Kein Zweifel: Wenn sich so genannte Extremismusforscher daran machen, das „Dritte Reich“ und die DDR gleichzusetzen, muss ihnen ins Wort gefallen werden. Das Problem ist: Dem Großteil der Gegner von Extremismusforschung und Totalitarismustheorie geht es weniger darum, die Relativierung von Auschwitz, auf die solche Parallelisierungen teils vorsätzlich, teils unbeabsichtigt hinauslaufen, zu kritisieren. Er will vielmehr eine Ehrenrettung des eigenen Vereins betreiben. Ganz in diesem Sinn verweisen die Kritiker der Gleichsetzung von rot und braun in den einschlägigen Diskussionen in der Regel auch nicht auf die Spezifik des Holocaust. Sie berufen sich stattdessen auf die eigene, mal akademische, mal politische, mal eingebildete Autorität. So auch kürzlich in Halle: Ende März fand im früheren Gestapo- und späteren Stasigefängnis „Roter Ochse“ eine Lehrerfortbildung mit dem Titel „Diktaturvergleich als Methode der Extremismusforschung“ statt. Als Referenten waren so fragwürdige Gestalten wie der Chemnitzer Politologe Eckhardt Jesse, der es dem Hitler-Attentäter Georg Elser immer noch nicht verziehen hat, dass er den geliebten Führer samt Entourage in die Luft jagen wollte, geladen worden. Bereits im Vorfeld der Veranstaltung kam es zum Eklat: Die Linkspartei zeigte sich in gewohnter Weise betroffen-fassungslos-schockiert. Sie konnte sich wieder einmal als Opfer einer fiesen Kampagne des Klassenfeindes gerieren und den Kitzel genießen, den die Selbsthalluzination als Verfolgte des Böhmer-Regimes mit sich bringt. (In dem Maß, in dem sich die Linke den Strasser- und Röhm-Fans von der NPD programmatisch weiter annähert, muss die Partei schon aus Imagegründen die Differenz zu ihnen betonen.) Innenstaatssekretär Rüdiger Erben (SPD) war ebenso empört. Abgesehen von den einschlägigen Sprechblasen („tendenziös“, „skandalös“ usw.) fiel auch ihm nur das gegen die Veranstaltung ein, was Sozialdemokraten eben so einfällt, wenn sie mit Kritik konfrontiert werden: Boykott und Verbot. Die Gedenkstättenstiftung Sachsen-Anhalt, der Erben vorsteht, zog ihre Unterstützung der Veranstaltung nicht zuletzt auf sein Betreiben hin zunächst zurück; Mitarbeitern der Stiftung und des Innenministeriums wurde die Teilnahme zeitweise kurzerhand verboten. Hinter so viel Autoritarismus wollte auch ein gewisser Clemens Heni, der seinen Doktortitel offensichtlich so schwer erkämpfen musste, dass er ihn selbst unter seine Einkaufszettel setzt, nicht hinterherstehen. Heni informierte die Gedenkstättenleitung des „Roten Ochsen“ in einem Brief darüber, dass in Riga ein Sack Reis umgefallen war – genauer: dass er seinen Historikerkollegen bei einer geschichtswissenschaftlichen Tagung in der lettischen Hauptstadt empört von der hallischen Lehrerfortbildung erzählt habe. Nun, nachdem ER, Dr. Clemens Heni himself, die hallische Veranstaltung bei dieser Tagung erwähnt habe, rede man nicht nur in „Riga/Lettland“ über den Fall, sondern „vielmehr auch in USA, Russland, Österreich, Deutschland, Israel, Litauen, Finnland, Estland dem Vereinigten Königreich und anderen Ländern“. Als Zeichen seiner akademischen Seriosität – und weil es wohl sonst niemand tut – zitierte Heni, in seinem Internetblog weltbekannt, schließlich sich selbst und machte das, was er wirklich kann: Er schleuderte mit einem Antisemitismusvorwurf um sich („der von Halle an der Saale ausgehende Antisemitismus“) und zeigte, dass er vor allem eins hat: keine Ahnung. Während Antisemitismus und Auschwitz dem rechten (SPD) und linken (PDS) Flügel der Sozialdemokratie im besten Fall schlichtweg egal sind, gerät Heni alles, von der Totalitarismustheorie bis zum Verweis auf die Ungenießbarkeit von gefilte Fisch, unterschiedslos zu einer Spielart des Antisemitismus. Der Begriff des Antisemitismus löst sich so in einem klebrigen Empörungs- und Betroffenheitsbrei auf; die Fähigkeit zur Analyse und Kritik des Antisemitismus geht verloren. Ähnlich wie die rund 30 Leipziger Antifaschisten, die während der Lehrerfortbildung vor der Gedenkstätte demonstrierten, weil sie die eigene berufliche Perspektive auf einer der staatlichen Planstellen gegen Neonazis durch die Totalitarismustheorie in Gefahr gebracht sehen, machen es Heni, Erben, Linkspartei und Co. den Freunden der Extremismusformel leider nur allzu leicht. Wer solche Feinde hat, braucht keine Freunde. (Dipl.-Ing. ahr)
