Da es für eine anderweitige Wahrnehmung nicht reicht, bemüht sich das hallische „Thalia“-Theater regelmäßig um Skandale: Mal überlässt man einer Hooligan-Horde des „Halleschen Fußballclubs Chemie“ (HFC) die Bühne, damit sie über Juden, Zigeuner und die fiese freie Presse lamentieren können, mal stellt man sich selbst als das Opfer eines neuen Holocaust dar. Wir dokumentieren einen Text aus der letzten Ausgabe der Zeitschrift „Bahamas“ (58/2009) über „eine Provinztheaterposse und die Freiheit der Kunst“.
Liebe und Kunst dürfen in Deutschland nichts kosten. Wer sich offen dazu einbekennt, eines von beiden des Geldes wegen anzubieten, gilt bestenfalls als Scharlatan; im Normalfall verliert er seine gesellschaftliche Reputation. Curt Goetz’ Theaterdirektor Emanuel Striese aus dem „Raub der Sabinerinnen“, der aus Geldsorgen ebenso solide wie frivole Unterhaltung präsentiert, gilt in der hiesigen Bühnenwelt noch immer als der Inbegriff des Schmierentheaterchefs. Ebenso wie Liebe hierzulande offiziell nichts mit dem Aussehen oder dem Geldbeutel der geliebten Person zu tun haben darf, soll Kunst allenfalls der Selbstverwirklichung dienen. Sie kommt nach herrschender Auffassung nicht aus dem Kopf, sondern aus Bauch oder Rückenmark – als Ausdruck individuell-naturwüchsiger Schöpfungskraft. Mehr noch als die Arbeit des Mediziners gilt die Tätigkeit des Künstlers dementsprechend weniger als Beruf denn als Berufung.
Wie so oft fallen die Realität und die Selbstwahrnehmung der Landsleute, die „Gemütlichkeit“ nach zwei angezettelten Weltkriegen immer noch für eine ihrer größten Tugenden halten, jedoch deutlich auseinander. So sind die beliebtesten Künstler Deutschlands nahezu durchweg das Gegenbild des „autonomen Künstlers“. Ob Heinz Rühmann, Heinrich George oder Günter Grass: Sie verdanken ihren Erfolg durchweg dem Heranwanzen an die jeweilige Macht. „Du kaufst jetzt Günter Grass, sonst setzt es was“, so spöttelte Otto Waalkes schon vor Urzeiten über die verkaufsfördernde Wirkung der Kombination von Schriftstellerei und Politik. Während die tatsächlichen Publikumslieblinge der Deutschen also identisch mit den staatsnahen und finanzstarken Kulturarbeitern sind, wird das Idealbild des Künstlers hierzulande durch Maler wie Vincent van Gogh oder Autoren wie Friedrich Hölderlin verkörpert: ein wenig verrückt, in ärmlichen Verhältnissen lebend und zu Lebzeiten erfolglos. In dieser Figur des verkannten Genies dürfte sich der zum Kunstgewerbe neigende Mittelstand, der den Großteil der Theater-, Ausstellungs- und Konzertbesucher stellt, selbst wiederzuerkennen glauben: So gibt es kaum einen Hochschulabsolventen, der nicht mindestens ein Romanfragment im Kopf oder sogar im Schreibtisch hat; kaum eine Hausfrau dürfte nicht von der Entdeckung durch den Kunstkritiker träumen, der die Bilder, die sie im Urlaub zusammenschmiert, zu schätzen weiß. Und auch die hundsteuren Kameraausrüstungen, die schon Gymnasiasten mit zu ihrer Klassenfahrt schleppen, um die immergleichen Blumen-, Sandkorn- und Sonnenuntergangsbilder zu machen, signalisieren: Hier glaubt sich jemand zu Höherem berufen. In besser situierten Gegenden der Republik sind die Eingangshallen der örtlichen Sparkasse dementsprechend oft über Monate hinweg mit Gemälden, Fotografien oder Skulpturen zugestellt, die ein örtliches Honoratiorenehepaar in seinem bisherigen Leben fabriziert hat und nun einer größeren Öffentlichkeit vorstellen will.
