Unser Redakteur Knut Germar ist für die Leser der Bonjour Tristesse in die Hölle hinabgestiegen, um über einen ostdeutschen Kabarettabend und den heimlichen Volkstribun der Hallenser zu berichten.
Die Vorhölle oder: Politisches Kabarett
Das Kabarett ist eine typisch deutsche Erscheinung und, vom ehemaligen Anschlussgebiet Österreich einmal abgesehen, so ziemlich einzigartig in der Welt. Auch wenn das Wort dem Französischen entlehnt ist – mit der dem cabaret eigenen Mischung aus Musik, Lied, Tanz, Rezitation und Schauspiel zum Zwecke der Unterhaltung hat ein deutscher Kabarettabend nur wenig gemein. Ein Deutscher geht nicht ins Kabarett um sich zu amüsieren, er besucht es der Selbstbestätigung wegen. Zwar gibt es durchaus auch im cabaret politische Witze, politisches Kabarett jedoch ist eine ordinär deutsche Erfindung. Hier lässt sich der Gast einen Abend lang das erzählen, was sein Bauch ohnehin schon immer über »die Politiker« zu meinen glaubte. Es ist das zweifelhafte Verdienst des politischen Kabaretts nach 1945, das neiderfüllte Genörgel des kleinen Volksgenossen gegen die Bonzen und »Goldfasane« in der Parteispitze, das zu faschistischen Bewegungen gehört wie das Amen in der Kirche, sozialdemokratisiert und damit gesellschaftsfähig gehalten zu haben. Wer einmal einen Kabarettabend besucht und sein Gehirn nicht an der Garderobe abgegeben hat, wird den Brei aus Die-da-oben-machen-Krieg-und-auch-sonst-was-sie-wollen, Der-kleine-Mann-wird-eh-nicht-gefragt und Man-wird-ja-doch-nur-belogen-und-betrogen seinen Lebtag nicht vergessen. Das politische Kabarett ist nicht Ort der Kritik sondern Hort des Ressentiments. Das gilt ganz besonders, wenn die Veranstaltung im Osten der Republik stattfindet.
Der erste Kreis der Hölle: Das »Kabarettkarussell«
An einem Oktoberabend im vergangenen Jahr mache ich mich auf den Weg in das Restaurant Palais-S, der Spielstätte jener hallischen Kabarettistentruppe, die sich mit Programmen wie »Die Zocker sind unter uns« oder »Gammel, Zirkel, Ehrenkranz« – eine Show »für alle, die den Ossi in sich nicht totkriegen« – in Halle ausgesprochen großer Beliebtheit erfreut. Für den heutigen Abend haben sich die Kiebitzensteiner, so der einfallsreiche Name der Gruppe, etwas ganz Besonderes einfallen lassen und zum sogenannten »Kabarettkarussell« geladen. Der Werbetext des Programms verspricht einen schwindelerregenden Abend auf drei Bühnen gleichzeitig: »Die Zuschauer bleiben sitzen bei Bier und Wein im gemütlichen Ambiente« und die »Kabarettisten drehen sich um sie«. Und für alle, die das noch nicht ganz überzeugt hat: »Wo gibt es so viel Kabarett für so wenig Geld?«
Mich jedoch hat weder das auf den gewöhnlichen Abgreif-Zoni zugeschnittene Sparfuchs-Angebot von der Couch getrieben, noch wurde ich durch die Aussicht, den Samstagabend mit sich um mich herumdrehenden ostdeutschen Kleinkünstlern zu verbringen, dazu bewogen, das gemütliche Ambiente meines Wohnzimmers zu verlassen. Stattdessen war ich wieder mal im Auftrag der Bonjour Tristesse unterwegs.
