Magdeburger, Friedensfahrer, Ostdeutscher. Man ist geneigt, es bei diesen drei Worten zu belassen, möchte man den Mann beschreiben, der, noch vor Peter Sodann, wie kein Zweiter das Selbstverständnis des ideellen Gesamtossis darstellt. Gustav-Adolf Schur veröffentlichte im Februar dieses Jahres mit seiner Autobiografie „Täve“ ein knapp 300 Seiten starkes Konvolut ostdeutschen Opfertums, welches er im April 2011 in einer hallischen Buchhandlung vorstellte. Vor keiner Herausforderung zurückschreckend, schwang sich Bonjour-Tristesse-Redakteur Malte Fruchtiger aufs Rad, um den Amateurrennfahrer kennenzulernen.
Schon dem „Erlebnis Täve“ beiwohnen zu können, sollte die erste Hürde zu diesem Artikel darstellen. Die Massen wollten Täve – ich wollte nur meine Neugier befriedigen und kam entsprechend professionell nur noch mittels Presseausweis in die seit langem ausverkaufte Lesung. Zirka zweihundert Menschen – Hallenser, Friedensfahrer, Ostdeutsche, so vermute ich – versammelten sich bei „Rotkäppchen“ und „Radeberger“, um Täves Ausführungen zum Radsport, der Politik, dem Leben und dem Leiden beizuwohnen. Und zu sagen hatte er wirklich zu allem etwas.
Eine gescheite deutsche Biografie kommt nicht ohne den „Bombenkrieg“ aus, und so ist es auch kein Wunder, dass sich Täve, geboren im Februar 1931 in Heyrothsberge, einem Dorf in der Nähe von Magdeburg, an die Zeit zurückerinnert, in der er als „Pimpf“ die „Bombenteppiche“ der alliierten Streitkräfte erlebte. (Soweit nicht anders gekennzeichnet, entstammen alle Zitate direkt der Buchvorstellung oder der Autobiografie.) Es sind nur wenige Sätze, die er zum Zweiten Weltkrieg verliert, jedoch lassen sich schon hier all die Denkmuster ablesen, die sich durch seine gesamte Biografie ziehen werden: Das Lob der Mutter, die allein die Familie durchbringen muss. Der Vater, der „ständig abwesend“ ist. Bezeichnend, aber nicht überraschend, wird die „Abwesenheit“ nicht weiter erläutert. Das völlige Fehlen einer jeden Reflexion scheint nicht nur seinen Weg in das Buch genommen zu haben, es scheint vielmehr Täves Denken und Handeln an sich zu bestimmen. Das Individuum Gustav-Adolf gibt es nicht; da ist nur Täve, der Gemeinschaftsmensch, immer bereit sich einzusetzen. Wofür, ist da fast nebensächlich.
There is no „I“ in „Team Täve“
Da ist zum Einen das Fahrradfahren, das Amateurradfahren, um genau zu sein. Denn wichtig ist es schon, erstens kein Profi zu sein, ist doch der Profisport zweitens eine „Ware“, die verkauft werden muss.
1. Täve Schurs Begeisterung für den Amateursport begründet sich vor allem im von ihm beschworenen Mannschaftsgeist. So wird Täve Schur zwar gern und oft als vielfacher „DDR-Meister“, Gewinner der „DDR-Rundfahrt“ sowie der „Friedensfahrt“ gepriesen, „unvergessen“ wurde er jedoch durch die „UCI-Straßen-Weltmeisterschaften“ 1960, als er zugunsten eines Teamkollegen auf den Sieg verzichtete. Inwiefern taktische Überlegungen bei Mannschaftssportarten eine Rolle spielen, soll hier gar nicht diskutiert werden. Wichtig ist vielmehr der Mythos, der sich um den „selbstlosen Helden“ aufbaute. Dass Täve Schur sich selbst nie als Helden bezeichnen würde, ist dabei nur selbstverständlich: Die „Aufopferung“ für die Mannschaft, die er so penetrant selbstlos tausendfach wiederholen muss, dass er im Buch zumindest in Bezug auf die WM 1960 gleich ganz darauf verzichtet und lieber über mehrere Seiten aus Erik Neutschs „Spur der Steine“ zitiert, der wiederum über mehrere Seiten eine Eloge auf Täves „Einsatz für die Mannschaft“ verfasste, zieht sich wie ein zäher, am Schuh klebender Kaugummi durch das gesamte Buch. Täve schreibt über seine „Leidenschaft“, kommt dabei jedoch nie über den Zwang, der ihn antreibt, hinaus: In seinen Jugendjahren zwang ihn der Fahrplan eines Überlandbusses in der sachsen-anhaltischen Provinz, schneller zu sein. Diesen einzuholen, sollte die erste Radfahrherausforderung sein, der sich Täve stellte. Es zwangen ihn die Werktätigen, die das Fehlen des Amateurs im Kombinat zu kompensieren hatten. Diese waren natürlich stolz auf ihren Täve und arbeiteten somit für ihren von der Arbeit freigestellten Kollegen. Und ganz nach der Losung „Mein Arbeitsplatz – Kampfplatz für den Frieden!“ zwang den radelnden Proletarier „vor allem (!) die Bonner Politik“ zu Höchstleistungen. So ist nun ausgerechnet der Westen noch Schuld an den Siegen des Täve Schur. Stünde es nicht Schwarz auf Weiß vor mir, niemand könnte mir glaubhaft machen, dass man so ostdeutsch sein kann.