Kunst und Kommerz
Bei der Überhöhung des armen, mittellosen Künstlers, der aus purer Leidenschaft malt, Stücke schreibt oder komponiert, wird gern übersehen, dass das Los der Mittellosigkeit weder von van Gogh noch von Hölderlin freiwillig gewählt wurde. Ähnlich dem Hobbyfilmer, der sich danach sehnt, dass seine Homevideos in Cannes gewürdigt werden, träumten sie nicht nur vom künstlerischen, sondern auch vom finanziellen Durchbruch. Soll heißen: Anders als von ideellen und reellen Kunsterziehungslehrern regelmäßig suggeriert, ist die Verbindung von Kunst und Geld nicht die Antithese der Kunst. Im Gegenteil, die viel beschworene Autonomie des Kunstwerks ist ohne seinen Warencharakter nicht zu denken. So haben nicht nur einige der größten Kunstwerke ihre Existenz dem Wunsch ihrer Hersteller zu verdanken, durch ihren Verkauf die Schulden loszuwerden, die sich im Verlauf ihres bisherigen Lebens angehäuft hatten: Schiller begann seinen „Don Karlos“ mit Blick auf den Verkauf an das Mannheimer Theater; Baudelaire stellte seine Gedichtsammlung „Die Blumen des Bösen“ – in erster Linie eine Zweitverwertung schon einmal verkaufter Verse – zusammen, um sich die nächste Portion Opium kaufen zu können. Auch in historischer Perspektive ist die immer wieder kritisierte Kopplung von Kunst und Kommerz überhaupt erst die Voraussetzung von Kunst. Das autonome Kunstwerk, der einzige Gegenstand, der sich im engeren Sinn als Kunst bezeichnen lässt, entstand aus dem doppelten Rittberger der Ästhetik: der Verbindung mit dem Geld und der Trennung von dem, was Kulturschaffende in Deutschland seit jeher magisch anzieht: der Macht.
Bis in die Zeit der Aufklärung unterstanden der Künstler und sein Werk dem direkten Zweck der Herrschaft. Sie waren vom Wohlwollen und von der Willkür des jeweiligen Gönners abhängig. Auch wenn die Altarbilder barocker Dorfkirchen, die Sinfonien, die Mozart senior für seinen Dienstherrn, den Salzburger Erzbischof, komponierte, oder die unglaublichen Gedichte, die sich Ludwig XIV. zu seinen eigenen Ehren schreiben ließ, ihre Bestimmung gelegentlich überschritten, hatten sie letztlich den Zweck, die Macht ihrer Auftraggeber zu verewigen. Vom autonomen Kunstwerk kann erst gesprochen werden, seit sich der Künstler aus der personalen Abhängigkeit befreite: seit er nicht mehr für einen direkten – und vor allem: den immergleichen – Auftraggeber, der gleichzeitig sein Dienst- und Schutzherr war, produzierte, sondern für den freien Markt. Im Unterschied zu den Ansprüchen, die an die jeweiligen Haus- und Hoflieferanten der Feudalzeit gestellt wurden, waren die Anforderungen des Marktes so vielfach vermittelt, „dass der Künstler von der bestimmten Zumutung, freilich nur in gewissem Maße, dispendiert bleibt“.(1) Erst die Anonymität des Marktes befreite den Künstler, wenn auch immer nur partiell, vom Zwang, die pflichtgemäßen Motetten, die immergleichen Porträts der jeweils aktuellen Fürsten-Mätresse oder Wandbilder des obligatorischen Mannes am Kreuz zu produzieren; erst die Existenz des freien Marktes ließ Kunst paradoxerweise zum „Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge“ (2) werden: Der Markt sorgte nicht nur dafür, dass der Künstler sein Auskommen durch das Ausleben seiner künstlerischen Ambitionen sichern konnte. (Da er zumindest die Möglichkeit bot, reich und berühmt zu werden, verzichteten schon in der Zeit der Aufklärung ganze Heerscharen begabter junger Männer auf das langweilig-biedere, aber sichere Einkommen des Handwerker- und Klosterkünstlers und versuchten sich stattdessen lieber als Glücksritter des bürgerlichen Kunstbetriebs.) Das Marktgeschehen bot aufgrund seiner Anonymität zugleich den Rahmen, der es dem Künstler erlaubte, nur der Stimmigkeit und den Anforderungen zu folgen, die sich aus der Formgestaltung des Materials ergeben. Mit anderen Worten: Der Künstler arbeitete sowohl für den Verkauf, von dem er nicht wusste, ob er jemals stattfinden würde, als auch für die Logik des Kunstwerks, die sich jedem anderen Zweck sperrt.
