen einer Resolution. Der Entwurf wurde von der damaligen Oppositionsfraktion CDU/CSU eingereicht – auf Initiative des ehemaligen Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalts Christoph Bergner. Unterstützt wurde er von seinem alten Freund, dem hallischen Lepsiusverehrer Hermann Goltz. Auch bei Bergner waren die Worte Reiches angekommen. Er erklärte in der Aussprache vorm Bundestag, man wolle die Türkei nicht anklagen, sondern ihr eine »europäische Erinnerungskultur« beibringen, bei der es sich tatsächlich um eine deutsche handelt, genauer gesagt um »eine Erinnerungskultur, die wir in diesen Wochen um den 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in besonderer Weise erleben.«12 In der Aussprache wurde ausgiebig an die türkische Zivilgesellschaft appelliert. Schließlich ging auch der Wiedergutwerdung der Berliner Republik ein Aufstand der Anständigen voraus. Um die Türkei und ihre Zivilgesellschaft nicht zu sehr zu verschrecken – man wolle schließlich niemanden auf die »Anklagebank setzen«13 –, wurde in der Resolution jedoch die Verwendung des Begriffes »Völkermord« vermieden. Die Adressaten hielten dennoch nicht viel vom deutschen Sonderweg. Der türkische Botschafter tobte und der Verband Türkischer Unternehmer und Industrieller in Europa warf Bergner in einem Brief »vorsätzliche Diskriminierung der Türkei und der Türken« vor.14
Um das Kind beim Namen zu nennen, musste bis zum nächsten runden Jubiläum gewartet werden. Anlässlich des 100. Völkermordgedenktages im Jahr 2015 reichten schließlich erneut alle Bundestagsfraktionen Resolutionsanträge ein, in denen nun das tückische V-Wort verwendet wurde, dass die Türken so ungern hören mögen. Aber auch das geschah vorrangig, um den deutschen Weg zum guten Gewissen zu bewerben. So betonte Cem Özdemir zwar immer noch, dass sich die Deutschen nicht als »Lehrer« eignen, dafür aber als »Ratgeber«. Nämlich »als diejenigen, die sagen können: Wer sich mit den dunklen Flecken der eigenen Geschichte beschäftigt, der wird daran nicht kleiner, sondern – im Gegenteil – wächst daran.«15 Auch der CDU-Abgeordnete Norbert Röttgen betonte, dass die Deutschen durch ihre »Erfahrung« einen unterstützenden Beitrag bei der türkischen Vergangenheitsbewältigung leisten könnten: »Wir wissen, dass es schmerzhaft ist.«
Im Zusammenhang mit der Initiative des Bundestages stieg die Berichterstattung sprunghaft an. Wenngleich die Resolution von 2005 samt der darauffolgenden Reaktionen bereits eine Zäsur darstellte, nahm die Angelegenheit erst im vergangenen Jahr richtig Fahrt auf. Prompt bewarb sich die Genozidforscherin Elke Hartmann in einem Interview mit dem hallischen Bürgerfunk Radio Corax für freiwerdende Gelder: »Die politische Anerkennung würde dann hoffentlich auch nach sich ziehen, dass in Deutschland gerade ein solcher Forschungsraum entsteht, wo wir doch in Deutschland eine sehr erfolgreiche Tradition inzwischen haben, sich mit solchen Vergangenheiten auseinanderzusetzen und dort eben auch Impulsgeber sein könnten.«16 Berthold Kohler, Mitherausgeber der FAZ, sorgte sich dagegen um die deutsche Integrität: »Ein Staat, der so viel Wert auf die Bewältigung der eigenen Vergangenheit gelegt hat wie Deutschland, darf sich selbst aus geostrategischen Gründen nicht der türkischen Selbstverleugnung anschließen.«17
»Verzicht auf verbale Rache« (Bernd Fabritius)
Wenn man sich die gegenwärtige Rezeption des Völkermordes an den Armeniern anschaut, tritt offen zutage, dass sich die Deutschen einzig um sich selbst drehen, sobald sie von ihm zu reden beginnen. Ihre eigene Läuterung ist ihnen so sehr zu Kopf gestiegen, dass sie diese nun zu exportieren gedenken. Für die Opfer des Völkermordes und deren Nachkommen folgt daraus nicht viel. Weder brauchen sie mit einer Entschädigung von deutscher Seite rechnen, noch können sie auf Unterstützung bei irgendwelchen Forderungen gegen die Türkei hoffen. Das betonten die Redner der Aussprachen 2005 und 2015 ausdrücklich und das steckt auch hinter dem deutschen Mantra, die Türkei nicht anklagen zu wollen. Vielmehr fordert der Deutsche Bundestag in der Resolution aus dem Jahr 2005 von den Armeniern, dass ein »Verzeihen historischer Schuld erreicht wird.«18 Noch deutlicher wurde Bernd Fabritius 2015: »Von [den Armeniern] erwarte ich Offenheit, Versöhnungsbereitschaft und den Verzicht auf verbale Rache.«19 Denn darüber, wie sich die Opfer zu benehmen haben, wissen die Deutschen seit jeher besonders gut Bescheid.
Udo Cirfus
Anmerkungen
1 Karl May: Der Kys-Kaptschiji, Einsiedeln, Waldshut, Köln 1896.
2 Vgl. Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord, Berlin 2015.
3 Noch heute gelten die deutschen Berichte als wichtigste Quelle bei der Aufarbeitung des Genozids. Vgl. Wolfgang Gust (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes, Springe 2005.
4 Johannes Lepsius (Hrsg.): Deutschland und Armenien 1914–1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, Potsdam 1919.
5 Wolfgang Gust: Magisches Viereck. Johannes Lepsius, Deutschland und Armenien, unter: http://www.armenocide.de/armenocide/armgende.nsf/GuidesView/MagischesViereckDe?OpenDocument.
6 Vgl. Anette Schaefgen: Schwieriges Erinnern. Der Völkermord an den Armeniern, Berlin 2006.
7 Cem Özdemir: Langer Gang am Bosporus. Was gegen eine Armenien-Resolution spricht, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.04.2001.
8 Wolfgang Gerhardt: Schreiben an die DAG, 22.08.2001 (Nachzulesen unter: http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/materialien/der-genozid-an-den-armeniern/vor-dem-deutschen-bundestag2/324-2).
9 Peter Lanne: Armenien. Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts, München 1977.
10 Plenarprotokoll 2/37 (http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/02/02037.pdf)
11 http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/wp-content/uploads/2009/11/1_rgenreiche.pdf
12 Plenarprotokoll 15/172 (http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/15/15172.pdf#P.16127)
13 Ebd.
14 Ebd.
15 Plenarprotokoll 18/101 (http://www.bundestag.de/dokumente/protokolle/vorlaeufig/18101/371464)
16 https://www.freie-radios.net/72481
17 Berthold Kohler: Bis auf die Knochen, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.04.2015.
18 http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/15/056/1505689.pdf
19 Plenarprotokoll 18/101 (http://www.bundestag.de/dokumente/protokolle/vorlaeufig/18101/371464)
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