Der zweite Kreis der Hölle: Ein besonderer Gast
Ein Redaktionsmitglied hatte in einer Kneipe einen Werbezettel der Kiebitzensteiner gefunden und darauf einen special guest entdeckt, der tatsächlich einmal so etwas wie eine Berühmtheit war. Der besondere Gast hört auf den bürgerlichen Namen Rolf Becker, hierzulande kennt man ihn vor allem als Drehorgel-Rolf. Becker machte in der Wende- und Nachwendezeit von sich reden, weil er 1989 auf den Montagsdemonstrationen in Leipzig und Berlin Volkes Stimme mit einem Leierkasten sekundierte und nach dem Mauerfall mit einem Automobil Marke Trabant – dem Trabi genannten Volkswagen der DDR – nahezu die ganze Welt bereiste. Eine kurze Zeitlang mochten auch internationale Medien den Typus des putzigen Ossis, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit seinem kuriosen Plastikgefährt seine neuerlangte Reisefreiheit auskostet, und Becker, der sich als offizieller Botschafter der Ostdeutschen gerierte, hielt dann auch sein Gesicht in jede TV-Kamera, die ihm auf seinem Weg um die Welt über den Weg lief. Mittlerweile ist es ruhig um ihn geworden; bis auf gelegentliche Meldungen in der Lokalpresse oder der Superillu, dem Zentralorgan des ostdeutschen Lebensgefühls, scheren sich die Medien nicht mehr um ihn. Da Becker als Kabarettist bisher noch nicht groß von sich reden gemacht habe und vor allem die jüngeren Leser mit Sicherheit noch nie etwas von Drehorgel-Rolf gehört hätten, sei es doch, so besagtes Redaktionsmitglied, eine klasse Idee, sich die Veranstaltung einmal anzuschauen und darüber zu berichten. Dumm nur, dass sich niemand freiwillig einen Kabarettabend mit »D-Rolf«, wie sich Becker seit einiger Zeit nennt, antun wollte. Noch dümmer war, dass das Los auf mich fiel. Auch nach der Zusicherung der Redaktion, für den Preis der Karten aufzukommen und mich darüber hinaus mit einem sehr großzügigen Trinkgeld auszustatten, da ein solcher Abend nüchtern nicht zu ertragen sei, hatte ich das Gefühl, mit meiner Zusage einen schweren Fehler begangen zu haben.
Meine Zweifel verfestigten sich zur Gewissheit, als ich mir vor der Veranstaltung ein Video bei Youtube anschaute, in dem Becker, der gern von sich in der dritten Person spricht, knapp drei Wochen vor dem Kabarettabend auf dem hallischen Marktplatz als Redner auf einer der sogenannten Mahnwachen für den Frieden auftrat. Er kam dabei auch auf das Kabarett zu sprechen. Die Enthüllung, »dass der Chef der Zeit von Amerikanern, vom CIA gekauft ist«, so Becker auf der Montagsdemonstration am 29. September 2014 auf dem hallischen Marktplatz, sei nicht auf die Recherchen »unserer offenen und klaren und guten Medien« zurückzuführen, sondern Verdienst »einer Kabarettsendung, die Anstalt«, die deswegen »jetzt auch noch verboten wurde«.1 Sein Fazit: »Das Kabarett ist ehrlicher als das richtige Leben.«
Der dritte Kreis der Hölle: Das Publikum
Als ich kurz vor Veranstaltungsbeginn das Restaurant betrete, sind zwei der drei Säle schon voll belegt. Man schickt mich eine Treppe nach oben, und tatsächlich habe ich Glück. Im hinteren Teil des gut gefüllten Raums, dessen Tische mit linksparteiroten Tischdecken geschmückt sind, ist noch ein Tischchen frei, an dem niemand sitzt. Ich nehme Platz und habe noch ein paar Minuten Zeit, mir die Gäste ein wenig näher anzuschauen. Sie harmonieren zum Teil gut mit der Tischdeckenfarbe, schließlich besteht die Hälfte der im Raum befindlichen Zuschauer aus PDS-Rentnern. Eine Gruppe von ihnen hat um einen großen Tisch am linken Bühnenrand Platz genommen. Sie kennen sich scheinbar schon länger und sind dem Lautstärkepegel nach schon ein paar Gläser früher gekommen als der Rest. Die andere Hälfte des Publikums ist zwischen 40 und 50 Jahre alt und weist sich mit seinen Schals, Tüchern oder Brillen – randlos oder dick, schwarze Fassung die Herren, roter Kunststoff die Damen – als Teil der obligatorischen Kulturmafia aus, die auf jeder einschlägigen Wochenendveranstaltung anzutreffen ist. Vereinzelt sehe ich den einen oder anderen Schnauzbartträger, doch gerade als ich beginnen will, sie zu zählen, wird das Licht gedämmt und der erste Kabarettist betritt die Bühne.
