Zugegeben: Die über den privaten Lokalsender TV Halle (u. a. »Kupplung, Gas und Grips«) meist in voller Länge übertragenen Stadtratssitzungen besitzen insbesondere unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Substanzen einen gewissen Unterhaltungswert. Die meist fraktionsübergreifend in unverständlichem Dialekt vorgetragenen Redebeiträge, die herrlich skurillen Geschäftsordnungsdebatten und die wunderbar komischen Nachfragen engagierter männlicher Vorruheständler sind der krönende Abschluss einer jeden Kifferparty. Bei Beschlüssen wie der Umbenennung der »Lilien-Grundschule« in »LILIEN-Grundschule« (»mehrheitlich zugestimmt«; zu 6.18; Vorlage: V/2013/12143; Amtsblatt, 26.03.2014) dürfte selbst bei den politikuninteressiertesten Zeitgenossen die Stimmung durch die Decke gehen.
Nur selten jedoch rufen Entscheidungen dieses Gremiums irgendwelche Reaktionen hervor. Kaum jemand nimmt von wegweisenden Beschlüssen Kenntnis, wie aktuell zum Beispiel »die Einsatzmöglichkeiten freier Software in der Stadtverwaltung« anzuregen (Vorlage: V/2014/12430) oder den »eingeschlagenen Weg der Mobilitätsoptimierung« fortzusetzen (Vorlage: V/2014/12439). Anders war dies – der kluge Leser ahnt es bereits – als der Stadtrat Ende vergangenen Jahres beschloss, das ehemalige Kino 188, das heute als Künstlerhaus 188 im Böllberger Weg sein tristes Dasein fristet, abzureißen. Hintergrund des Entschlusses ist die geplante Sanierung des Böllberger Weges, die in weiten Teilen von Land und Bund finanziert wird. Die Förderrichtlinien sehen vor, dass im gesamten Verlauf die dort ebenfalls verkehrende Straßenbahn ein eigenes Gleisbett bekommt. Nun hatte bei der Planung scheinbar niemand so genau nachgemessen, und ehe der Morgen graute, wurde klar, dass eine zweigleisige Straßenbahntrasse, zwei Fahrspuren sowie Rad- und Fußweg zusammen breiter sind als der vorhandene Platz, nicht nur, aber insbesondere auf Höhe des Künstlerhauses. Um die Straße den Förderrichtlinien gemäß zu sanieren und die dafür bereitstehenden mehrere Millionen Euro zu sichern, entschied der Stadtrat nach einer hitzigen Debatte (23:19 Stimmen, vier Enthaltungen) knapp für den Abriss des Hauses, nicht jedoch ohne durchaus akzeptable Ausweichoptionen für die betroffenen Künstler bedacht zu haben. Es sei ein »vertretbares Übel«, so ein SPD-Abgeordneter, wobei ideologische Zugehörigkeit bei dieser Entscheidung keine wesentliche Rolle zu spielen schien. Diese Abstimmung kannte keine Parteien mehr, sondern nur noch üble Verräter und echte Hallenser.
