Ende des vergangenen Jahres veranstaltete die AG Antifa im Stura unter dem Titel »Infantile Inquisition – Die neuesten Übergriffe der Definitionsmacht« eine Diskussionsveranstaltung mit Justus Wertmüller, Redakteur der Zeitschrift Bahamas. Mit der im hallischen Hausprojekt Reilstraße 78 stattfindenden Veranstaltung sollte der Frage nachgegangen werden, was es mit den auf linken Partys von sogenannten »Awareness-Teams« verbreiteten Warnungen vor Übergriffen, Entgleisungen, zu viel Alkoholkonsum u. ä. auf sich hat, und welche spezifischen Vorstellungen von Subjektivität und Sexualität dem Awareness-Konzept zugrunde liegen. Bereits im Vorfeld gab es Aufrufe, den Vortrag zu verhindern, einer Gruppe von Störern musste der Einlass verwehrt werden, um die Veranstaltung überhaupt durchführen zu können. Kurze Zeit nach der Veranstaltung regte die notorisch politische Ute L. einen von der Linkspartei finanzierten Vortrag an, auf dem ein Philosophiestudentendarsteller dem Publikum erklärte, was in der Diskussionsveranstaltung der AG Antifa referiert wurde. Für alle, die sich lieber persönlich ein Bild machen und selber denken möchten, dokumentieren wir an dieser Stelle Justus Wertmüllers Vortrag.
Eine Party – gerade eine sehr große in einem halböffentlichen Raum wie dem Hallenser Hausprojekt Reilstraße 78 (Reil 78) – ist für die meisten Besucher ein Reinfall. Da ist die große Gruppe der Einsamen und Suchenden, die einfach nur nach Anschluss Ausschau halten und vielleicht sogar nach einer Geliebten oder einem Geliebten. Daran ist nichts Anrüchiges, wozu sind Partys schließlich da? Diese Suchenden treten häufig allein auf, und man sieht es ihnen an. Sie drücken sich herum, versuchen mit sich selbst zu tanzen und etwas dabei zu empfinden und halten sich verzweifelt an ihrer Bierflasche fest. Dann sind da die Männergruppen, Kumpels, die sich zum Kommen verabredet haben. Sie sind oft laut, trinken zu viel und neigen zum Kraftmeiern. Für viele Frauen, die bei linken Partys notorisch in der Unterzahl sind, ist das manchmal ziemlich anstrengend. Gerade für die unter ihnen, die auch suchen und sich Kontakt zu einem passablen Mann wünschen, von dem sie allerdings ganz selbstverständlich erwarten, dass er sich plötzlich aus dem Trubel lösen würde und unbefangen und freundlich auf sie zuginge. Genauso selbstverständlich erwarten das viele Männer von den Frauen, oder gar, dass eine ausgerechnet in ihren aus Angst und Unsicherheit nach außen hermetisch wirkenden lauten Männerkreis eindringt. Daraus wird fast nie etwas, Enttäuschung und Kummer sind vorprogrammiert. Mancher der Burschen besäuft sich besinnungslos, lallt haltlos herum und auch im Frauenklo wird gekotzt, geweint und gestritten.
Ist es Dir grad viel zu nah?
Die anderen kommen im Solidarverband, bestehend aus dem oder der Geliebten und den immergleichen WG-Genossen, Studienfreundinnen und so weiter. Sie haben es besser, weil sie nicht allein sein müssen und überhaupt ihr Schäfchen im Trockenen haben. Dabei stimmt auch das nicht. Verstohlen wirft man Blicke um sich, die manchmal nicht ganz frei von Untreue sind, und bleibt dann doch stur bei den Seinen. Diese Mehrheit weiß sich einigermaßen zu benehmen, sie haben, was andere nicht haben, die Freundin, den Freund, an die oder den man sich, je länger der Abend wird, umso dankbarer anschmiegt. Die Welt um einen ist unfreundlich und kalt – wie schön, dass man nicht wie dieser linkische Knabe da, dieses vor Anstrengung, Haltung zu bewahren, im Gesicht ganz erstarrte Mädchen dort, oder die lärmende Männerkameradschaft von der Jugendantifa ganz hinten allein und schon dadurch ein klein bisschen ausgestoßen ist.
Die Welt ist brutal. Körperliche Reize, Liebenswürdigkeit, Charme sind ungleich verteilt, es nützt nichts, das wegzureden. Schönheitsideale sind zum Teil durchaus wandelbare gesellschaftlich Übereinkunft, gewiss, aber was hilft diese Einsicht denen, die als unattraktiv gelten? Freundlichkeit und Charme sind genetisch nicht zu entschlüsseln, sondern Produkt der jeweiligen Sozialisation. Denen, die die falsche Sozialisation hatten, warum auch immer, nützt diese Erkenntnis genauso wenig wie das in vielen Varianten immer gleich dahergelogene Wort von den stillen Wassern, die tief seien, oder die obstinat vorgetragene, aber grundunehrliche Behauptung, dass das bescheidene Veilchen über die stolze Rose obsiegen werde. Sich für eine etwas weniger brutale Welt einzusetzen und dafür wenigstens im eigenen Umfeld etwas zu tun, kann nicht schaden. Aber bezeichnend ist es schon, dass gerade linke Subkulturen in dieser Disziplin noch schlechter sind als die verachtete bürgerliche Welt. Was muss das für eine Wohltat für den Neuen, wenig Attraktiven, Gehemmten sein, wenn ein Gastgeber freundlich auf ihn zugeht, ihn willkommen heißt, in einen Smalltalk verwickelt und wie ein gewiefter Kuppler gleich mit ein paar anderen Leuten bekannt macht. Das ist keine Garantie fürs Gelingen des Abends – ein paar Schritte muss man trotz des Angstschweißes im Nacken dann doch selber tun. Auf diese wenigen entsetzlich schweren Schritte kommt es an. Jeder Versuch, sie dem häufig überforderten Einzelnen abzunehmen, führt zu einer kollektiven Überforderung der Gutmeinenden und jener womöglich gar nicht so Gutmeinenden, die unbeeindruckt Selbstverständnispapiere schreiben, die dann ziemlich autoritär ausfallen.