2. „Die Multis“ haben die Macht über den Sport übernommen und, oh Schreck, sie interessieren sich gar nicht für den Sport, sondern nur für den „Profit“. Was eine Binsenweisheit sein könnte, verkommt beim Amateursportler nicht nur zur Anklage gegen „den Kapitalismus“, den er mittels materialistischer Dialektik zu kritisieren weiß: „Der Marxismus ist so was wie ein Werkzeugkasten, weißt Du. Da liegt Verschiedenes drin, aber nicht jedes Ding taugt für alles.“ Der Kapitalismus wird zugleich dem moralisch erhabenen System des Amateursports, nicht nur in der DDR, untergeordnet. Dieses System sorgte dafür, dass ein Täve auch ja nicht die Bedeutung harter Arbeit vergessen sollte. Er war schließlich einer von ihnen, den „Kumpeln“ in den Betrieben. Und so verbindet sich das Lob der Arbeit wie selbstverständlich mit der Anforderung, die, ganz klar, von Anderen kommt, nicht arbeiten zu dürfen: „Ich kann schweißen, bohren, hart löten, weich löten, ich kann Brunnen bohren, Autos reparieren und Fahrräder sowieso. Ich könnte heute noch Töpfe flicken, wie ich es nach dem Krieg getan habe. Aber gut, sie brauchten mich beim DTSB (Deutscher Turn- und Sportbund; d. V.).“ Und so wie Täve der Verpflichtung zum Radfahren nachkam, so entzog er sich auch nicht der Verpflichtung, „sich für Frieden [und] Freundschaft zwischen den Völkern“ einzusetzen. Und wurde Abgeordneter – zuerst der Volkskammer von 1958 bis 1990 und dann des Deutschen Bundestages von 1998 bis 2002.
Neues Deutschland
Während sich die gesellige Runde in der hallischen Buchhandlung in ein Meer von Anekdötchen verwandelte, zu denen ein jeder schulterklopfend seinen Bautz’ner Senf dazugab – „So isses, Recht hat er, der Täve“ – stellte ich fest, dass ich mich in einer Zeitschleife zu befinden schien. Die Wiederholung der immergleichen Phrasen, das beständige Sich-zunicken, welches kaum noch eines Wortes bedurfte, um die eigene Meinung einander zu bestätigen, sollte mir einen Vorgeschmack auf die Lektüre geben, die vor mir lag: Täve, der Radfahrer; Täve, der Volkskammerabgeordnete (den ich hier auslasse, um dem Leser zumindest eine Wiederholung zu ersparen) und jetzt Täve, der Bundestagsabgeordnete.