Die Welt als Staatstheater
Diese Zeit – und das dürfte die deutsche Fehlwahrnehmung der Verbindung von Geld und Kunst noch forciert haben – ist allerdings vorbei. In der glorreichen Phase des bürgerlichen Zeitalters fielen die Anforderungen, die ein Kunstwerk an seine Entschlüsselung stellt, und die Bedürfnisse des Bürgers teilweise noch zusammen: „Beethoven hat sich nicht an die Ideologie des viel zitierten aufsteigenden Bürgertums von 1789 oder 1800 angepasst, sondern war selber von dessen Geist. Daher sein unüberbotenes Gelingen.“ (3) In dem Maß, in dem sich der Bürger vom Statthalter Gottes auf Erden in einen Angestellten verwandelte, entkoppelten sich seine ästhetischen Bedürfnisse allerdings vom immanenten Anspruch des autonomen Kunstwerks. Das universalistische Pathos, mit dem das Bürgertum den Adel verjagt hatte, wurde durch eine Mischung aus Lethargie und Untergangssehnsucht ersetzt. Damit verlor das autonome Kunstwerk langfristig das, was es erst auf den Weg gebracht hatte – seinen Markt und seine Abnehmerschaft. Zwar sorgte der Staat noch eine gewisse Zeit dafür, dass der Kunstbetrieb als menschliches Artenschutzreservat, eine Art Zoo, in dem sich die Besucher über eine weithin ausgestorbene Spezies amüsieren können, erhalten blieb: Die Kombination aus staatlicher Bezuschussung und öffentlich-rechtlicher Verwaltung des Kunstbetriebs schützte Autoren, Intendanten und Kuratoren einerseits vor dem direkten Zugriff des Staates. Andererseits befreite es den Künstler von der Zumutung, den veränderten Markt mit dem Schund zu bedienen, den er einfordert. (Auch das Mäzenatentum, ohne das der Kunstbetrieb nie auskam, gewann neue Bedeutung.) Die Tendenz zur negativen Aufhebung der Kunst, von der die kritische Theorie spricht, konnte dadurch allerdings nicht aufgehalten werden. Das Wissen der Künstler, auf dem Markt nicht mehr bestehen und nur mit Hilfe des Staates überleben zu können, ging langfristig in die Kunst selbst ein. Denn auch wenn das staatliche Subventions- und Stipendiensystem gelegentlich noch einen Schutzraum für Nonkonformisten, Eigenbrötler und Sonderlinge bot: In dem Maß, in dem sich die Kunst in eine Angelegenheit des Staates verwandelte, wurde der Staat tendenziell zur Angelegenheit der Kunst. Im Unterschied zur Staatskunst früherer Jahrhunderte ist der Ansprechpartner ihrer aktuellen Reinkarnation allerdings weniger das Publikum; die Zuschauer sollen nicht mehr von der Mildtätigkeit ihres Anführers überzeugt werden, der ihnen mal Seichtes, mal Erhabenes spendiert und in einem gnädigen Moment auch Kritik an sich selbst zulässt. Der Ansprechpartner insbesondere des zeitgenössischen Theaters ist vielmehr der Staat selbst. Vom Wahrheitsanspruch des Kunstwerks, der im besten Sinn autoritär war, bleibt vor allem der Größenwahn des Künstlers – des Intendanten, Regisseurs und Autors –, der sich entweder als Ratgeber des Staates oder gleich ganz als prospektiver Philosophenkönig sieht. Die Präsidentschaftskandidatur des früheren „Tatort“-Kommissars Peter Sodann, der von 1981 bis 2005 als Intendant des „Neuen Theaters“ in Halle sein Unwesen trieb, lag durchaus in der Logik eines Kunst- und Theaterbetriebs, der in Permanenz Staatsziele formuliert. Sie lag in der Logik eines Betriebs, dessen Produktionen ihren politischen Gehalt weniger aus der Materialgestaltung als aus den aufdringlichen Bekenntnissen ihrer Macher beziehen. So wird die Deutschlehrerfrage „Was will uns der Autor damit sagen?“ von den einschlägigen Regisseuren, Autoren und Intendanten nicht mehr als die Zumutung abgetan, die sie ist. Im Gegenteil, Peymann, Castorf, Schlingensief und Co. können gar nicht damit aufhören, über ihre Ambitionen zu plappern. Sie bestehen darauf, dass ihr Werk eine „Botschaft“ habe.