In den linken Subkulturen kommt es, gerade wenn Party angesagt ist, bei Veranstaltern und Gästen regelmäßig zum Ernstfall. In einem kleinen Flugblatt anlässlich der Jahresfete im Hausprojekt Reilstraße 78 in Halle vom Frühjahr 2014 heißt es scheinbar durchaus nachvollziehbar: »Überfordert? Ist es dir grad viel zu eng, viel zu laut, viel zu voll, viel zu nah, viel zu viel? Brauchst Du im Ernstfall vorübergehend einen Rückzugsraum?« Man kann es ja mal mit so einem Rückzugsraum versuchen, nur, wer dann dort den notorischen Jürgen Domian vom WDR macht, dem man alles erzählen kann, wäre dann doch interessant zu wissen. Etwas stört an der zitierten Aufzählung. Gewiss, es kann einer Frau »zu nah werden«, wenn sie einen Verehrer, an dem ihr nichts liegt, einfach nicht mehr loswird. Aber das Problem, für das es keinen Rückzugsraum gibt, die vorherrschende Not, liegt ja darin, dass die Atmosphäre fast niemandem als »viel zu nah« erscheint, im Gegenteil. Die Enge, verbunden mit dem ungeheuren Lärm aus den Lautsprechern betäubt einen schon, bevor der erste Club Mate mit Wodka getrunken ist und lässt einen die eigene Einsamkeit, die gewaltige Distanz zu den anderen noch schmerzhafter empfinden als auf dem Weg vom Hörsaal in die Mensa. Die meisten Partygäste würden am liebsten nach ganz viel persönlicher Nähe rufen, ein Bedürfnis, das das beste Vorbereitungsteam nicht befriedigen kann. Stattdessen gibt es Richtlinien, Verhaltenskodizes und Funktionäre.
Machtkritisches Bewusstsein gegen das Glück
Zum letztjährigen Jahresfest der Reil 78 erschien weiter folgendes: »Damit das Fest für alle möglichst angenehm wird, bitten wir dich bei aller Feierei nicht zu vergessen, dass du nicht alleine hier bist. Hab auf dem Schirm, dass diskriminierendes Verhalten hier weder erwünscht ist, noch akzeptiert wird. Nationalistische völkische rassistische oder antisemitische Symbolik oder Äußerungen – und auch Nationalflaggen [!] – werden genauso wenig geduldet wie übergriffige oder sexistische Aktionen. Solltest Du mitbekommen, dass sich jemand daneben benimmt, andere Leute respektlos behandelt oder du selbst von Diskriminierung betroffen bist, lass uns das wissen. An beiden Abenden gibt es ein Awareness-Team, um in solchen Situationen angemessen einzugreifen und dich zu unterstützen. Wende dich an die Leute am Einlass, an den Essensständen, oder an Innen- oder Außentresen, sie werden Kontakt zum Awareness-Team herstellen. Außerdem wünschen wir uns einen bewussten Konsum: Kenne deine Grenzen und nimm nur soviel, wie du für dich und andere verantworten kannst. Rausch ist keine Entschuldigung, wenn du dich daneben benimmst. Wir bitten dich um deine Unterstützung, damit jede*r sich wohl fühlen kann.«
Interessant an diesem Text ist die Verklammerung von politischen und sexuell motivierten Übergriffigkeiten, die sehr gekonnt auf den Begriff Diskriminierung gebracht werden. Der Autor zum Beispiel wäre auf dieses Fest nur mit einem sehr deutlichen Israel- oder IDF-Sticker gegangen und hätte schon am Einlass Rabatz gemacht, wenn ihn irgendein Awareness-Flegel über das unerwünschte Mitbringen nationalistischer Symbolik und Nationalflaggen belehrt hätte, und er wäre nicht allein gekommen – mit der Intention, die tolle Party in eine spontane Diskussionsveranstaltung über linkes Duckmäusertum zu verwandeln. Dass auf einer linken Party in Halle die bestimmt sehr wenigen erkennbaren Nichtdeutschen oder die etwas zahlreicheren erkennbaren Lesben und Schwulen in Gefahr geraten, wegen Herkunft oder sexueller Neigung gemobbt zu werden, ist so unwahrscheinlich, dass sich die Frage aufdrängt, warum deren Schutz überhaupt in ein Papier mit aufgenommen wurde, das scheinbar nur dem Gelingen einer konkreten Party gewidmet ist. Es bleiben in Wirklichkeit zwei potentielle Feindgruppen: Leute, die der Linken ihren Israelhass austreiben wollen, und jene, die sich übergriffiger sexueller Aktionen schuldig machen. Letzteres ist wunderlich. Sogar in diesen schrecklichen, überfüllten Samstags-früh-morgens-um-4-U-Bahnen in Berlin, stehen die Kerle, die einer wildfremden Frau einfach über das Haar streichen, sehr schnell sehr blöd da. Ganz einfach deshalb, weil das von anderen gesehen und nicht toleriert wird. Wenn es auf linken Partys nicht die Regel ist, dass andere Partygäste solche Jungs, die gegen deren Willen an einer Frau rumtatschen, verschärft zur Ordnung rufen und gegebenenfalls in ihre Mitte nehmen und Richtung Ausgang verfrachten, wenn stattdessen die Gäste in ihrer Mehrheit so verblödet, uninteressiert an allem, was um sie herum vorgeht, so sturztrunken oder zugedröhnt sind, dass sie nichts sehen oder nichts sehen wollen und nicht einschreiten, wo es geboten ist, wenn es also auf einer Hallenser Linksparty zugehen sollte wie auf dem Münchener Oktoberfest, wo es wirklich angezeigt ist, nach desorientierten, häufig betrunkenen Frauen, die sich eines oder gar mehrerer strammer Burschen nicht mehr erwehren können, gezielt Ausschau zu halten und sie gegebenenfalls in die vorhandenen Schutzräume, die dort Zelte sind, zu verbringen, dann müsste das für Halle heißen: Keine Feten mehr in der Reil 78 und anderswo!