1998 – Täve Schur ertrug nun schon das neunte Jahr nach der „Kehrtwende“ – benötigte die PDS einen, der noch so richtig die orthodoxen Ostalgiker anziehen konnte. Nur kurz zur Erinnerung: Die PDS, zwar in den ostdeutschen Landtagen im zweistelligen Prozentbereich vertreten, vermochte es bis dahin nicht, bundesweit auf fünf Prozent der Wählerstimmen zu kommen. An eine Westausdehnung war nicht zu denken und im Bundestag war sie nur deswegen vertreten, weil sie bei den Wahlen 1994 in Berlin vier Direktmandate erringen konnte. So konzentrierte sich das Mobilisierungspotential der Partei noch mehr als heute auf die „Sorgen und Nöte“ derer, die nicht nur (ost-)deutsch denken, sondern auch geografisch im Osten zu verorten waren. Und da kam einer wie Täve gerade recht. Leidvolle Erfahrungen prägten seine Jahre nach 1989: Verschiedene Versuche, die soziale Marktwirtschaft zu genießen, wurden ihm von Anderen immer wieder vereitelt. Der Fahrradladen, den er in Magdeburg zusammen mit seinen Söhnen eröffnete, kostete ihn, neben der Verpflichtung zur Übernahme von mehreren Angestellten und Auszubildenden, die in der ehemals dort ansässigen HO-Filiale (Handelsorganisation der DDR) gearbeitet hatten, zusätzlich zum Kaufpreis weitere 50.000 DM. Dieser Betrag ging an die „ärgsten Räuber, die nicht nur Konten plünderten, sondern Millionen den Arbeitsplatz stahlen“. Er meint die „Treuhandanstalt“, die nach der Vereinigung für die Privatisierung der „Volkseigenen Betriebe“ der DDR zuständig war. Das Hotel, welches einer seiner Söhne im Harz betrieb, wurde von der „Vereins- und Westbank“, die „ihre Zusage für einen Kredit [nicht] eingehalten“ hatte, zwangsversteigert und sollte bald einem „Wessi“, einem Steuerberater aus Wolfenbüttel, gehören. Selbst die Friedensfahrt, für deren Rettung sich Schur einsetzte, gelangte auf die „Holperstraße des Kommerzes“ und Täve musste nicht nur damit leben, dass aus dem Amateur- ein Profirennen wurde, sondern auch, dass Sponsoren nicht aus „ursprünglichen Motiven des Rennens ihre Summen überwiesen“. (Mittlerweile tun sie nicht mal mehr das, die Friedensfahrt fand 2006 das letzte Mal statt.)
Genug Kapitalismuserfahrung also, um 1998 als originäres Ostprodukt von der PDS als Spitzenkandidat des sächsischen Landesverbands zur Bundestagswahl aufgestellt zu werden. Als dieser ließ sich Schur nicht lumpen und plauderte drauf los: „Die bürgerlichen Medien manipulieren die Menschen so, als wenn man den Negern sagt, in der Wüste gibt‘s Wasser und Brot, und die rennen alle in den Tod.“1 Dies kann einem Täve natürlich nicht passieren – der liest ND: „Aber ich lese ja Neues Deutschland, da weiß ich, was nicht in der bürgerlichen Presse steht. Also, dass was drinne stehen müsste im Sinne der Veränderung der Welt.“2 Dass es diese Veränderung notfalls „mit der Waffe zu verteidigen“ gilt, ist dabei selbstverständlich. Nur mit der Konsequenz hapert es dabei noch etwas: „Ich hätte wohl versucht, auf die Beine zu schießen“, so Schur, als er bei einer Wahlkampfveranstaltung auf die DDR-Grenzflüchtlinge zu sprechen kam.3
„Külow, das alte Wildschwein“
Auch wenn solche Perlen realsozialistischen Gedankenguts bei einem Teil seiner Fans ankommen mögen, so wurde einigen Parteigenossen doch klar, dass Täve der PDS vielleicht mehr schaden als nutzen könnte und so stellten sie ihm, den Abgeordnetenkandidaten, einen eigenen Pressesprecher zur Seite. Dieser übernahm die nicht ganz einfache Aufgabe, Täve-Deutsch mit Interpretationshilfen zu versehen, damit dieser selbst und die PDS halbwegs unbeschadet durch den Bundestagswahlkampf gelangten. Doch auch Volker Külow, 1998 Mitarbeiter für die PDS im Bundestag, seit 2001 Vorsitzender des Stadtverbandes der PDS/Linke in Leipzig und seit 2004 Mitglied des sächsischen Landtags, konnte vielfach nur nachträgliche Schadensbegrenzung betreiben. Külow saß oft genug hilflos daneben – „Mensch Külow. Jetzt sei aber mal stille.“ –, wenn Täve seine Meinung zum Besten gab: Gefragt, wie mit dem zunehmenden Problem des Rechtsradikalismus (die „ganze braune Soße“ ist natürlich aus dem Westen „rübergeschwappt“) umzugehen sei, musste Schur nicht lange überlegen und zog die Lösung aus dem sozialistischen Hut: „Hitler hat die Probleme ja noch in den Griff gekriegt, indem er Autobahnen baute.“4 Trotz dieses Kompetenzbeweises in Sachen sozialistischer Infrastrukturpolitik, wurde Täve dann sportpolitischer Sprecher der PDS-Bundestagsfraktion. In dieser Funktion hörte man dann nur noch recht wenig von ihm. In Sachen Dopingaufklärung in der DDR wusste er zu berichten, dass alles „wissenschaftlich kontrolliert“ worden war, im Gegensatz zu den „profitorientierten Pharmakonzernen“ jedoch mit „Akribie und Verantwortungsbewusstsein“. Er beschränkte sich auf die Volksgesundheit, indem er Sport für die Jugend empfahl, um diese „anderen Reizen“ zu entziehen. Einen richtigen „Täve“ konnte er damit auch nicht mehr landen. Aus dem Bundestag verschwand er dann auch nach vier Jahren, wahrscheinlich waren selbst seine Parteigenossen dafür dankbar.