Wer solche Feinde hat …
28. Juni 2010 von bonjour tristesse
Veröffentlicht in Zeitung | Kommentar verfassen
Ausgaben (pdf)
bonjour tristesse #25 (Sonderausgabe 2022)
bonjour tristesse #24 (Sonderausgabe 2019)
bonjour tristesse #23
bonjour tristesse #22
bonjour tristesse #G20 (Sonderausgabe 2017)
bonjour tristesse #21
bonjour tristesse #20
bonjour tristesse #19
bonjour tristesse #17/18
bonjour tristesse #16
bonjour tristesse #15
bonjour tristesse #14
bonjour tristesse #13
bonjour tristesse #12
bonjour tristesse #11
bonjour tristesse #10
bonjour tristesse #9
bonjour tristesse #8
bonjour tristesse #7
bonjour tristesse #6
bonjour tristesse #5
bonjour tristesse #4
bonjour tristesse #3
bonjour tristesse #2
bonjour tristesse #1-
Aktuelle Beiträge
- Halles unentdeckte Documenta. Über einen ausgebliebenen Antisemitismusskandal.
- Der Stein des Anstoßes. Ein Diskussionsbeitrag zur Spontandemonstration gegen die Auflösung der AG Antifa.
- Editorial
- Der Exorzismus der Andersdenkenden. Judith Butler und die Folgen
- Von Transexualität zu Transgender. Über die Konsequenzen eines begrifflichen Wandels
- Offener Brief an Radio Corax zur Mobilisierung gegen die Vortrags- und Diskussionsveranstaltung der AG Antifa mit Vojin Saša Vukadinović und Hannah Kassimi am 17. September 2021
- Stellungnahme zur Podiumsveranstaltung am 17.09.2021
- Self-ID und Penisfetisch. Über frauen-, schwulen- und lesbenfeindliche Tendenzen im Queerfeminismus
- Der Triumph der Gleichheit. Vom Verschwinden der Geschlechter
- Stellungnahme zum Auflösungsantrag
- Zu einigen der Vorwürfe gegen die AG Antifa
- Diese rote Linie ist ein Phantasiekonstrukt, um uns loszuwerden
- Wen wollt ihr eigentlich verarschen?
- Geschäftsmodell Racial Profiling
- Solidaritätsbekundungen
- Bericht zur Demonstration „Raise your Voice against TERFs“
- Klara Stock und Co.: Holocaustrelativierung light
- Interview mit dem Roten Netzwerk Halle
- M wie Möhre (Kurzmitteilung)
Kommentare
- sashakisselkova bei Halles unentdeckte Documenta. Über einen ausgebliebenen Antisemitismusskandal.
- sashakisselkova bei Halles unentdeckte Documenta. Über einen ausgebliebenen Antisemitismusskandal.
- Was heißt Antifaschismus heute? | AG »No Tears for Krauts«AG »No Tears for Krauts« bei Was heißt Antifaschismus heute?
- Presse zur Auflösung des AK Antifa im Stura der Uni Halle | ag antifa Halle bei Der Stein des Anstoßes. Ein Diskussionsbeitrag zur Spontandemonstration gegen die Auflösung der AG Antifa.
- Zum Verbot der AG Antifa. Ein Bericht über die Proteste. — AG »No Tears for Krauts«AG »No Tears for Krauts« bei Der Stein des Anstoßes. Ein Diskussionsbeitrag zur Spontandemonstration gegen die Auflösung der AG Antifa.
- Dokumentation der Vorträge und Reaktionen - ag antifa Halle bei Self-ID und Penisfetisch. Über frauen-, schwulen- und lesbenfeindliche Tendenzen im Queerfeminismus
- Dokumentation der Vorträge und Reaktionen – ag antifa Halle bei Der Triumph der Gleichheit. Vom Verschwinden der Geschlechter
- Dokumentation der Vorträge und Reaktionen – ag antifa Halle bei Der Exorzismus der Andersdenkenden. Judith Butler und die Folgen
- Sozia Melissa Glimmstengel von Sternburg bei Interview mit dem Roten Netzwerk Halle
- Sani Abacha bei Solidaritätsbekundungen
-
-
Kommentar verfassen