Der vierte Kreis der Hölle: »Granaten-Uschi«
Der Mann trägt graues, nach hinten gekämmtes Haar und eine schwarze Hornbrille, sein Lebensalter lässt darauf schließen, dass er zu den alten Hasen des Kabaretts gehört. Das auf meinem Tischchen liegende Programm stellt ihn als Klaus-Dieter Bange vor, Mitglied der Kiebitzensteiner. Das Publikum klatscht verhalten. Klaus-Dieter wirkt ein wenig aufgeregt und verliest sich ständig, aber das kann ich verstehen, schließlich hat er den undankbaren Job, die Zuschauer dieses Saales auf den Abend einzustimmen. Dafür hat er auch nur 15 Minuten Zeit. Er begrüßt die Gäste und stellt den Musiker vor, dessen Aufgabe offenbar die musikalische Untermalung der heutigen Witze ist. Das klingt nach Fasching, und auf dem Niveau einer Büttenrede sind dann auch Banges Pointen. Sie werden fleißig untermalt von karnevalesken Dreiklängen. Trotzdem will so recht keine Stimmung aufkommen, das Publikum wirkt schläfrig. Erst als Bange auf das Fernsehen zu sprechen kommt und anklagend lamentiert, dass »die Bildung vom Fernsehen abgeschafft« worden sei, kommen die PDS-Rentner aus dem Mustopf. Zustimmendes Gelächter und ein einzelner »Stimmt!«-Ruf vom linken Tisch entlocken dem Kabarettisten ein kleines Lächeln. Es ist also doch Verlass auf sein Publikum. Bange kommt auf die Politik zu sprechen, auf die Situation in der Ukraine, nennt die derzeitige Verteidigungsministerin »Granaten-Uschi« und schwadroniert von »Merkels Russlandfeldzug«. Hier erwacht der ganze Saal, der offenbar deutsch-pazifistisch fühlt, und ich wünsche, ich hätte mich nie zu diesem Abend breitschlagen lassen, Trinkgeld hin oder her.