Wo wahrheitswidrig behauptet wird, auf einer linken Party könnten jederzeit Nazis und Ausländerfeinde auftauchen und Minderheiten zu Paaren treiben, nur weil man den Streit für Israel gegen dessen Feinde nicht führen will und stattdessen mit den in hohem Maße unscharfen Vokabeln »sexistisch« und »übergriffig« herumhantiert, geht es in Wirklichkeit um die autoritäre Durchsetzung eines Verhaltenskodex, der schon in der Floskel »bewusster Konsum« aufs Mediokre, Stillgestellte, eben Lauwarme abstellt und den Wunsch nach Nähe einfach aus der Agenda streicht zugunsten eines wenig erotischen »Wohlfühlens«.
»Weder erwünscht noch akzeptiert« ist es, »andere Leute respektlos zu behandeln«, sie zu diskriminieren, sich übergriffiger und sexistischer Aktionen schuldig zu machen. Das zu verhindern, tritt eine besondere Truppe an, die weder als Saalschutz noch Sittenpolizei gelten will, sondern als Task Force, die übernehmen soll, woran es den anderen angeblich gebricht: Awareness. Zu Deutsch heißt Awareness »Bewusstsein« und nicht etwa »Aufmerksamkeit«. Es geht also um entschieden mehr, als zu tun, was eines Gastgebers Pflicht immer sein sollte, nämlich darauf zu achten, dass die Party nicht aus dem Ruder läuft und Hilflosen beigesprungen wird. Intendiert ist vielmehr die Durchsetzung einer veritablen Kultur, die so sustainable sein soll, wie es das Konzept Awareness verspricht. Ein Awareness-Team, das 2012 ein ganzes Gender-Camp betreut hat, gibt eine Definition, die sich keineswegs zufällig genau mit der Erklärung aus der Reil 78 deckt. »Was meinen wir mit Awareness?«, fragen die Autoren und antworten: »Unter Awareness verstehen wir ein machtkritisches Bewusstsein für die eigene Position. Unsere gesellschaftliche Position wird von strukturellen Machtverhältnissen mitbestimmt. In sozialen Gefügen wirkt sich das auf die Teilnehmenden aus. Menschen, die gesellschaftlich privilegiert sind, haben es häufig [!] leichter; andere, die öfter Diskriminierung erleben, haben es häufig [!] schwerer. Die unterschiedliche Positioniertheit muss sichtbar gemacht werden, wenn eine Veranstaltung möglichst angenehm für alle Beteiligten ablaufen soll. Awareness versucht, das Bewusstsein für Ungleichheiten zu schaffen/zu schärfen und produktiv mit diesen umzugehen. Awareness-Arbeit hat also das Ziel, mit allen Beteiligten diskriminierungsfreie(re) soziale Räume herzustellen.«
Auf welchen Imperativ diese Definition hinauslaufen muss, ist offenkundig: Klüger, schöner, liebenswerter zu sein, darf niemals eigenes Verdienst sein, sondern gilt denen, die nicht darüber verfügen, als gestohlen. Packt Eure schöne Gestalt in einen islamischen Sack! Verleugnet Euer Redetalent, Euer überlegenes Wissen und stottert! Hört endlich auf, charmant zu sein, und verhaltet Euch wie wir, die wir steif, ungesellig und verhockt sind! Auf Gendercamps ist es ungefähr so wahrscheinlich, dass über die Sehnsucht nach Sex oder gar Liebe geredet wird – obwohl doch irgendwo hinter all dem Gendergetue die Suche nach der Vereinigung der Leiber in Lust und Erfüllung aufscheinen müsste – wie das Aufkommen einer knisternden Atmosphäre auf einer Party in der Reilstraße 78, wo dann statt dumpf hämmernden Bässen Erotik in der Luft liegen würde. Bewusstsein meint gewiss nicht die Stärkung eines Gefühls des Mangels, der Verlassenheit, der fast schon »strukturellen« Abwesenheit von Glück, genauso wenig wie es Geborgenheit für die je verwundete Seele stiften könnte. Was Awareness allein vermag, ist die Herstellung eines umfassenden Respektgebots, das mit einem Diskriminierungsverbot einhergeht. Respektiert wird das persönliche Erleben von so vielen, zum Alleinsein verdonnert zu werden, und als diskriminierend gilt schon die anstößige Rede über diesen zu großen Teilen selbst geschaffenen Mangel. Vielleicht wäre es unter guten Freunden – niemals in der Gruppe und schon gar nicht auf dem Plenum – nicht so verkehrt, einmal ein Wort zu verlieren über fehlende Liebenswürdigkeit, die Unfähigkeit zur Konversation, die ganze Welt des falschen Stolzes, der doch nur die eigene Mutlosigkeit kaschiert, auf einen anderen zuzugehen. Vielleicht hilft so etwas ja, im einzelnen Kritisierten den Vorsatz, als freundlich, interessant, am Ende gar liebenswert zu gelten, zu stärken oder überhaupt erst zu wecken.
