Vor etwa zwei Jahren wurde der selbsternannten »lebens- und liebenswerten« Stadt Halle die ganz besondere Ehre zuteil, als Drehort für den Spielfilm »Wir sind jung. Wir sind stark.« herzuhalten. Das hatte allerdings weniger mit Halles »liebenswerten« Schauplätzen zu tun, als mit der authentischen Neunzigerjahre-Tristesse, welche die hallische Südstadt charakterisiert. An der Straßenbahn-Endhaltestelle Elsa-Brändström-Straße fand der Produzent des Films die perfekte Kulisse für das sogenannte Sonnenblumenhaus, das durch die pogromartigen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen weltberühmt geworden ist. Der Film thematisiert den 24. August 1992, an dem ein Mob die mit einem Sonnenblumenmosaik verzierte Unterkunft ehemaliger Vertragsarbeiter aus Vietnam angriff – unter dem Beifall schaulustiger Anwohner. Die Bewohner der hallischen Südstadt hatten auch was zu schauen und empfingen die Filmcrew, wie die Mitteldeutsche Zeitung stolz berichtete, »mit offenen Armen«. Mittlerweile ist längst wieder »Normalität« in die Tristesse eingekehrt und der elfgeschossige Plattenbau ist einer schlichten Grünfläche gewichen. Anfang 2015 lief der Spielfilm in den deutschen Programmkinos.
Wie es sich für einen deutschen Film über die eigene Geschichte gehört, bietet das rund zweistündige Drama einen Einblick in das Denken und Handeln »ganz normaler Menschen« – sprich der deutschen Täter – und fördert das Verständnis für diese. Der Film beabsichtigt, so Regisseur Burhan Qurbani in einem Interview, dass der Zuschauer »zumindest für eine Weile auch mit ihnen sympathisiert«. Dafür ließen sich die Drehbuchautoren drei Erzählstränge einfallen, die aus verschiedenen Perspektiven den Tag rekapitulieren: die Perspektive der jugendlichen Täter, die einer jungen Vietnamesin und die eines inkompetenten Lokalpolitikers. Die »sympathischen« Jugendlichen, deren Alltag zwischen Platte, Spaziergängen im Grünen und Badespaß an der Ostsee lang und detailliert geschildert wird, geben sich wenig beeindruckt von den Parolen des einzigen waschechten Neonazis in der Gruppe, dessen Autorität einzig auf seiner physischen Überlegenheit basiert. Naziparolen gehören für die Kids zwar zum Alltag wie die Flasche Bier zum Alkoholiker, doch lässt der Film keinen Zweifel an ihrer unvoreingenommenen Haltung aufkommen: Nach jeder rechten Parole wird ein Popsong oder linkes Arbeiterlied angestimmt. Wie man Interviews mit Qurbani entnehmen kann, glaubt er fest an die Jugendlichen mit weißer Weste und ungefestigtem Weltbild. Dass überzeugte Nazis jedoch nicht viel dazu beitragen müssen, um aus einem »sympathischen« Heranwachsenden aus Rostock-Lichtenhagen einen potentiellen rassistischen Mörder zu machen, ist ihm offenbar entgangen. Qurbani hat zwar Recht, wenn er sagt, dass die Randalierer nicht alle ideologisch gefestigte Nazis waren. Doch verzerrt der in aller Penetranz verfolgte Umkehrschluss, die Jugendlichen seien unvoreingenommen und frei von jeder Ideologie, die gesellschaftliche Realität im Deutschland der 1990er Jahre. Laut Regisseur war der Angriff auf das Heim ein »Bruch« mit der Normalität, von der die Jugendlichen zuvor geprägt worden seien. Dieses Urteil verwundert wenig, wird doch im gesamten Film kein Wort über die damalige öffentliche Stigmatisierung der Asylsuchenden verloren. Es war diese Stimmung, die es ermöglichte, dass sich die Randalierer als Vollstrecker des »gesunden« Volkswillens fühlen konnten. Vor dem Sonnenblumenhaus fand kein »Bruch« mit einer wie auch immer gearteten Normalität statt. Stattdessen fand die damals konsensfähige Parole »Ausländer raus!« ihre praktische Umsetzung.
Während die arbeitslosen Jugendlichen im Film ihren Konformismus durch Randale zeigen, will sich hingegen die Figur der jungen Vietnamesin Lien im zweiten Erzählstrang des Films mit ihrem Fleiß in die Gesellschaftsordnung eingliedern. Sie wird im Film als arbeitstüchtige und integrationswillige Migrantin gezeichnet, die dankbar für die Chance ist, in einer Wäscherei zu arbeiten. Man muss keine großen Denksprünge verrichten, um die Klischeehaftigkeit dieses Charakters zu bemerken – formuliert es der Chef von Lien im Film doch sinngemäß wie folgt: Ich mag euch Asiaten, ihr seid wenigstens fleißige Arbeiter. Auch wenn der Film offensichtlich auf eine Dramatisierung setzt und so den späteren Zusammenbruch der Lebenswelt Liens verstärken will, bleibt der Rückgriff auf dieses Stereotyp kein Zufall. Schließlich gilt es dem Zuschauer zu vermitteln, dass in Lichtenhagen nicht nur Jugendliche ihre »Unschuld« verloren haben, sondern auch Menschen zu Schaden gekommen sind. Diese Menschen sollen aber nicht gewöhnliche Migranten gewesen sein, sondern besonders produktive und integrierte Arbeitskräfte. Die ekligen Sprüche ihrer deutschen Mitbürger und der finale Angriff auf das Sonnenblumenhaus scheinen nicht Grund genug zu sein, mit der jungen Vietnamesin mitzufühlen. Die Figur Lien muss für die Empathie der Zuschauer erst ihren Fleiß und Integrationswillen unter Beweis stellen. Im Unterschied zur jungen Vietnamesin bleiben die Roma, die das Gros der Flüchtlinge stellten, und an denen sich der Volkszorn zunächst entwickelte, nur stumme Objekte am Rande des Films. Für sie ist das Bild des herumlungernden und bettelnden »Zigeuners« reserviert, das wohlgemerkt auch die Rostocker des Jahres 1992 hatten.
Im Gegensatz zum Mob vor dem Sonnenblumenhaus, der keinen Unterschied zwischen produktiven und unproduktiven Ausländern machte, ist die Dichotomie vom faulen »Zigeuner« und fleißiger Asiatin für den Regisseur und sein deutsches Publikum umso wichtiger: Es lässt sich schlicht einfacher darüber empören, dass dem Mob nicht nur »schmarotzende« Roma sondern auch nützliche Migranten zum Opfer fielen. Der Film ist ein Zeugnis deutschen Produktivitätswahns und stieß genau deshalb auf fruchtbaren Boden: Von der Tageszeitung bis zur Welt erntete er nahezu durchgängig positive Rezensionen. [amk]
Das Sonnenblumenhaus in der hallischen Südstadt
19. Oktober 2015 von bonjour tristesse
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