Der fünfte Kreis der Hölle: »Müll-Ede« und die »Zigarettenmafia«
Als der Kiebitzensteiner Micha Kost durch die zum Saal führende Tür in Richtung Bühne läuft, ist die Stimmung schon deutlich gelöster. Das Publikum hat offenbar begriffen, dass es für sein Geld genau das bekommt, was es erwartet hat. Kost alias »Müll-Ede« trägt einen orangefarbenen Arbeitsoverall, der an kommunale Entsorgungsunternehmen erinnert und schiebt eine Mülltonne vor sich her. Als er sie auf die Bühne wuchtet und das Publikum das auf die Tonne geklebte Konterfei der Bundeskanzlerin erblickt, tost lauter Beifall durch den Saal. Kost legt auch gleich los, spielt den einfachen Mann von der Straße und hat damit das Publikum sofort auf seiner Seite. Er fragt in einem lokalen Dialekt in die Runde, warum man eigentlich »keine Zigarettenmafia mehr« auf den Straßen der Stadt sieht, und hat auch gleich eine Antwort parat, die ganz nach dem Geschmack des schon deutlich angetrunkenen ostzonalen Kulturpöbels ist. Die »Zigarettenmafia« sei mit dem ehemaligen Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler und dessen Partei untergegangen. »FDP – das steht für Fietnamesische Demokratische Partei«, ruft Kost in den Saal, und der dankt’s mit brüllendem Gelächter. »Was macht denn der Rösler eigentlich jetzt?«, fragt Kost sein Publikum, das völlig außer Rand und Band gerät, als er ihm erklärt, dass dieser »wieder Kippen auf dem Marktplatz« verkaufen würde. Während Kost weiter vor sich hin kabarettiert, frage ich mich, worin eigentlich der Unterschied zwischen einem Neonazi-Kameradschaftstreffen und einem hallischen Kabarettabend besteht. Außer dem Eintrittspreis von 14 Euro und der Tatsache, dass das Publikum am Ende des Abends lieber nach Hause anstatt »Fidschis klatschen« geht, will mir so recht keiner einfallen. Während ich noch überlege, kramt Kost in seiner Mülltonne und zieht ein paar Plastikdosen daraus hervor. »Warum gehen Männer eigentlich nicht auf Tupperpartys?«, fragt er die gutgelaunten Kabarettbesucher. Mir schwant schlimmes. Leider schaffe ich es nicht rechtzeitig, meine Finger in die Ohren zu stopfen, um von der erneut von tosendem Gelächter sekundierten Pointe verschont zu bleiben: »Na, weil sich dort die Frauen ihre Dosen zeigen!« Wenn es tatsächlich eine Hölle gibt, in der jeder Mensch nach seinem Ableben die für ihn schlimmsten Qualen durchleben muss, dann wird mein persönliches Inferno ein nie enden wollender Kabarettabend mit den Kiebitzensteinern sein.
Der sechste Kreis der Hölle: »Bohrer, Tacker, Schrauber«
Da ich stark damit beschäftigt bin, den Drang zu unterdrücken, in die Tischkante zu beißen, und mein Gehirn, offensichtlich um irreversible Schäden abzuwenden, nur noch Bruchstücke der Aufführung zu mir durchdringen lässt, muss der Bericht an dieser Stelle lückenhaft bleiben. Dunkel nehme ich eine Dame und einen Herren wahr, die offensichtlich ein altes Ehepaar mimen und in thüringischem Dialekt allerlei familienfeiertaugliche Plattitüden über Männer und Frauen zum Besten geben. Ich höre etwas von »drei Dinge braucht ein Mann: Bohrer, Tacker, Schrauber« und »Du hast doch ooch ’n Herd zum Kochen!«, bevor ich langsam in einen ohnmachtsähnlichen Zustand drifte. Nur noch am Rande bekomme ich mit, wie das Ehepaar gegen »de großen Konzerne« wettert, die von der EEG-Umlage befreit wären, während fiese Supermärkte sich an den von den hohen Strompreisen schon genug geschröpften Geldbeuteln der kleinen Leute hemmungslos bereichern würden, in dem sie 220 Gramm Butter für den Preis von 250 Gramm verkaufen würden. Der aufbrandende Applaus des sich belogen und betrogen wähnenden Publikums ist das letzte, was ich noch bewusst wahrnehme.
Gedämpftes Gemurmel lässt mich aus meiner katatonischen Starre schrecken. Die Bühne ist leer, die anderen Gäste sind in Gespräche vertieft oder ordern alkoholischen Nachschub. Sie ist endlich da, die auf dem Programmzettel angekündigte, von mir so heiß ersehnte Pause. Leicht derangiert schleppe ich mich in den Sanitärbereich. Nach einem Schwall kalten Wassers in meinem Gesicht bin ich wieder soweit im Lot, um meine Aufmerksamkeit auf das Geschehen im Saal richten zu können. Ein Mitvierziger im türkisfarbenen Poloshirt erklärt am Nebentisch einem alten Ehepaar, vermutlich seine Eltern oder Schwiegereltern, den weiteren Verlauf des Abends: »Als nächstes kommt der Altlatz, das ist ein anderes Wort für Vater, das ist Hallesch«, doziert er auftrumpfend. Seine weibliche Begleitung schweigt gelangweilt. Das alte Paar, offensichtlich nicht ortsansässig, nickt interessiert. »Und danach kommt Drehorgel-Rolf!« Große Aufregung schwingt in seinen Worten mit, und auch den beiden Rentnern steht die Vorfreude ins Gesicht geschrieben.