Just Täve
Zwei Stunden dauerte die Buchvorstellung mittlerweile an. Das „Radeberger“ war schon so schal, wie die Redebeiträge von Autor und Gästen. Ich schwankte zwischen aufkommender Aggression und zunehmender Langeweile. Das gebetsmühlenartige Wiederholen des eigenen Opferdaseins, sei es gegenüber Banken, Politikern, dem Westen, nahm unerträgliche Züge an. Die Außenpolitik, der Krieg, das Öl (hier: Libyen). Alles verschwamm zu den bekannten Erklärungsmustern.
Während des Vortrages verlor Täve zuweilen den Faden, wurde vom Publikum tatkräftig wieder angeschoben und ich fragte mich, ob der Mann, der da vorne stand und kurz zuvor seinen schon achtzigsten Geburtstag feierte, nicht vielleicht doch etwas zu bemitleiden wäre. Doch stellte ich mir diese Frage nur kurzzeitig. Täve Schur wusste, was er erzählte: Sein Abschweifen; das Geschichtenerzählen; die Anekdoten, bei denen alle herzlich lachten; der Dialog mit dem Zuhörer, der im Grunde ein ostdeutscher Monolog war. Genau das ist diese Autobiografie: eine Zwangsumarmung, distanzlos, monologisch. Genau das ist er: Der DDR-Bürger, der Rennradamateur, der Magdeburger, dessen Briefkasten dementsprechend nicht beschildert ist mit „Gustav-Adolf Schur“. Sondern mit „Täve“. Sonst nichts.
Malte Fruchtiger
Anmerkungen:
1 Osang, Alexander: Ankunft in der neuen Mitte. Reportagen und Porträts. Berlin 2000.
2 Ebd.
3 Focus 19/1998.
4 Osang 2000.
Köstlich…
Malte Fruchtiger gelang hier ein peinliches Mißgescheschick bundesdeutscher Arroganz, gegenüber einer ostdeutschen Biographie, deren Schwere er scheinbar mit seinem BRD Geschichtsbewusstsein nicht einmal erahnen kann
Wenigstens hat Fruchtiger Leuten wie ihnen die Schwarte um die Ohren zu hauen versucht, so dass Sie, und ganz ohne Waage, eine Ahnung von ihrer MASSE (zur Auffrischung ihrer Ost-Physik-kenntnisse: Schwere ist keine Eigenschaft eines Gegenstandes, sondern des Gravitationsfeldes, in welchem er sich befindet; sie ist ein Kurzausdruck für „Schwerebeschleunigung“, der Vektorsumme aus Gravitations- und Zentrifugalbeschleunigung), die der ostdeutschen Rot-braun-volksgemeinschaft, bekommen hätten, wenn Sie lesen könnten.
P. S. Könnten Sie nicht bitte langsam aussterben?
Insgesammt der schwächste Beitrag dieser Ausgabe.
siehe auch:
Hall of Fame
Kein Einlass für „Täve“ Schur
Gustav-Adolf „Täve“ Schur wird der Zutritt zur Ruhmeshalle des Sports verweigert: Das hat die Jury nach Protesten von DDR-Dopingopfern entschieden. 21 andere Sportler haben Zugang zur Ruhmeshalle erhalten.
Von Jörg Hahn
11. Mai 2011
http://www.faz.net/artikel/C30956/hall-of-fame-kein-einlass-fuer-taeve-schur-30336628.html
Berlin
Proteste bei Lesung von Täve Schur
VON CHRISTIAN ELSAESSER,
06.08.11
http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1312615021826
Insgesamt der beste und lustigste Beitrag dieser Ausgabe.
Vielen Dank an den Autor!