Und diese Botschaft ist eindeutig. Wer sich die zeitgenössischen Lieblingsinszenierungen des Feuilletons anschaut, erkennt weder eine Allegorie „scheinlos gegenwärtigen Glücks“, die ihre Sprengkraft gerade daraus zieht, dass sie „mit der tödlichen Klausel des Schimärischen“ behaftet ist: „dass es nicht ist“.(4) Noch findet eine Abarbeitung an der Erfahrung von Leiden statt. Sowohl in den Fäkal- und Schreiorgien Schlingensiefs oder Castorfs als auch in ihren volkstümlichen Komplementären, für die das „intellektuelle Volkstheater“ Peter Sodanns steht (5), wird die Realität bestenfalls verdoppelt. Die Verhältnisse sollen nach dem Vorbild des Staatstheaters, einer Operettenvariante des Staatssozialismus, umgestaltet werden. Das Prinzip der Vergleichung, das gerade in der Kunst für Qualität bürgt, soll ausgeschaltet, die Menschen sollen von der Verantwortlichkeit für ihr Leben entbunden und zu Zuteilungsempfängern gemacht werden. Der Staat soll sich in die Fürsorgeeinrichtung verwandeln, die er potentiell schon ist: Er soll, ähnlich dem Theaterpförtner, der bei den privaten Umverteilungen des Theaterinventars gern ein Auge zudrückt, jedem seinen Anteil an der Beute zukommen lassen. In diesem Zusammenhang war auch Sodanns Entscheidung für die Linkspartei weit mehr als dem individuellen Spleen des Super-Ossis geschuldet. Immerhin erinnert die Spielplangestaltung der meisten zeitgenössischen deutschen Theater an ein exaltiertes Begleitprogramm eines Bundesparteitags der Gysi-Truppe. (Selbst die wenigen Fürsprecher des konservativen Autorentheaters, der scheinbaren Antithese des Regietheaters, sehnen sich, wie Daniel Kehlmann in seiner Eröffnungsrede zu den diesjährigen Salzburger Festspielen erst wieder vorexerziert hat, in Jammer-Ossi-Manier in die gute alte Zeit zurück, in der die Dinge noch ihre natürliche Ordnung hatten, dem Autor mit Demut begegnet wurde und Vati aufgrund mangelnder Konkurrenz noch Arbeit hatte.) Mit seiner Erklärung, Deutsche-Bank-Chef Ackermann verhaften zu wollen, oder seinem Lamento über „die Medien“, die daran Schuld seien, dass das deutsche Volk „nicht auf der Höhe seiner Denkfähigkeit“ sei („Die Welt“ vom 29. Oktober 2008), gab Sodann mit anderen Worten nur das wieder, was auf europäischen Bühnen Konsens ist. Ob Jan Fabres „Orgie der Toleranz“, die beim Theaterfestival von Avignon gerade mit Standing Ovations gefeiert wurde, Mirko Borschts Stück „Opfer-Popp“, für das das hallische „Thalia Theater“ in diesem Jahr den hoch dotierten „Preis für kulturelle Bildung“ des Kulturstaatsministers des Bundes erhielt, oder die letzten Rückzugsgefechte des Autorentheaters: Kaum eine der hochgelobten Inszenierungen der Gegenwart kommt ohne die Kritik des Dreiklangs von Medien, Konsum und Globalisierung aus. Beim Regietheater ist die Botschaft zunächst in die einzelnen Drehbücher eingegangen; das Autorentheater ist hingegen selbst eine einzige Agitpropveranstaltung gegen Markt und Moderne.