Der siebte, achte und neunte Kreis der Hölle: Der heimliche Volkstribun
Nach dem von begeistertem Grunzen des Publikums sekundierten Auftritt Jürgen Seydewitz’ a.k.a. »Der Altlatz« – einer wandelnden Mischung aus ranzigem Altherrenwitz und der unerträglich hässlichen, groben und provinziellen hallischen Mundart – ist es endlich soweit. Der Star des Abends bekommt sogar eine Extra-Ansage. Micha Kost, der seinen orangefarbenen Müllmanndress ausgezogen hat und nun hochdeutsch spricht, betritt die Bühne. Ehrfurcht schwingt in seiner Stimme mit, als er Rolf Becker als einen »Mann, der sehr zu bewundern ist«, ankündigt. Vor der Tür zum Saal ertönt ein Leierkasten. Die Tür wird aufgestoßen und ein kleines grauhaariges Männchen rennt, eine Drehorgel vor sich her schiebend, mit einem lauten »Attacke!«-Ruf auf die Bühne. Auf seiner schwarzen Jacke prangt die Aufschrift D-Rolf, wobei das D im gleichen Design gehalten ist, wie jene Aufkleber, die sich ostdeutschnationale Schnauzbartträger in den Wendejahren auf ihre Autos zu pappen pflegten. Das begeisterte Publikum klatscht schunkelnd mit, während Beckers Drehorgel einen Humtata-Walzer spielt. Man liegt augenblicklich auf der gleichen Wellenlänge, und die Rolf-Fans fühlen sich sichtlich geschmeichelt, als Becker ihnen Honig ums Maul schmiert: »De Hallenser sinn de Spanier der Bundesrepublik, man muss se bloß antippen, dann sinn se da!« Der Lautstärkepegel des Applauses erreicht seinen vorläufigen Höhepunkt, das Publikum johlt vor Begeisterung. Becker setzt gleich noch einen drauf: »Saufen schafft Arbeitsplätze! Alkohol ist Willenssache – ich will!« Besoffen wirkt nicht nur Becker, sondern auch das Publikum, nicht allein von den ausgeschenkten Getränken sondern vor allem vor Glück darüber, endlich den Star des Abends live erleben zu dürfen. Es tut der Begeisterung auch keinen Abbruch, dass Becker weder einen geraden Satz formulieren kann, noch mit einem traditionellen Kabarettprogramm auf der Bühne steht. Das leicht senil wirkende »hallesche Original« (Mitteldeutsche Zeitung) mumpft einfach heraus, was ihm gerade in den Sinn kommt. Es gibt weder einen roten Faden noch irgendwelche vorher ausgedachten Höhepunkte. Aber nach Dramaturgie und Professionalität steht Beckers Fans auch gar nicht der Sinn. Ihr Rolf spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Aus seinem Bauch quillt das heraus, was sie selbst in der Öffentlichkeit niemals offen aussprechen würden.