Qualitätsmanagement der Liebe
Im Diskriminierungsverbot dagegen schwingt das Gebot mit, oft nur allzu auffällige persönliche Defizite unter Schutz zu stellen. Wie schnell Herrschaftskritik zum Instrument der Abwehr schädigender Einflüsse von außen wird, zur Abdichtung einer Persönlichkeit, die ihr Glück darin sehen will, dass möglichst viele andere als genau die gleichen Unterlegenen im Liebeskrieg, in den sie in Wirklichkeit nie ausgezogen sind, sich im großen Schutzraum Szene oder im größeren Rahmen Betriebsgemeinschaft, Gesellschaft gar, gegen das Unglück resistent machen, soll an einem kleinen Beispiel aus den USA kenntlich gemacht werden: »Team Awareness ist ein flexibles arbeitsplatzbezogenes Trainingsprogramm, das sich mit Verhaltensrisiken beschäftigt, die mit Suchtmittelmissbrauch unter Angestellten, ihren Arbeitskollegen und indirekt ihren Familien verbunden sind. Das Training möchte soziale Gesundheit und erhöhte Kommunikation unter den Arbeitern fördern; es möchte das Wissen über und das Verhältnis zu Alkoholmissbrauch und den im Zusammenhang mit Drogen bestehenden Schutzbestimmungen am Arbeitsplatz sowie die Firmenleitlinie, die Unterstützungsprogramme für Arbeiter und kollegiales Verhalten verbessern. Um das voranzubringen, gründet das Training auf sechs Komponenten: die Bedeutung der Suchtprävention, die Eigentümerschaft des ganzen Teams an der Unternehmens-Policy (die Verinnerlichung der im Unternehmen verbindlichen Regeln und Vorschriften als ein nützliches Instrument, um Sicherheit und Wohlbefinden für die gesamte Arbeitnehmerschaft zu erhöhen); die Berücksichtigung von Stress und Stressfaktoren und individuelle und andere Methoden zur ihrer Bewältigung; von Toleranz und wie sie zu einem Risikofaktor für Gruppen werden kann; die Bedeutung angemessener Verhaltensweisen, um gesund zu werden und ein Bewusstsein für Gesundheit zu vermitteln; Zugang zu Präventionsberatung oder -behandlung.« (www.nrepp.samhsa.gov/ViewIntervention.aspx?id=69)
Wohlgemerkt, das nennt sich »Team Awareness« und nicht Awareness-Team, gibt also vor, auf den anderen vorgesetzte Spezialeinheiten zu verzichten. Aber wahrscheinlich ist das gerade der Wunsch der Awarenessteams auf Gendercamps und anderswo, eine Art Hilfe zur Selbsthilfe, zur Verinnerlichung einer Policy, die wiederum aus einem Formen- und Regelwerk besteht, von allen immer weiter verfeinert, so dass es gänzlich als persönliches Eigentum empfunden wird. Wer einmal das Unglück hatte, sich mit Qualitätsmanagement beschäftigen zu müssen, der hat vielleicht bemerkt, dass ein ständig wachsendes Konvolut von Regeln über Arbeitsabläufe, aber auch Formulare, die für die Arbeit verbindlich sind, im Eigentum des jeweiligen Teams befindlich sind (das steht immer auf dem jeweiligen Blatt ganz unten), über das sich die aus vielen Teams zusammengesetzte Gesamtfirma wölbt. Über diesem ganzen Regelwerk steht die Firmenphilosophie, die zumeist nur aus einigen Leitsätzen besteht. Das obige Zitat stammt aus einem Programm des amerikanischen Gesundheitsministeriums, das zunächst auf Weiterbildungseinrichtungen für schwierige, also teilweise auch drogen- oder alkoholabhängige Jugendliche zugeschnitten ist. Inzwischen sind dergleichen Programme, keineswegs nur in den USA, Bestandteil der Unternehmenskultur in Hunderten von Betrieben.