Das Elend des Provinztheaters
Das alles ist der Hintergrund eines aktuellen Provinztheaterskandals, der gerade aufgrund seines possenhaften Charakters beispielhaft für den Wahn steht, in den der hiesige Kunstbetrieb im Angesicht der Krise verfällt. Der Reihe nach: Anfang des Jahres wurden das „Thalia Theater“, das „Neue Theater“, die Oper und die Staatskapelle Halle, die bis dahin eine eigenständige Verwaltung hatten, unter dem institutionellen Dach eines Mehrspartenhauses zusammengefasst. Die künstlerische Eigenständigkeit soll weiter gewährleistet werden; die Verwaltung ging jedoch an die „Kultur GmbH Halle“ über. Anders als vom regionalen Kulturklüngel – Kleinkunstgewerbetreibenden, Mitarbeitern der örtlichen Hochschule für Kunst und Design und der obligatorischen linksalternativen Töpferkursklientel – suggeriert, war diese Fusion nicht der besonderen Kulturlosigkeit des hallischen Stadtrates, der die Zusammenlegung beschlossen hatte, geschuldet. Sie reiht sich vielmehr in den bundesweiten Trend zur Senkung von Verwaltungskosten an staatlichen Bühnen ein. Seit dem Zusammenschluss nehmen sich jedoch selbst die gruseligsten Eifersüchteleien und Boshaftigkeiten, die den Umgang der örtlichen Kulturkonkurrenz bis dahin geprägt hatten, wie die Mahnmale eines goldenen Zeitalters der Harmonie aus: Das „Thalia“ ist neidisch auf das „Neue Theater“, die Staatskapelle befehdet die Oper, und alle zusammen haben das Kriegsbeil gegen die Leitung der „Kultur GmbH“ ausgegraben. Gemeinsam gibt man sich als letzte Bastion der Verteidigung künstlerischer Freiheit.
Nach einem Arbeitsgespräch zwischen drei pädagogischen Mitarbeiterinnen des „Thalia Theaters“ und Ulrich Katzer, dem künstlerischen Betriebsdirektor der „Kultur GmbH“, eskalierte die Situation schließlich. Der Grund: Katzer hatte in diesem Gespräch den Begriff der „kumulativen Radikalisierung“ benutzt. Rein semantisch umschreibt diese Formel die Situation ambitionierter Provinztheater durchaus treffend. So leiden die Ensembles der entsprechenden Bühnen bekanntlich regelmäßig darunter, dass sie anstatt am Broadway oder, etwas weniger weltläufig, an der Berliner „Volksbühne“ nur irgendwo auf dem flachen Land untergekommen sind. Das Engagement am „Thalia“ dürfte sogar mit einer doppelten Kränkung verbunden sein: Die Mitarbeiter hat es aufgrund einer Laune des Schicksals, fehlender Beziehungen oder der eigenen Mittelmäßigkeit nicht nur in die Industriebrache des Ostens verschlagen. Das „Thalia“ ist laut offizieller Definition auch noch das, was in der Branche gern als die Streichelzoovariante des Schauspielhauses denunziert wird: ein Kinder- und Jugendtheater. Ebenso wie andere Provinztheater hat sich dementsprechend auch am „Thalia“ die kunstgewerbliche Variante eines Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms herausgebildet: Die provinzielle Lage, die Nichtbeachtung durch namhafte Theaterkritiker und das Desinteresse des Publikums werden mit Hyperaktivität, einem erhöhten Maß an Engagement, Ambition und so genannter Experimentierfreude, kompensiert. So ignoriert die Führung des Theaters immer wieder die statuierte Zielgruppe und gibt sich als Nachgeburt des Regietheaters der 1970er Jahre. Die Inszenierungen finden regelmäßig an besonders ausgefallenen Spielstätten (ein Kaufhaus, Straßenbahnen, ungeheizte Mehrzweckhallen usw.) statt. Und die Zahl der Premieren verhält sich umgekehrt proportional zur eigenen Leistungsfähigkeit. Während am „Thalia“ in der nächsten Spielzeit 17 Premieren auf dem Plan stehen, haben das „Neue Theater“ und die Oper, die weitaus größeren Häuser, nur zehn bzw. zwölf Neuproduktionen im Angebot. Die Folge: Die Mitarbeiter des „Thalia Theaters“ sind überlastet; Kritiker sprechen angesichts der Unverhältnismäßigkeit von Rödelei und Publikumsgunst von einem drohenden Burn-Out des Theaters.