Becker schiebt sich seine Sehhilfe auf den Haaransatz. »Wenn ein Politiker seine Brille so aufhat, dann sagt er die Wahrheit.« Becker setzt sich seine Brille ganz vorn auf die Nasenspitze. »Wenn er sie so aufhat, dann sagt er die Wahrheit.« Becker schiebt seine Brille wieder auf ihren ursprünglichen Platz zurück. »Wenn er sie so aufhat, dann sagt er auch die Wahrheit.« Becker schaut in die Runde. Lächelnd. Abwartend. »Aber wenn er’s Maul aufmacht, dann lügt er!« Der Saal trampelt vor Begeisterung, und während sich die Stimmung einer Reichsparteitagsfete annähert, wird mir der Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Kabarettisten und Drehorgel-Rolf klar. Kabarettisten spielen eine Rolle, sie mimen den Volkstribun nur. Becker hingegen ist selber einer. Und wie es sich für einen echten Volkstribun gehört, ist Becker auch politisch umtriebig. Nach der Kommunalwahl im Mai 2014 wollte er in den Stadtrat einziehen und bot dabei an Slogans so ziemlich alles auf, was parteilose Populisten bei Wahlen aufzubringen pflegen. Als Kandidat sei er »parteilos, ehrlich, unabhängig«, er wolle die Stadt »gestalten statt verwalten«, und er forderte das Wahlvolk auf, doch bitte »Menschen« und »nicht Parteifunktionäre« zu wählen. Dass er dann doch nicht gewählt wurde, lag nicht etwa an fehlenden Kreuzen. Becker und seine Wahlhelfer hatten es einfach nicht hinbekommen, die entsprechenden Zulassungsformalitäten einzuhalten und die nötigen Unterschriften der Unterstützer korrekt zusammenzutragen und fristgerecht einzureichen.2
Eine neue Chance, vom Volk gehört zu werden, bot sich Becker dann im Sommer 2014. Auf den unseligen Montagsdemonstrationen trat er wiederholt als Redner auf und gab dort zum Besten, wie die politischen Fronten in seiner Welt verlaufen.3 »Die Grenze geht nicht zwischen schwarz und weiß, die Grenze geht nicht zwischen rechts und links […], die Grenze geht zwischen oben und unten. Oben sitzt eine eklige, 0,1-prozentige Fettschicht, die eigentlich nicht merkt, dass sie sich selber das Wasser abgräbt. […] Wir sind die 99 Prozent!« Leider verriet er in seiner Ansprache vom 2. Juni nicht, wer denn eigentlich die fehlenden 0,9 Prozent sind. Aber wer finstere Verschwörungen aufdecken will, der hält sich nicht weiter mit Arithmetik auf. Bereits eine Woche später hatten sich die Zahlenverhältnisse bereits drastisch verändert, und Beckers imaginierte 99 Prozent waren auf 98 geschrumpft. Wahrscheinlich warnte er deshalb so eindringlich vor »bestimmten Gruppen«, von denen »die Menschheit bewusst auseinander gespielt« werde, vor »denen« nämlich, die in Beckers verorgelter Wahnwelt »wirklich das Geld und die Macht haben«, vor den »zwei Prozent, die da oben sitzen, die haben die Medien und erzählen uns die Geschichte vom Pferd«. Aber Rolf sei Dank gibt es ja die Volksmassen mit ihm an der Spitze, die nicht nur bald »gegen die Dreckschicht ganz, ganz oben« mit »Revolution« und »Guerilla-Mittel« vorgehen würden. Mit Hilfe der sozialen Medien stünden auch bald die Parlamente auf ihrer Seite: »Wir aber haben Facebook, wir haben auch die AfD, wir haben auch andere Gruppen, wo viele kluge Leute sitzen.«
Einer der »vielen klugen Leute«, mit denen Becker für den ersehnten Volksaufstand streitet, ist sein Duz-Freund Sven Liebich – ein stadtbekannter ehemaliger Blood-and-Honour-Aktivist, Führungskader des untergegangenen Nationalen Widerstands Halle/Saale und in den 1990er Jahren einer der führenden Nazihäuptlinge in Sachsen-Anhalt.4 Liebich, der mittlerweile behauptet, aus der Szene ausgestiegen zu sein,5 ist nicht nur Beckers Freund, sondern auch sein Sponsor. Mit seinem Versand »Shirtzshop« finanziert er nicht nur Beckers Reisen mit oder versorgt ihn mit den passenden Werbe-Shirts. Er vertreibt auch allerhand Kleidungsstücke mit aufgedruckter Truther-Propaganda à la »9/11 Inside Job«. Dazu passt dann auch, wie Liebich auf dem Facebookauftritt seines Klamottenversands die vermasselte Kandidatur seines Freundes bewarb: »Rolf-Leaks – Eurer Ohr in die Klüngel-Bude!«.
Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass die lokale Presse Beckers politisches Engagement bei den Montagsdemos komplett verschweigt. Mit einem Bericht wäre man gleichzeitig gezwungen, gegen Beckers irrsinniges Querfront-und-Verschwörungsgebrabbel Stellung zu beziehen und würde es sich als Konsequenz daraus mit seiner Leserschaft vollends verscherzen, die man ja regelmäßig mit kleinen Berichten über Beckers Reisen und seine Aktionskunst bei der Stange halten will. Beckers ostzonale Bewunderer hingegen teilen zwar prinzipiell sein Weltbild. Sie teilen seinen Antiamerikanismus ebenso wie seine Vorliebe für Putins autoritär geführtes Russland.6 Sie halten Politik wie ihr Idol als große Verschwörung gegen das einfache Volk. Und sie haben durchaus auch etwas für Nazis wie den Grafen Luckner,7 den sogenannten »Retter von Halle«, übrig. Aber sie sind im Gegensatz zu Becker Realisten genug, um sich von Veranstaltungen wie den Montagsdemos fernzuhalten. Die politische Stimmungslage können sie instinktiv weit besser einschätzen, und im Gegensatz zu Becker wissen sie, dass die Volksfront gegen »die da oben«, nach der sie sich insgeheim sehnen, derzeit nicht auf der politischen Tagesordnung steht. So verhallte D-Rolfs nach jeder Rede kämpferisch vorgetragenes Mantra »Bildet Banden!« ungehört. Die von ihm ersehnte Massenbewegung blieb aus. Becker ist nur ein heimlicher Volkstribun, dessen Volk es völlig genügt, ihm auf Familienfeiern zuzustimmen oder beim politischen Kabarett zuzujubeln.
Vom Purgatorio zum Paradiso
Das Programm endet, wie es begonnen hat, mit den Kiebitzensteinern. Nachdem ich in der tausendsten Variation des Abends vernommen habe, dass »Politik und Kriminalität ein und dasselbe« seien, frage ich mich verzweifelt, womit ich das alles verdient habe. Werde ich jemals vergessen können, was ich heute sehen musste und durchlitten habe? Vor der Treppe unterhalten sich zwei Mittfünfziger über Politik. »Da gibt’s keene Lobby und wo keene Lobby is, da gibt’s keen Geld«, meint der eine. Sein Gegenüber stimmt resigniert zu: »Das is überall so!« Schade, denke ich, während ich mich die Treppenstufen nach unten schleppe, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, der Kabarett-Lobby den Kampf anzusagen. Obwohl es treppab geht, habe ich das Gefühl, einen endlos hohen Berg zu beschreiten. Jeder Schritt fällt mir schwer. Es ist, als hätte mir jemand einen riesigen Stein aufgebürdet, unter dessen Last ich fast zusammenbreche. Auf der letzten Treppenstufe überfällt mich siedend heiß die Erkenntnis: Ich habe mir diesen Abend selbst zuzuschreiben. Das ganze Elend hat mir meine verdammte Eitelkeit eingebrockt! Niemals wieder, so schwöre ich mir selbst, werde ich einen derartigen Auftrag für die Redaktion übernehmen. Zu hoch ist der Preis für den kurzen Ruhm einer Veröffentlichung. Geläutert und einen gefühlten Zentner leichter verlasse ich das Palais S. Mit jedem Schritt auf meine Wohnung zu leuchtet die von mir spontan gefasste paradiesische Idee, wie ich den höllischen Abend hinter mir lassen könnte, ein kleines bisschen heller. In meinem Wohnzimmerregal liegt eine noch ungesehene DVD. Jürgen von der Lippe. Das Beste aus 30 Jahren. Vielleicht kann ich auf diese Weise die Hölle des heute Erlittenen vergessen. Zumindest für 135 Minuten.