Wie verträgt sich solcher Zwang, der sich als Selbstherrschaft ausgibt, eigentlich mit der Herrschaftskritik? Und was hat das mit den Nöten von Partybesuchern in Halle zu tun? Zunächst dürfte evident geworden sein, dass bestimmte Missstände auf Partys einigen Leuten zur Selbstermächtigung gedient haben, frisch aus dem Seminar eingeschlepptes Bescheidwissen in der linken Szene salonfähig zu machen. Diesen Herrschaftskritikern ist noch nicht einmal aufgefallen, dass sie mit dem Stichwort Awareness eine echte Herrschaftswissenschaft auf der Höhe der antiautoritären, diskriminierungsfreien und stets der respektvollen Diskussion verpflichteten Zeit affirmieren. Das amerikanische »Policy« meint scheinbar nur ein Regelwerk, das alle Firmenabläufe bis hin zu Fragen des erwünschten bzw. unerwünschten Mitarbeiterverhaltens festlegt und dadurch dem Einzelnen helfen soll, Umfang und Grenzen seiner Verantwortungsbereiches nach objektiven Kriterien zu definieren. Das soll einerseits gegen willkürliche und selbstherrliche Vorgesetzte helfen, aber auch Konflikte zwischen gleichgestellten Kollegen zu vermeiden helfen. Unberücksichtigt bleibt, dass hinter dem scheinbar ganz nüchternen Formelsystem eine Unternehmenskultur lauert, die dem Einzelnen mehr abverlangt als die Erbringung einer bestimmten Arbeitsleistung. Er wird vielmehr ganz in sein Team als kleinste Einheit des Gesamtunternehmens eingesogen und soll eigenverantwortlich sich selber und die Kollegen zu beherrschen lernen. Beherrschen im doppelten Sinn: keine betriebsfremden Macken bei sich zuzulassen und damit eben auch wachsam gegenüber Kollegen sein, die sich nicht ganz daran halten. Sich und damit die anderen, die ja Miteigentümer des gleichen Papierwerks aus Selbstverpflichtungen sind, beherrschen zugunsten eines eigentlich doch äußeren Zwecks: der Profitmaximierung des Arbeitgebers. Das geht so weit, dass der sonst doch so geschätzte Toleranzbegriff als Gefahr gehandelt wird, wenn man zum Beispiel einen Kollegen, der morgens mit Restalkohol antritt, nicht den zuständigen Instanzen überantwortet, die ihn zur Abstinenz erziehen und im Fall des Misserfolgs seine Entlassung begründen. So wichtig Integrationsprogramme für drogen- bzw. alkoholgefährdete Jugendliche, die natürlich auf Abstinenz oder Zurückhaltung beim Konsum setzen müssen, auch sein mögen: In der Teamawareness liegt bereits ein ganzes Konzept des verantwortungsvollen, gemeinwohlverpflichteten Menschen, der zu funktionieren, also hinzunehmen hat, was mit ihm geschieht, und seinerseits ein fröhlich lächelnder Vertreter und Protagonist der traurigen Perspektiven, die sich ihm allein eröffnen, sein soll. Der verruchte Zwang soll verinnerlicht werden, das bisschen Leben soll nicht etwa nur jenseits der Plackerei sich abspielen, sondern immer mehr in der Arbeit genossen werden. Das Prinzip Kontrolle und Selbstkontrolle wird entlang objektiver Fakten, besonders der Wahrung der Gesundheit und Anerkennung dieses ehernen Grundsatzes ablaufen. Unter dieser Kreatürlichkeit subsumiert werden längst nicht nur Drogenkonsum oder Übergewichtigkeit, sondern zunehmend auch nicht konstruktives Gesprächsverhalten, das mit dem Wort »negativ« abgestempelt wird.
Verpasste Gelegenheiten
Solche Bewusstseinsphilosophie ist inzwischen wieder dort angekommen, von wo sie einst ausging, bevor auf dem amerikanischen Campus daraus die ganz großen Konzepte geschmiedet wurden: in der Welt der Kommunen, Hausprojekte, der anarchistischen oder autonomen Zirkel und so weiter. Es geht also tatsächlich von Anfang an um Lebensreform.
In der linken Welt würde man bei Drogen und Alkohol so weit nicht gehen wie die Amerikaner, dafür übertrumpft man sie noch bei der Ausgestaltung jenes gesellschaftlichen oder Innercliquen-Raums, der diskriminierungsfrei werden soll. Was den amerikanischen Pragmatikern der Teufel Alkohol ist, wird den deutschen Linken zusammen mit linken Amerikanern der Teufel Sexus. Zwar haben sie das Geheimnis nicht gelüftet, wie zwei in Liebe und Lust zueinander kommen sollen, dafür haben sie unausgesprochen parat, was jedes moderne Eheanbahnungsinstitut schon weiß: Ein Höchstmaß von Ähnlichkeiten in Beruf, Einkommen, Freizeitverhalten und Alter soll Enttäuschungen, die ganz offensichtlich in der Überraschung durch den anderen liegen, so sehr eindämmen, dass nichts mehr anbrennen kann. Das feindliche Prinzip »übergriffige oder sexistische Aktionen« muss vor diesem Hintergrund unscharf bleiben. Man behilft sich einerseits mit einem immer penibleren Katalog von indizierten Rede- oder Verhaltensweisen, die alle auf eine Vertragstheorie hinauslaufen, die geeignet sein soll, jeden Zweifel an der Autonomie und Souveränität des eigenen und des fremden Willen auszuschließen. Andererseits weiß man, dass, weil die Kataloge nicht funktionieren, als letzter Rettungsanker nur noch die gute alte und inzwischen längst von niemandem mehr geteilte Definitionsmacht bleibt.
Noch einmal: Wenn eine Frau sich den Avancen eines nicht gewünschten Verehrers allein nicht erwehren kann, dann weiß jeder, wie man damit umgeht: Solange es nur im Gespräch immer wieder und zum Unwillen der Frau auf das eine zusteuert, kann man sich nett dazusetzen und das Thema rasch wechseln helfen und dabei bleiben, bis Ruhe ist. Wenn sich das ungewollte Anmachen in Berührungen, versuchten Zärtlichkeiten etc. äußert, gibt man als aufmerksamer Dritter Bescheid: Schluss jetzt oder raus mit dir.
