Jeder Leser, der bisher glaubte, Lehrer seien affirmative Wichtigtuer und Dummschwätzer, darf gut und gerne an seiner Meinung festhalten. Die Annahme, erwachsene Menschen lassen alles über sich ergehen und hinterfragen nichts, kann am Beispiel einer aktuellen Fortbildung für den Lehrer bestätigt werden. Ein Blick in den Fortbildungskatalog Sachsen-Anhalts zeigt, dass Lehrer durchaus die freie Wahl haben zu welchen Themen sie ihr Wissen erweitern. Auffällig ist die große Anzahl an Weiterbildungen zu Themen wie Stressbewältigung, Lehrergesundheit und Reflexion über Probleme im Schulalltag. Nicht selten stehen hier Konzepte zur Verfügung, die dem Lehrer bei der Bewältigung seiner Aufgaben unterstützen sollen. Wirklich nett ist es, wenn die Schule einem die freie Wahl abnimmt und zu verpflichtenden Weiterbildungen verdonnert. Besonders gerne werden dafür neue Konzepte verwendet, die mit ihren Versprechungen wie Wunderpillen für die Lösung aller Probleme im Schulalltag angepriesen werden und wunderbar ins Programm sachsen-anhaltischer Schulen passen. Das Neuste auf dem Esomarkt ist das durch den Gesundheitscoach und Sportlehrer Horst Lutz entwickelte Konzept der Life Kinetik. Eine Trainingsform aus dem Leistungssport, die das Gehirn trainiere und dadurch Kinder kreativer und selbstbewusster, Schüler leistungsfähiger, Berufstätige stressresistenter und überhaupt jeden Menschen intelligenter werden lassen soll. Das sind nur einige von vielen Versprechungen, die die Life Kinetik macht. Beispielsweise könnten durch ein spezielles Training der Augen auf Grundlage des Konzepts sehschwache Menschen besser sehen, während gut Sehende niemals eine Sehhilfe in Anspruch nehmen müssten. Dieses Training braucht man unglaublicherweise auch nur einmal im Leben durchzuführen. Anders verhält es sich, wenn man schlau werden will. Dafür müsste man mindestens einmal in der Woche eine Stunde Zeit finden. Das Prinzip der Life Kinetik ist relativ simpel. Dem Gehirn werden immer neue Herausforderungen gestellt. Bevor Bewegungsabläufe verinnerlicht werden, wird der Schwierigkeitsgrad der Übungen gesteigert, so dass keine Automatisierung in der Handlungsabfolge stattfindet. Scheitern an den Übungen ist dadurch vorausgesetzt und gewollt. Nur so können laut Horst neue Vernetzungen im Gehirn entstehen, die einen leistungsfähiger machen.
Die Life-Kinetik-Fortbildung für den Lehrkörper beinhaltet einen Crashkurs zur Gehirnforschung, das Kennenlernen pseudowissenschaftlicher Studien mit überdurchschnittlichen Effektstärken, den Verkauf von Merchandise-Artikeln und eine Reihe von dämlichen Übungen. Diese werden natürlich von den Lehrern im Sinne der Selbsterfahrung durchgeführt. Jeder Leser darf sich jetzt eine Turnhalle mit 20 hütchentragenden Pädagogen aus Halle und Umgebung vorstellen, die mit der einen Hand einen Ball in die Luft werfen, mit der anderen Hand ein Tuch im Kreis drehen und dabei versuchen das Alphabet rückwärts zu rappen. Die Tatsache, dass dieser Irrsinn von den meisten Erwachsenen mitgemacht wird, könnte eigentlich mit einem Kopfschütteln abgetan werden. Stutzig machen sollte einen jedoch die strunzdumme Affinität der Teilnehmer zur vorgekotzten Ideologie, welche durch das Konzept verkauft wird. Wenn du mit deinen Schülern nicht klar kommst: Mach Life Kinetik! Wenn deine Kollegen dich fertig machen: Mach Life Kinetik! Bist du dem stressigen Alltag nicht gewachsen: Mach Life Kinetik! Kurz gesagt: Nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse und Zumutungen des Schulbetriebs bringen ausgebrannte, garstige und ständig über Schüler jammernde Schlüsselbundwerfer hervor sondern der Mangel an Flexibilität und die zu geringe Auslastung des Gehirns durch den Lohnarbeiter. Selbst schuld also! Ein Sturm der Entrüstung bei den von Burnout geplagten Paukern bleibt während der Fortbildung meist aus und wird durch Bestaunen sowie Beklatschen des Life-Kinetik-Gurus ersetzt. Die Erleichterung, dass man endlich eine Erklärung für das eigene Scheitern im System Schule gefunden hat, ist bei solchen Events deutlich spürbar.
Nach Beendigung der dreitägigen Ausbildung, die mehrere tausend Euro kostet, darf man sich Life Kinetik Coach nennen und seine Schüler damit foltern. Wie die armen Kinder durch ein Konzept selbstbewusster werden sollen, dessen Grundlage das permanente Scheitern an Aufgaben ist, wird wohl ein Geheimnis der Life Kinetik bleiben. Vielleicht erfreut sich der esoterische Hokuspokus auch gerade deswegen bei Lehrern größter Beliebtheit. So kann man sein eigenes Versagen nahezu eins zu eins auf den Schüler projizieren und ihm nicht einmal die geringfügige Freude über einen Erfolg in der Schule zugestehen. Fakt ist jedenfalls, dass an Sachsen-Anhalts Schulen jetzt solange Geld in lustige Bälle mit Augen, bunte Tücher zu überhöhten Preisen sowie hässliche Hütchen gesteckt wird und Lehrer ihre Schüler unsinnige Übungen machen lassen, bis das nächste Super-Konzept auf dem Markt ist, das alle Lehrer »Hurra!« schreien lässt. Wahrscheinlich wird es gar nicht so lange auf sich warten lassen, sonst könnte noch der Eine oder Andere fragen: »Warum mache ich das Ganze eigentlich?« [flp]
Scheitern als Lehrplan
16. Mai 2016 von bonjour tristesse
Werbeanzeigen
Kommentar verfassen