Als Meera Shankar, die damalige Botschafterin der Republik Indien in Deutschland, anlässlich eines deutsch-indischen Wirtschaftstreffens im Jahr 2008 die Saalestadt besuchte, hatte sie nicht nur eine Bücherspende für die hallische Universität im Diplomatenkoffer, sondern auch eine Bronzebüste des indischen Volksheiligen Mohandas Gandhi. Aufgestellt wurde sie in Anwesenheit der damaligen Oberbürgermeisterin Dagmar Szabados und des zu dieser Zeit amtierenden Universitätsrektors Wulf Diepenbrock im Park der Landwirtschaftlichen Fakultät in der Emil-Abderhalden-Straße. Die Ortswahl war weniger Gandhis Faible für das einfache Landleben geschuldet, sondern hing damit zusammen, dass der Park fest als künftiger Teil des Campus des Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Zentrums (GSZ) eingeplant war: »Tausende Studierende werden dann täglich an der Büste vorbeilaufen. Der Geist Gandhis soll hier allgegenwärtig sein und zum Nachdenken anregen«, erklärte Diepenbrock bei der feierlichen Enthüllung die Standortwahl. (Mitteldeutsche Zeitung, 28.11.2008) Mit der Fertigstellung des Steintor-Campus wurde Diepenbrocks Drohung wahr gemacht, die Statue wurde im letzten Jahr um gute 100 Meter versetzt und ziert nun den Platz an zentraler Stelle.
Als die Bonjour Tristesse vor neun Jahren erstmals erschien, unterschrieben wir die Rubrik Kurzmitteilungen mit »Wahnsinn, Kuriositäten und Erfreuliches aus der Provinz«. Das tun wir zwar auch heute noch, regelmäßigen Lesern dürfte allerdings unschwer aufgefallen sein, dass es in zwanzig Ausgaben kaum etwas Erfreuliches zu berichten gab. Umso schöner ist es, dass es an dieser Stelle gleich zwei gute Nachrichten zu vermelden gibt.

Gandhi-Denkmal auf dem Steintor-Campus der Uni Halle
Die erste: Bereits vor der Eröffnung des GSZ im Herbst letzten Jahres wurde der Gandhi-Büste die Brille vom Kopf geschlagen und entwendet. Die zweite gute Nachricht: Kurz nachdem pünktlich zum Tag der offenen Tür eine Ersatzbrille beschafft und wieder an den Büstenkopf gelötet worden war, verschwand die Brille erneut. Die Redaktion der Bonjour Tristesse besteht zwar grundsätzlich nicht aus Freunden von Denkmalschändungen. Wenn es dabei jedoch die Richtigen trifft, sind wir die letzten, die deshalb in tiefes Bedauern verfallen. Dass es beim Brillenklau nicht den Falschen erwischt hat, wird deutlich, wenn man sich Gandhis Vision eines von der britischen Kolonialmacht unabhängigen Indiens betrachtet, die vor allem beinhaltete, seinen Landsleuten gerade das wenige Gute vorzuenthalten, was mit der britischen Kolonialherrschaft nach Indien gelangt war: die fortschreitende Zivilisierung. »Indiens Rettung liegt im Verlernen all dessen, was es in den letzten fünfzig Jahren gelernt hat. Eisenbahn, Telegraph, Krankenhäuser, Advokaten, Doktoren, all dies muss verschwinden; und die so genannt besseren Kreise müssen bewusst, gläubig und gezielt das einfache Bauernleben lernen, im Wissen, dass dieses Leben das wahre Glück bringt.« Was der Prophet des schlechten Lebens bei seinen Landsleuten als naturgegebenes Recht begriff – einen eigenen Nationalstaat – gestand er ausgerechnet den Juden nicht zu. So schrieb er angesichts der Novemberpogrome von 1938: »Palästina gehört den Arabern im gleichen Sinn, wie England den Engländern und Frankreich den Franzosen. Es ist ungerecht und unmenschlich, den Arabern die Juden aufzudrängen.« Auch ein anderes Staatsgebiet lehnte Gandhi vehement ab. Stattdessen sollten die Juden »Palästina« nicht als »geographisches Gebiet« betrachten, sondern »in ihren Herzen« tragen und in den Ländern bleiben, in denen sie geboren wurden. Doch damit nicht genug. Der Judenverfolgung in Deutschland sollten sie nicht versuchen zu entfliehen, sondern gewaltlos entgegentreten. Gandhi forderte von den deutschen Juden, dass sie sich »auf freiwilliges Leiden« vorbereiten und ihre Ermordung bei künftigen »Massakern« als »Tag der Freude und des Dankes« begreifen sollten, um auf diese Weise nicht nur »die deutschen Nichtjuden […] zur Anerkennung der Menschenwürde [zu] bekehren«, sondern um der Welt »den unvergleichlichen Beitrag der gewaltfreien Aktion hinzu[zu]fügen«.
Wir wissen nicht, ob die Brillendiebstähle Proteste gegen den Ungeist Gandhis darstellen sollen oder der spätpubertären Freude am nächtlichen Randalieren unter Alkoholeinfluss geschuldet sind. Doch ganz unabhängig vom jeweiligen Motiv wollen wir gute Taten nicht unbelohnt lassen. Anlässlich unseres 20. Heftjubiläums spendieren wir allen, die uns glaubhaft und überzeugend versichern können, im Besitz einer der beiden Brillen zu sein, einen Kasten Sternburg Export. Zum Wohl!
Sehr interessanter Text! Nach der Leküre spricht alles für ein gegen das Denkmal gerichtetes Kettensägenmassaker.
Ist M. Gandhi in Sachen Populismus nicht der Martin Luther Indiens?
Vermutlich weiß niemand der am Vandalismus beteiligten Personen mehr von der nächtlichen Heldentat. Oder gibt es schon Bekennerbriefe?