War’s das dann? Hat man deswegen ein ganzes Awareness-Papier geschrieben? Wohl kaum. Was ist denn eine zulässige Annäherung in sexueller Absicht? Redet man da nur von seinen Lieblingsplatten oder die jüngste Erkenntnis, die man bei der Adorno-Lektüre gehabt hat? Fragt man da artig: Darf ich deine Hand halten, später, nach erfolgtem Einverständnis, darf ich deinen Mund küssen und so weiter? Da die Annäherung in aller Regel zwischen ungleich aktiven Partnern stattfindet, wird der eine mit Komplimenten beginnen und irgendwann ein wenig näher rücken, die Hand zu erhaschen suchen und so weiter. Dass es so oder so ähnlich häufig zugeht, und danach von einem Übergriff deswegen keiner redet, weil das glückliche Paar sich noch gern daran erinnert, wie alles anfing, damals – vielleicht ja sogar auf einem Fest der Reilstraße 78 –, ist eines. Und doch bleibt die Annäherung immer auch ein wenigstens versuchter Übergriff. Sie überschreitet Ichgrenzen, sie trägt Lust an, sie soll verführen zur Liebe und damit natürlich zum Sex. Jede abgelehnte Annäherung ist für den einen eine Niederlage und für die andere manchmal schon deswegen unangenehm, weil es ihr keinen Spaß macht, schon wieder jemandem einen Korb geben zu müssen.
Müsste man aber nicht viel mehr an seine oder ihre wirklichen und vermeintlichen Gelegenheiten denken als an die tief sitzende Enttäuschung darüber, abgewiesen worden zu sein, die so schnell in eine Angst vor dem Abgewiesenwerden überhaupt umschlägt? Müssten diese Sicherheitsvorkehrungen gegen zu viel Nähe nicht auch als Glücksverhinderung denunziert werden? Das menschliche Unglück, davon ist keineswegs nur in der Weltliteratur immer wieder die Rede, ist auch eine unendliche Geschichte der verpassten Gelegenheiten, gerade in Liebesdingen. »Wenn ich damals nur etwas selbstbewusster gewesen wäre …«, oder: »Wenn ich damals nicht gar so ängstlich und zurückhaltend gewesen wäre, dann, ja dann vielleicht …« Jede und jeder weiß etwas davon. In früheren antisexistisch gestimmten Positionspapieren tauchte häufig als inkriminiertes Tun die sogenannte Grenzüberschreitung auf. Und um die, bzw. mehr noch, um die Angst vor ihr geht es. Diese Grenzen sind anders, als Antisexisten es glauben, gerade nicht statisch, obwohl innerhalb von Grenzen gegen die Außenwelt der Einzelne sich seiner selbst versichert. Und diese Grenzen werden auf beiden Seiten, beim werbenden Mann – um im Rollenbild zu bleiben, es könnte auch anders herum sein – genauso wie bei der umworbenen Frau, häufig als drückend, hemmend glücksvernichtend empfunden. Ihn kostet es große Überwindung, aus seinem Panzer zu gehen und sich verletzbar zu machen, sie hadert mit dem verwandten Problem: Was wird aus mir, wenn ich mich auf ihn einlasse? In beiden Fällen sind Grenzen gefährdet, Selbstsicherheit schmilzt dahin, die Angst vor dem, was da mit einer oder einem passieren könnte, ist mindestens so groß wie die Furcht vor der Enttäuschung bei der zurückgewiesenen Annäherung.
Sei wie das Veilchen im Moose
Weil Annäherung nicht spielerisch verläuft, weil es fürs Werben keine allgemein geachteten Formen mehr gibt, wird der Schritt im Begehren auf einen anderen zu objektiv schwerer. Was man einmal Flirten oder Umwerben genannt hat, ist nicht zufällig verschwunden und auch nicht einfach unter dem brutalen Diskohammer liquidiert worden. Das in Ängsten und Vereinsamung herumirrende Ich braucht seinen Haltepunkt und den sucht es immer hemmungsloser in sich selbst. Der öffentlich ausgegebenen Losung, jeder sei etwas ganz Besonderes und jeder müsse in seiner Unverwechselbarkeit geachtet werden, steht nicht nur entgegen, dass es offensichtlich nicht stimmt, sondern schlimmer noch: Je weniger an Besonderem der Einzelne im Vergleich mit anderen noch vorzuweisen hat, desto panischer wird diese gegen Null tendierende Individualität gegen Eindringlinge verteidigt. In linken oder antideutschen Kreisen fallen zum Beispiel immer wieder Männer auf, die so lange schweigend am Tisch sitzen, bis sie ihren Einsatz finden, der dann als eine mehr oder weniger gelungene Wiedergabe von angelesenen Gescheitheiten aus den Werken der Klassiker erfolgt, die andere, vorsichtig gesagt, nervt. In den meisten Fällen geht es weniger extrem zu, man gibt anderen Gelegenheit zum Einsatz, schließlich wartet man auf den seinen, der einem auch gewährt wird. Dominantes Diskussionsverhalten wird genauso wenig geduldet wie andere allgemein gesellige Eigenschaften, die den anderen attraktiver machen könnten, als man selber ist. Das krampfhafte Anhäufen und Festhalten von Alleinstellungsmerkmalen geschieht in scheinbar völliger Weltabgeschiedenheit, obwohl doch nicht mehr als Konfektionsware zu Tage kommt. Wie können Menschen, die dauernd fürchten, ihnen könnte etwas weggenommen werden, ihre unveräußerliche Besonderheit könnte Schaden nehmen, wie können die überhaupt um eines anderen Menschen Gunst werben? Sicherlich nicht, wenn das Awareness-Team lauert.