Knut Germar
Anmerkungen
1 Um es für den nichteingeweihten Leser mal vom Verschwörungstheoretischen ins Deutsche zu übersetzen: Die ZDF-Kabarett-Sendung Die Anstalt hatte – musikalisch vom deutschen Gesinnungs-Barden Konstantin Wecker untermalt – am 29. April 2014 behauptet, Josef Joffe, der Mitherausgeber der Zeit, sei Mitglied in mehreren transatlantischen Lobbyverbänden, die als »Nato-Versteher« nur »eine Antwort« auf den Ukraine-Konflikt kennen würden, nämlich »mehr Rüstung«. Da es die Sendung in ihrer verschwörungstheoretischen Lügenpresse-Schelte offensichtlich mit den Tatsachen nicht so genau nahm, hatten Joffe und sein ebenfalls betroffener Kollege Jochen Bittner per einstweiliger Verfügung durchgesetzt, dass die entsprechende Sendung aus der Online-Mediathek des Senders entfernt wird und rechtliche Schritte eingeleitet. Das, was Becker als CIA-gesteuerte Verschwörung gegen die Sendung halluzinierte, war mit anderen Worten ein ganz normaler rechtsstaatlicher Vorgang.
2 Vgl. hierzu http://hallespektrum.de/nachrichten/politik/nicht-erreichbar-d-rolf-versemmelt-wahlzulassung-droht-klage/92292/
3 Alle Redebeiträge Beckers sind auf Youtube dokumentiert.
4 Vgl. hierzu http://antifa.uni-halle.de/AntifaschistischerRundbrief.pdf.
5 Vgl. hierzu Steffen Könau: Als Halle noch Nazi-Hochburg war, Onlineausgabe der Mitteldeutsche Zeitung vom 15. April 2013. Trotz Könaus plumpen und peinlichen Versuchen, die Identität Liebichs zu schützen (»groß gewachsener Junge aus Merseburg«), ist der Interviewte ohne Zweifel Sven Liebich. Der Artikel des bekennenden Freiwild-Fans strotzt nicht nur vor lauter Sympathie für den »rechten Aussteiger«. Er übernimmt auch Liebichs Darstellung ohne sie zu hinterfragen und verhandelt die Auseinandersetzungen zwischen Antifas und Nazis als Taten von Leuten, die »sich für ihre Weltsicht krankenhausreif« prügeln. Der Naziversteher Könau verharmlost mit seinem Artikel die in den 1990er Jahren von hallischen Neonazis begangenen Überfälle und Bedrohungen, indem er sie nicht erwähnt oder als »Räuber-und-Gendarm-Spiel« bezeichnet.
6 Als der Saalekreis-Landrat Frank Bannert (CDU) Becker als offiziellen »Bildungsbotschafter« der Region zu den olympischen Winterspielen nach Sotschi schickte, gab Becker angesichts der Kritik an Russlands schwulenfeindlicher und autoritärer Politik folgendes zum Besten: »Man muss ja auch mal sehen, dass Putin nicht so regieren kann, wie ein Landrat im Saalekreis. Der muss in seinem Riesenreich andere Methoden anwenden.« Vgl. hierzu die Onlineausgabe der Mitteldeutschen Zeitung vom 15. Januar 2015.
7 Zu Felix Graf von Luckner vgl. Bonjour Tristesse #13. Zu Beckers Lucknerverteidigung vgl. Bonjour Tristesse #14.
Grandios, danke!