Die Authentizität eines bekannten hallischen Wohnviertels könnte schon bald ein jähes Ende finden. Das Sternburgviertel, Lesern unserer Zeitung wohlbekannt, wird gegenwärtig „umgestaltet“. Was sich hinter dieser scheinbar harmlosen Formulierung und der allerorten zu lesenden Losung „HalleBautUm“ verbirgt, ist jedoch spätestens seit den bahnbrechenden Analysen des ehemaligen Hausbesetzers und Oberhäuptlings der Berliner Anti-Gentrifizierungsbewegung in Diensten der Humboldt-Universität Berlin, Dr. Andrej Holm, bekannt: die sogenannte Aufwertung eines Wohnviertels, die daraufhin massiv steigenden Mieten und die dann folgende systematische Vertreibung angestammter Bevölkerungsgruppen. Im Berliner Prenzlauer Berg begann die gentrifizierungsbegründete Emigration der autochthonen Bewohner zunächst schleichend. Im Sternburgviertel hingegen ist die Luxussanierung (dreieckige Badewannen, Dachterrassen, abschließbare Briefkästen usw.) ganzer Häuserzeilen bereits in vollem Gange. Innerhalb kürzester Zeit wurden zahlreiche Gebäude saniert bzw. abgerissen. Was in Berlins Middle-East als zartes Lüftchen begann, findet in der hallischen City als wütender Tornado seine Fortsetzung. Es wird nicht mehr lange dauern, bis althergebrachte Bräuche vernichtet werden und für immer verloren sind; bis Geschäfte wie der „Getränke & Heimdienst L. Telle“, die „Orthopädie Schuhtechnik Albrecht“ und der „Hebammen Laden“ ihre Miete nicht mehr zahlen können. Die mutwillige Zerstörung einer über Jahre gewachsenen Struktur geht auf das Konto verbrecherischer Spekulanten und von Gier getriebener Miethaie, die nichts anderem folgen, als ihrem eiskalten Profitinteresse. Wo noch vor kurzem hochkarätige Filmproduktionen („Liebe Mauer“ u. a.) stattfanden, in denen die Gegend als Kulisse für Mauerstreifenszenen Ost-Berlins diente; oder, was noch besser gelang, heruntergekommene Viertel osteuropäischer Vorstädte in der 1960er Jahren darstellte (kein Scherz!), ohne dass an Gebäuden, Straßen und den vor Ort rekrutierten Komparsen auch nur irgendwas verändert werden musste (die einzige Aufforderung an komparsenwillige Hallenser lautete: „nicht zu modern gekleidet“), zieht nun die Abrissbirne ihre zerstörerischen Kreise, um gesichts- und geschichtslosen Neubauten und monotonen Rasenflächen den Weg zu ebnen. Doch schon die vor nicht allzu langer Zeit stattgefundene „demokratische Wahl“ des Viertelnamens durch seine Bewohner gab einen deutlichen Vorschein auf Kommendes: Informanten dieser Zeitung gaben zu Protokoll, dass eine große Zahl von Stimmzetteln, die sich entgegen der Interessen der sogenannten „Investoren“ für den einzig wahren, in der Bevölkerung verankerten sowie Sitten und Gebräuche adäquat widerspiegelnden Namen „Sternburgviertel“ aussprachen, nicht berücksichtigt wurden (vgl. Bonjour Tristesse Nr. 2/2007). Bei den Recherchen zum Wahlbetrug konnten unsere Kontaktpersonen aus den Blauen Tonnen nahe der Zentrale des die Wahl durchführenden ominösen „Bürgervereins“ unzählige Stimmzettel, die sich für „Sternburgviertel“ aussprachen, auffinden und sicherstellen. Außerdem überstieg die Anzahl der abgegeben Stimmen für „Medizinerviertel“ nach Angaben unabhängiger Wahlbeobachter aus umliegenden Vierteln die der Wahlberechtigten um ein Vielfaches. Selbst Verstorbene und längst in den Saalekreis und nach Leipzig verzogene Bürger seien auf den Listen aufgetaucht. Außerdem sollen Angebote von Bierflaschen im Gegenwert von bis zu 12 Euro für den Verkauf einer Stimme am Schwarzen Brett des „Getränke & Heimdienstes L. Telle“ gesichtet worden sein. Die Vereinsmitglieder entpuppen sich damit als lupenreine Vasallen der Macht, wohl wissend, dass einzig Betrug und Lüge den Boden für die gnadenlose Politik der Herrschenden bereiten. Doch die Menschen vertrauen mittlerweile weder der etablierten Politik noch einer korrupten Vereinskamarilla. Mehr und mehr Bürger glauben, dass ein schrecklicher Fluch über dem Quartier liegt. So soll – der Legende nach – im Mai 1971 ein Schäferhundrüde während einer sternklaren Nacht von einem herab fallenden Schieferziegel tödlich getroffen worden sein. Tags darauf wuchs an der Stelle innerhalb eines Vormittages ein Baum, der von der Stasi aufgrund des sich in Windeseile entwickelnden öffentlichen Spektakels gegen 17:30 Uhr gefällt wurde. Vom Besitzer des erschlagenen Hundes fehlt seit jenem denkwürdigen Nachmittag jede Spur. Bis vor kurzem erinnerte ein Baum aus Eisen und Draht an dieses dunkle Kapitel der hallischen Geschichte. Doch auch damit ist nun Schluss: Der offenbar nicht mehr ins Bild passende Stahlbaum wurde im Laufe einer Nacht im Winter dieses Jahres von den das Viertel kontrollierenden Schwadronen des „Bürgervereins“ an einen unbekannten Ort verbracht. Als billiger Ersatz wurden Pflanzenkübel in großer Zahl aufgestellt. Vor diesem Hintergrund ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bewohner endgültig von den Zahnrädern des internationalen Finanzkapitals zermalmt werden. (mab)
Es war einmal ein Kiez
28. Juni 2010 von bonjour tristesse
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