Das Konzept Awareness hat seine Vorteile nur dort, wo man schon kapituliert hat vor dem anderen Leben, dem Glück und den Herausforderungen der Kritik. Man wird solcher gegen Abweichler aggressiv verteidigter Mittelmäßigkeit nicht viel entgegenstellen können, denn die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass aus dem ersehnten ozeanischen Gefühl in der Liebe, wenn die Ichgrenzen brechen, oder überhaupt mit dem Leben außerhalb der Zwänge, die diese Gesellschaft vor einem aufhäuft, etwas wird. Ähnlich verhält es sich mit der Standhaftigkeit gegenüber den immer wieder das eigene Ich verletzenden Herausforderungen der Kritik. Den anderen Lebensentwurf gibt es genausowenig wie eine ars amatoria, eine Liebeskunst, die man so einfach erlernen könnte, wie die sechs Grundregeln der Teamawareness. Vielleicht könnte aber jeder einmal damit beginnen, die sogenannten Privilegien, die die Schönen, Klugen und Liebenswürdigen haben, einfach anzuerkennen, ohne daraus den Gegenstand beständigen Neides zu machen und sein eigenes Unterlegensein als Ausdruck struktureller Herrschaft, als Unterprivilegiertsein zurecht zu rationalisieren. Das ist etwas ganz anderes als sklavische Unterwerfung, wie gerne nahegelegt wird. Es ist nämlich viel schwerer, die Überlegenheit eines anderen zunächst nur neidlos zu bewundern, ohne auf seine Schwächen zu lauern, als sich den dummen deutschen Opferreim darauf zu machen. »Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein. Nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.« So lautet der beliebteste deutsche Spruch fürs Poesiealbum. Dabei ist die Rose gar nicht stolz, sondern nur einfach unbefangen und schön, während das Veilchen im Attribut, bescheiden zu sein, über sich schon verrät, dass es in der Mitte der Unscheinbaren unbedeutend aber unbedingt gleich bleiben will, ohne vom beunruhigenden Traum von einer Sache, die sich immer als Rose darstellt, heimgesucht zu werden.
Justus Wertmüller
„Sogar in diesen schrecklichen, überfüllten Samstags-früh-morgens-um-4-U-Bahnen in Berlin, stehen die Kerle, die einer wildfremden Frau einfach über das Haar streichen, sehr schnell sehr blöd da. Ganz einfach deshalb, weil das von anderen gesehen und nicht toleriert wird.“
Wertmüller müsste doch eigentlich besser wissen, dass das, was er den 0815-Gästen einer linken Soliparty vollkommen zurecht vorwirft, „nämlich dass sie nichts sehen oder nichts sehen wollen und nicht einschreiten, wo es geboten ist“, umso mehr in genau diesen mit lauten, geselligen Betrunkenen vollgestopften U-Bahnen der Fall ist, die man auch als mobile Oktoberfestzelte bezeichnen könnte. In was für einer Traumwelt von Berlin lebt er eigentlich, wenn er denkt, sexualisierte Übergriffe werden dort „nicht toleriert“? Es gibt in Berlin tatsächlich Frauen, die sich nachts nicht mehr trauen, alleine U-Bahn zu fahren. Welcome to reality, Justus. Bekommt man vielleicht nicht mehr mit, wenn die finanzielle Situation das Taxi ermöglicht. Oder aber, wo es der eigenen Argumentation passt, wird die Realität zurechtgezimmert.
So fragwürdig diese „Awareness-Konzepte“ in gewisser Hinsicht sein mögen, so merkwürdig mutet es außerdem doch an, dass die Gründe dafür, dass überhaupt Leute auf derartige Ideen kommen, im Text nicht vorkommen: Das objektive Vorhandensein erstens einer nicht geringen Anzahl an Männern, die Frauen als Freiwild ansehen, ob in der U-Bahn oder auf einer linken Party, und zweitens eines bei Übergriffen untätigen Umfelds.
Eine Kritik an Justus Wertmüller ist ja immer so eine Sache, denn sie kann nie frei von Vorurteilen und verinnerlichtem Szenegeschwätz sein. Die eigene Projektionslust läuft bei einer Person wie J.W. auf hochtouren. Das Unbehagen in dieser beschissenen (linken Szene-)Welt giert nach Opfern. Besonders wenn es um affektbeladene Themen wie (Anti-)Sexismus und Antisemitismus geht, welche uns bis ins Mark betreffen und erschüttern.
Doch zum Text: Es ist in meinen Augen unumgänglich, den gruseligen Eigendynamiken des linken Szenesumpfes eine harte, unzensierte, „effektive“ Kritik entgegen zu stellen. Effektiv sollte sie sein, weil ich ja in dem Moment in dem ich mit meiner Kritik auf den Bereich der Praxis ziele, etwas bewirken, etwas verändern will. Leider erscheint mir J.W. Kritik der antisexistischen Praxis nur bedingt effektiv. Denn wie wir alle wissen, ist die Welt der Praxis eine ganz anderer als die Welt der Theorie. Mit dem vernünftigen Gedanken zwischen beiden Welten zu vermitteln ist ein dialektischer Drahtseilakt, welcher meist im doppelten Boden der Abwehr endet. Aber was soll ich hier viel dazu schreiben, wo es doch der Gandmaster Adorno am besten erklären kann:
„Das Dogma von der Einheit von Theorie und Praxis ist entgegen der Lehre, auf die es sich beruft, undialektisch: es erschleicht dort simple Identität, wo allein der Widerspruch die Chance hat, fruchtbar zu werden.“
Das in J.W.’s Text, trotz der offensichtlichen Belesenheit des Verfassers, der von Adorno benannte Widerspruch an keiner Stelle Erwähnung findet, ja grade bei diesem unglaublich widersprüchlichem Thema selbst das Wort Widerspruch nicht einmal(!!!) auftaucht, dass somit die Zerissenheit im Subjekt in seinem Text nicht spürbar wird, sondern er sich im Gegenteil aus einer Position der völligen Ab- bzw Aufgeklärtheit über den Gegenstand echauffiert, ist in meinen Augen ein erheblicher Schwachpunkt. Und in Anbetracht des Gegenstandes des Textes kommt es auch recht heuchlerisch daher, da so eine Widerspruchslosigkeit meist nur über die Verdrängung der eigenen Zerissenheit zu haben ist.