In diesem Zusammenhang wollte Ulrich Katzer, wie er später in einem Brief erklärte, eine Diskussion darüber anregen, „ob nicht vielleicht durch zu viele Aktivitäten auf eine Überlastung der Mitarbeiter hingesteuert wird und dabei ein Effekt eintreten könnte, welcher den unbestrittenen Erfolg des Thalia-Theaters in seinem Kinder- und Jugendbereich gefährden könnte“. Das Dumme ist: Die von ihm benutzte Formel der „kumulativen Radikalisierung“ geht auf den Historiker Hans Mommsen zurück, der damit den Prozess des Ineinanders der Selbstzerstörung des NS-Regimes und der schrittweisen Entrechtung der Juden bis hin zu ihrer Vernichtung umschreibt.(6) Nachdem Annegret Hahn, die künstlerische Leiterin des „Thalia Theaters“, von ihren Mitarbeiterinnen über das Treffen informiert wurde, verfasste sie einen empörten offenen Brief, in dem aus einem Gespräch über die Arbeitssituation am „Thalia“ ein Aufruf zum Pogrom geworden war. Der Skandal war perfekt. Katzer, so behauptete Hahn, habe erklärt, dass er gegenüber dem „Thalia Theater“ nach dem „Prinzip der ‚kumulativen Radikalisierung’ verfahren möchte“. Damit habe er sich als Antisemit geoutet und als „Herrenmensch“ aufgespielt. In einem Interview mit einem Stadtmagazin präsentierte sie ihr Theater schließlich als Opfer einer drohenden Vernichtung: Es sei ein „unerträgliches Gefühl, wenn man den Eindruck vermittelt bekommt, dass da einer am längeren Hebel sitzt und dich ausradieren könnte“. („Frizz“ 7/2009)
Nun ist es zwar nicht möglich, bewusst nach dem „Prinzip“ eines Prozesses zu verfahren, der sich hinter dem Rücken der Beteiligten abspielt – Hans Mommsen, der in Hahns offenem Brief als Kronzeuge gegen Katzer herangezogen wurde, gehört in der Geschichtswissenschaft zu den so genannten Funktionalisten, die die Intention der Täter, den Antisemitismus und den Vernichtungswillen sträflich vernachlässigen. Auch war bis dahin unbekannt, dass das „Thalia Theater“ eine versteckte Dependance der Jüdischen Gemeinde Halle ist. Der genaue Wortlaut des Arbeitsgesprächs spielte in der öffentlichen Diskussion, die kurz nach der Versendung des offenen Briefes begann, jedoch keine Rolle mehr. Es genügte, dass der künstlerische Betriebsdirektor der „Kultur GmbH“ die Formel „kumulative Radikalisierung“ verwendet hatte. Die Regionalpresse – von der Tageszeitung über diverse Stadtmagazine bis hin zum örtlichen Radiosender – berichtete, die Stadtverwaltung beschäftigte sich mit dem Vorfall, der Aufsichtsrat der „Kultur GmbH“ tagte, und in regionalen Internetforen wurde intensiv über Katzer, Hahn und Antisemitismus debattiert. Während die Stadtverwaltung Ruhe bewahrte und sich hinter Katzer stellte, wurde anderswo die Forderung nach seinem Rücktritt laut. Nun ist es zwar absurd, jemanden, der einen geschichtswissenschaftlichen Fachbegriff für den Prozess der Entrechtung der europäischen Juden – wenn auch in einem unpassenden Zusammenhang – verwendet, als Antisemiten zu bezeichnen. (Von ähnlicher Qualität ist es allenfalls, einen Bäcker, der mit dem psychoanalytischen Begriff des Penisneids hantiert, als Freund der Kastration zu denunzieren.) Dennoch empörte sich eine Stadträtin des „Neuen Forums“ darüber, dass „die Verwendung eines solchen Begriffs“ von der Stadtverwaltung „unter den Tisch gekehrt“ werden solle. („Mitteldeutsche Zeitung“ vom 21. Juni 2009) Ein emeritierter Professor behauptete in einem offenen Brief darüber hinaus, dass die Äußerungen Katzers „auf einer ultrarechten, ja faschistoiden, im Grunde nicht nur antidemokratischen, sondern in letzter Konsequenz auch antisemitischen Basis“ beruhen würden. (salikus.de) Und in einem Internetforum wurde schließlich sogar gefordert, Katzer vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. (halle-forum.de) Bei so viel Engagement gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und die Vernichtung der europäischen Theaterlandschaft fiel es niemandem auf, dass nicht Katzer die Mittelkürzungen an einem Provinztheater öffentlich mit der Ermordung der europäischen Juden gleichgesetzt hatte, sondern Hahn. Nicht Katzer hatte das „Thalia“ als Vertreter einer „minderen Theaterrasse“ bezeichnet; Hahn hatte ihm diese Worte in ihrem offenen Brief vielmehr in den Mund gelegt: „Was beflügelt Herrn Katzer, sich als ‚Herrenmensch’ aufzuspielen gegenüber den ‚Untermenschen’ / ‚der minderen Theaterrasse’ (Kinder- und Jugendtheater) Thalia Theater?“
Ein Fall für den Zentralrat
Mit dieser Frage projizierte Hahn nicht nur die eigenen Vorbehalte gegenüber Kinder- und Jugendtheatern auf ihren Vorgesetzten: Immerhin ist von Katzer bisher keine abfällige Bemerkung über die Institution des Kinder- und Jugendtheaters publik geworden, während Hahns ganze Intendantentätigkeit wie eine große Kompensation des Leidens daran erscheint, in erster Linie für Kindergärten und Schulklassen produzieren zu müssen. Auch steht der Antisemitismusvorwurf an Katzer nicht allein für den Zerfall des Antisemitismusbegriffs, der in jüngster Zeit gerade bei linksakademischen Antisemitismusexperten zu beobachten ist. Schließlich gibt es im Kulturbetrieb diesbezüglich kaum etwas, das zerfallen kann: Schon in den 1980er Jahren hatten Theater und andere Kleinkunstbühnen als künstlerische Entsprechung des friedens- und umweltbewegten Endkampfes gegen einen „atomaren“ oder „ökologischen Holocaust“ fungiert. Neben einer Mischung aus kumulativer Verblödung, Dreistigkeit und aggressivem Selbstmitleid dürfte aus dem Furor des örtlichen Kulturklüngels vor allem die Unfähigkeit gesprochen haben, die eigene subventionierte Existenz vernünftig zu begründen. Hahn, die hier exemplarisch für den deutschen Bühnenbetrieb steht, scheint selbst nicht so richtig zu wissen, warum sie für ihr Werkeln überhaupt noch Geld vom Staat bekommt.
Diese Kombination aus Unwissen und Argumentationsnot hat durchaus ein objektives Moment. Denn wie sollen die hiesigen Kulturarbeiter die finanziellen Zuwendungen, die sie seit Jahrzehnten von staatlicher Seite erhalten, angesichts der Krise und der Debatten über die Umstrukturierung der Bühnenlandschaft auch rechtfertigen? Wie sollen sie beim aktuellen Hauen und Stechen um die Staatskohle also begründen, dass anstatt des eigenen Ladens lieber das städtische Schwimmbad, das Fußballstadion oder ein Kindergarten geschlossen werden soll? Da die Verbindung von Kunst und Geld hierzulande als Schweinkram gilt, verbietet sich der schnöde Verweis auf den Arbeitsplatz, die preiswerte Theaterkantine und das Reihenhaus, das abbezahlt werden will. Die Rede von der Kunst als dem Guten, Wahren, Schönen löst angesichts des affirmativen Charakters der Veranstaltung bestenfalls Gelächter aus. Und die Verdopplung der Realität, die sowohl durch die Schlagworte „engagiert“ und „sozialkritisch“ als auch durch die scheinbar gegenläufige Parole des „historisch akkuraten Theaters“, die Daniel Kehlmann in Salzburg bemühte, bestenfalls mühselig kaschiert wird, liefert das Fernsehen in anspruchsvollerer Weise: Es erhebt im Unterschied zum Theaterbetrieb zumindest den Anspruch, das Publikum zu unterhalten.(7) Dieses angestrebte Amüsement scheitert zwar. Trotzdem ist jede Folge der „Verbotenen Liebe“, des „Marienhofs“ oder des „Großstadtreviers“ zumindest unterhaltsamer als die Angebotspalette der hiesigen Theaterlandschaft. (Ganz zu schweigen von den Produktionen der vielgehassten amerikanischen Kulturindustrie: „Lost“, „Baywatch“, „Malcolm mittendrin“ usw.)
