Wenn Katzenbesitzer ihren Schützling aus dem Haus lassen, kommt es vor, dass er eines Tages nicht mehr zurückkehrt. Wenn die Katzenbesitzer in Halles Innenstadt wohnen, ist es allerdings unwahrscheinlich, dass das Tierchen in einer der Tempo-30-Zonen von einem Auto erfasst wird: Der Anblick plattgewalzter Tierkadaver stellt hier eine ausgesprochene Rarität dar. Auch immer wieder zu hörende Spekulationen über Misshandlungen sind eher abwegig. Dahinter dürften sich vor allem verdrängte Gewaltphantasien der Katzenliebhaber verbergen. Am wahrscheinlichsten ist, dass ein aufopfernder Anwohner dem Vierbeiner ein neues Zuhause gibt, in der irrigen Annahme, eine Katze, die Futter und Streicheleinheiten entgegennimmt, sei obdachlos. In diesem Fall kann es vorkommen, dass vermisste Katzen Jahre später wohlgenährt zu ihren vormaligen Besitzern zurückkehren. Darum wehrte sich unlängst ein Katzenbesitzer im hallischen Paulusviertel mit einem Aushang gegen solche Verschleppungen, und bat seine gutwütigen Nachbarn darum, zukünftig von derlei »guten Taten« abzusehen.
Den vermeintlich barmherzigen Wohltaten liegt die Annahme zugrunde, es würde auf den Straßen von obdachlosen Katzen nur so wimmeln. Obwohl es keine genauen Zahlen gibt, berichtete das Lokalblatt Sonntagsnachrichten unter Berufung auf den Tierschutz Halle e.V. von 2.000 bis 3.000 Straßenkatzen. In der Mitteldeutschen Zeitung sprach man unter Bezugnahme auf denselben Verein von »mindestens 3.000 herrenlosen Katzen«. Das Kuriose daran: Auf hiesigen Straßen ist von den angeblich in die Tausende gehenden Streunern nicht viel zu sehen. Entdeckt man eine freilaufende Katze, kann man eher von klassischen Freigängern ausgehen. Vor dem Hintergrund leerer Kassen von Tierschutzvereinen und Katzenhäusern wären aufgeblähte Angaben, die einen erhöhten Bedarf an Fürsorge und damit an Finanzmitteln begründen sollen, nicht sonderlich verwunderlich. Doch angesichts der zahllosen freiwilligen Helfer steckt dahinter mehr als nur die Sicherung von Arbeitsplätzen. Ebenso wie im Falle der Heilsarmee geht es bei der Pflege der bemitleidenswerten Geschöpfe nicht zuletzt um das Seelenheil der Helfer. Anstatt sich jedoch ganz klassisch in einer Suppenküche zu engagieren, verschreiben sich die Wohltäter den süßen Miezekatzen, da ihnen der Umgang mit den Samtpfoten deutlich leichter fällt als mit den eigenen Mitmenschen. Dass vorrangig der Glaube, zu den Guten zu gehören, gepaart mit dem schmeichelnden Schnurren der anspruchslosen Kätzchen, Antrieb für die Helfer sind, offenbart ein Blick auf die streunenden Damen und Herren, die täglich zu den Futterplätzen pilgern. Oft greifen sie für das Dosenfutter tiefer in die Tasche als für die Befriedigung der eigenen materiellen Bedürfnisse. Doch anstelle von Straßenkatzen versorgen sie vor allem sämtliche Hinterhofmiezen der Nachbarschaft und tragen gerade dadurch dazu bei, dass Freigänger seltener zu ihren Besitzern zurückkehren und dem Anschein nach kein Obdach besitzen. Der oben genannte Aushang wendet sich darum auch gegen das übergriffige Füttern des Haustieres.
Darüber hinaus mischt sich in die Aufregung rund um die Straßenkatzen noch ein weiteres Motiv. Die Hauskatze ist keine einheimische Tierart, sondern wurde vom Menschen in Europa eingeführt. Und wie allen Neozoen (die Ausländer in der Tierwelt), sagt man auch den Katzen nach, sie würden einheimische Tierarten in ihrer Existenz bedrohen. Die dazugehörige Wissenschaft wird dementsprechend Invasionsbiologie genannt. Horrorszenarien sprechen von durchschnittlich 700 erlegten Vögeln oder Kleinsäugern pro Katze im Jahr.* Katzen sind aber nicht nur mordlüstern. Wie alle Ausländer werden auch sie einer gesteigerten Potenz verdächtigt. Bis zu 420.000 Nachfolger könne ein Katzenpaar innerhalb von 7 Jahren bekommen, will die Tierschutzorganisation PETA errechnet haben. Nimmt man die beiden Zahlen einmal zusammen, macht das knapp 300 Millionen erbeutete Tiere allein im siebten Jahr! Es verwundert, dass PETA noch nicht von einem neuen Holocaust spricht. Um die Invasion einzudämmen und die Heimat zu retten, fordern die verzweifelten Tierfreunde Kastrationszwang für alle Freigänger. Da dieser Forderung bislang nur in einigen Regionen Deutschlands nachgekommen wurde, gehen die Heimatschützer nicht selten zur Eigeninitiative über. Freilaufende Katzen werden nicht nur in ein neues Heim gesteckt, sondern gleich kastriert. Die Frage nach einem Besitzer wird gar nicht erst gestellt – in diesem heroischen Kampf können keine Gefangenen gemacht werden. So gerät die befürchtete Misshandlung von Katzen am Ende doch noch zu einem realistischen Szenario. [uci]
* Zur Überprüfung dieser Annahme hat sich der Autor ein Mäuschen aus der Zoohandlung besorgt und Nachbars Katze zur Jagd angeboten. Entgegen der Befürchtung war die Katze jedoch nicht imstande, dem Nagetier auch nur einen Kratzer zuzufügen. Wie sie 700 Tiere im Jahr erlegen soll, bleibt unklar.
Kommentar verfassen