Diese Widerspruchslosigkeit führt dann auch immer zu den gleichen Vorwürfen an J.W., nämlich dass seine Position nicht dem sexistischen Alltag gerecht wird, was ich im übrigen ähnlich sehe. Sich bei der Gegenüberstellung des dialektisches Begriffspaares ‚Leid und Lust‘ einfach nur stumpf auf die Seite der Lust zu stellen ist zu wenig. Denn zu sehr wird dadurch das Leid der Betroffenen von Sexismus verniedlicht, um es leichter unter den Teppich kehren zu können wo es nicht stört bzw. schmerzt. Rationalisierung bzw. Verblendung als Verdrängungshilfe.
Die Mangelhaftigkeit der eigenen Weltanschauung in Bezug auf die Möglichkeit Leid zu reduzieren anzuerkennen ist sicher keine schöne Erkenntnis. Im Gegenteil. Sie ist eine zutiefst schmerzhafte, ohnmächtig machende. Mit Blick auf einen Alltag voller sexistischer Übergriffe und Triebverzicht, ist dieser Splitter im Auge nur schwer zu ertragen. Doch eine Erkenntnis die nicht schmerzt, ist in meinen Augen keine. Wenn in der Analyse des falschen Ganzen nicht irgendwann auch mal die eigene Falschheit Erwähnung findet, geht’s nicht mit rechten Dingen zu. Eine Kritik der Praxis, welche nur im eigenen Gedankengebäude harmonisch daherkommt, sich gut anfühlt, annehmbar ist, hat meist recht wenig mit dem Gegenstand den sie doch kritisieren möchte zu tun, ist somit eher Theorie als Kritik. Das ist nicht schlimm, sondern kann, wie auch in diesem Fall, sehr lehrreich und erhellend sein. Aber sich allein durch die simple Symbolisierung der eigenen Gedanken wie der Heros vom Eros vorzukommen scheint mir wenig sinnvoll und führt ganz sicher nicht zu einem Zustand welchen man evtl. glücklicher oder freier nennen könnte. Individuell kann das gut tun, sich angenehm anfühlen, aber gesellschaftliche Veränderungen brauchen dann leider doch eine Praxis.
Die im Text beschriebene Politik der Befindlichkeit ist auch in meinen Augen eine sehr kritikwürdige, durchaus nicht ungefährliche Praxis. Doch ob die vielen verschiedenen antisexistischen Versuche dem leiderzeugenden Sexismus etwas entgegenzusetzen zwangsläufig auf Triebverzicht hinauslaufen müssen, kann zwar befürchtet werden, lässt sich aber auch nicht pauschal behaupten, sondern ist nur durch – sicherlich sehr widerspruchslastige – Interventionen und Erfahrungen in den jeweiligen Praxisfeldern zu beurteilen und zu beeinflussen.
Deshalb schließe ich nach soviel Widerspruch, ganz naiv-hoffnungsvoll das faschistische Potenzial der linksradikalen Szene verdrängend, mit Hegel:
„Am schädlichsten ist es, sich vor Irrtümern bewahren zu wollen.“
Ich habe ein paar Fragen:
1. Woher weiß der Autor, dass wir eigentlich alle nur Nähe auf Parties wollen. Ich will besonders auf Konzerten oft nur meine Ruhe. Darf ich trotzdem noch kommen, oder bin ich nicht normal?
2. Macht es Wissen schlechter, wenn es aus dem Seminar kommt? Wenn ja, woher kommt gutes Wissen?
3. Wenn Awarenessteams, weil so so ähnlich heißen, wie irgendwelche bescheuerten Teambuidling-Unternehmenskultur Seminare mit denen gleichzusetzen sind,, was ist dann mit den vegeARIERN?
4. Wo fährt diese tolle U-Bahn, in der es keine Übergriffe gibt, die nicht sofort durch Zivilcourage unterbunden werden?
5. Gilt das U-Bahn Beispiel auch für U-Bahnen vom Oktoberfest?
6. Zeugt es von meiner Engstirnigkeit, wenn ich mich nicht über den individualistischen Freigeist freue, der die Person antreibt, die mich erst besoffen ankotzt und danach bedroht, weil ich darüber nicht glücklich bin? Sollte ich mich nicht eher darüber freuen, dass die Person die Freiheit hat, soviel zu konsumieren, wie sie will, ohne dass repressive Szenepolizisten diese gelebte Subversion unterbinden?
7. Was passiert, wenn jemand übergriffig wird und keine Person in der Nähe ist, die sich dazusetzt? Oder ist das auf linken Parties per Definition ausgeschlossen
8. Ich hätte gerne die Quelle, wann und wo genau nach einem erfolglosen Annäherungsversuch durch versuchtes Hand halten, in einer ansonsten entspannten Situation, also vorher Gespräch das Awarenessteam gerufen wurde/ eingeschritten ist.