Nun ist das 120 Jahre alte Haus nicht besonders hübsch, eine notwendige Sanierung würde wohl eine Million Euro kosten, die niemand aufzubringen bereit ist. Die Gegend ist lebensfeindlich, der Verkehr zischt vorbei wie Eisregen in Nordkamtschatka, und die junge Kunstszene hat es sich längst im Norden der Stadt eingerichtet oder hatte das Glück, der Ödnis einer mittelgroßen Stadt gänzlich zu entkommen. Auch die angebotenen Ausweichobjekte dürften in den meisten Fällen nicht zu einer Verschlechterung der Bedingungen führen. Doch schon vor dem Beschluss des Stadtrates formierte sich eine illustre Allianz zur Verteidigung des Status Quo (für den – nebenbei bemerkt – die Kommune jährlich 130.000 Euro an Betriebskosten zuschießt). Neben ehemaligen Schülern des früheren Schulgebäudes der Weingartenschule (auch Wahlchilenin Margot Honecker ging hier zur Schule), dem Kunst-Who-is-Who Halles (also zwei Professoren, eine Galeristin und ein frisierter Zwergpinscher) und ein paar Architekturstudenten gaben vor allem der jenseits der Franckeschen Stiftungen vollständig unbekannte hallische Maler und Grafiker Burkhard Aust und der immer wieder als »unbequem« gezeichnete Wolf Biermann die Einpeitscher des Protestes. Wolf Biermann, dessen aus Halle stammende Großmutter einst ebenfalls die Weingartenschule besuchte, fabulierte in einem etwas wirr wirkenden offenen Brief an den hallischen Künstler Moritz Götze davon, dass das Gebäude »also jetzt, mitten im Frieden, von bürokratischen Vollendern des Bombenkrieges in Halle an der Saale zerstört werden soll.« Der ganz und gar nicht »unbequeme«, sondern als Lautsprecher einer die Eliten verachtenden Mehrheit fungierende Biermann schreibt sich im Verlauf derart in Rage, dass er von »asozialem Bürokratenpack mit privilegiertem Beamtenstatus« halluziniert, ganz so, als säßen im hallischen Stadtrat nicht mehrheitlich armselige Selbstdarsteller, sondern fette Bonzen mit fünfstelligem Monatssold. Der Hallenser Aust hingegen kam auf die Idee, direkt am »Künstlerhaus 188« eine sogenannte »Galerie der Stadträte« einzurichten. Hinter der harmlosen Bezeichnung verbarg sich ein von jedem Stadtrat angefertigter Scherenschnitt – künstlerisch auf dem Niveau Erzieherausbildung, erstes Lehrjahr, Gestalten und Basteln – der mit Namen und Parteizugehörigkeit versehen und auf ein A3-Blatt gedruckt wurde. Die hergestellten Plakate wurden dann auf der gesamten Länge der Fassade des Hauses nebeneinander angebracht. Jeder Stadtrat, der gegen den Abriss des Hauses gestimmt hatte, erhielt aufgezeichnet dazu ein großes grünes Häkchen; ein Stadtrat, der sich der Stimme enthielt, bekam einen einfachen Strich. Die Vertreter jener Mehrheit jedoch, die den Abriss beschlossen hatten, fanden ihr jeweiliges Konterfei hinter einem roten Fadenkreuz wieder: zum Abschuss freigegeben. Nun leben wir – selbst in Halle – nicht nur meteorologisch in gemäßigten Breiten. Öffentliche Mordaufrufe finden zumeist niemanden, der bereit ist, sich der Sache ernsthaft anzunehmen. Es ist also nicht zu erwarten, dass Austs impliziertem Aufruf, die »Täter« zur Verantwortung zu ziehen, irgendwelche ernstzunehmenden Konsequenzen folgen. Dankenswert deutlich wird jedoch der Wunsch der ehrenwerten Kunstgesellschaft nach einer Verwandlung der Gesellschaft in einen Mafiastaat, in dem jene obsiegen, die über die nötige Durchsetzungskraft oder die Kontakte zu Prominenz und Entscheidungsträgern verfügen. Wer seine Wut über eine Entscheidung einer Stadtverwaltung nur mit Fahndungsplakaten im Stile des Wilden Westens gegen die einzelnen Entscheidungsträger zu bannen in der Lage ist, wer implizit ausdrückt: auch Stadträte haben Namen und Adressen, und damit zur Selbstjustiz aufruft, und wer solch eine üble propagandistische Hetze noch als »Kunst« bezeichnet, dem sei, bei aller Kritik an völlig bescheuerten Förderrichtlinien, gegönnt, die Betriebskosten für seine Töpferwerkstatt zukünftig selbst zu berappen. [mab]
Von Häkchen und Kreuzen
15. Juli 2014 von bonjour tristesse
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