Den hiesigen Kulturarbeitern bleibt mit anderen Worten nichts anderes übrig, als existenziell zu werden und von den letzten Dingen zu sprechen. Annegret Hahn griff Ulrich Katzers unfreiwillige Vorlage wohl nicht nur deshalb so bereitwillig auf, weil der Holocaust inzwischen als Chiffre für das Böse schlechthin gilt; er ist zu einer Art Container für Erinnerungen an alle Formen von Leid, Anstrengung und schlechtem Karma geworden. Der Rückgriff auf Auschwitz bot sich auch deshalb an, weil der Holocaust in Deutschland weniger als Massenmord an sechs Millionen Menschen denn als Zerstörung einer Kultur begriffen wird. Als hätten die Nazis keine Vernichtungslager, sondern eine große Imbisskette betrieben, die langfristig zum Bankrott der traditionellen Bratwurststände geführt hat, basieren die einschlägigen Trauerreden hierzulande immer noch auf dem Lamento über die unwiederbringliche „Vernichtung einer Kultur“. Und so kann sich Annegret Hahn, die um den Bestand ihres Theaters fürchtet, perfiderweise als Geistesverwandte von Anne Frank fühlen, die nicht um ihr Leben, sondern um eine Karriere als Schriftstellerin gebracht wurde.
Vor diesem Hintergrund war letztlich auch das Vorgehen einer hallischen Stadträtin, die mit der „Thalia“-Chefin befreundet ist, konsequent: Sie informierte allen Ernstes den Zentralrat der Juden über Katzers Wortwahl. Wo Auschwitz als gigantische Zensurmaßnahme begriffen wird, die dafür verantwortlich ist, dass die Deutschen seither allein Klezmer spielen müssen, erscheint die Interessenvertretung der deutschen Juden als Fachanwalt in Sachen Kulturförderung. Da die Stadträtin geahnt haben dürfte, dass sie außer ihrer Verbundenheit mit Hahn keine Argumente für ihre Empörung hatte, musste ihre Biografie als Argument herhalten: Sie könne Katzers Äußerung nicht dulden, weil sie selbst aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden komme. (vgl. salikus.de)
Angesichts solch tragischer Folgen von Klüngelwirtschaft, Gefolgschaft und Loyalitätsprinzip erschien schließlich selbst die hallische Oberbürgermeisterin, die sonst nicht gerade für ihre Kompetenz bekannt ist, als Instanz der Vernunft: Sie sprach ein Machtwort. Nach einem Ultimatum und einem Wechselspiel aus Widerruf und Bekenntnis nahm Annegret Hahn ihre Vorwürfe gegen ihren Vorgesetzten schließlich zurück. Nun konnte sich auch die Oberbürgermeisterin wieder von ihrer gewohnten Seite zeigen: Da auch sie den Zentralrat der Juden für Kompetenzstreitigkeiten an subventionierten ostdeutschen Kulturbetrieben zuständig zu halten scheint, wollte sie ihm mitteilen, dass Hahn ihren Vorwurf inzwischen zurückgenommen habe – und er insofern nicht mehr tätig werden müsse. („Mitteldeutsche Zeitung“ vom 21. Juni 2009) Diese Nachricht dürfte der Zentralrat erleichtert aufgenommen haben: Gerüchten zufolge muss er nämlich noch einen Besetzungsstreit am Laien-Ensemble der Puppenbühne Bautzen schlichten.
Anmerkungen:
1) Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1997, S. 166.
2) Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, S. 337.
3) Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften Bd. 17, Frankfurt am Main 2002, S. 263.
4) Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 119.
5) Zu Sodann vgl. Konkret 2/2007.
6) Mommsen fasste seine Interpretation vor einigen Jahren folgendermaßen zusammen: „Keine Stellung [im NS-Regime] war institutionell definiert, sondern jede musste durch Aktivität und Kampf ihres Inhabers immer wieder neu bestätigt werden. Gleichzeitig ersetzte die Partei das, was wir unter Politik verstehen, durch bloße politische Mobilisierung vor dem Hintergrund eines vage definierten visionären Endziels. Das erzeugte die irrationale Dynamik, die diese Bewegung ausgezeichnet hat. […] Es kam zu einer ständigen weiteren Radikalisierung der Bewegung, die in Randbereiche abgedrängt wurde, um dann in der Judenverfolgung zu eskalieren und das politische System als Ganzes in Mitleidenschaft zu ziehen. Die Freisetzung dieser institutionell nicht gebundenen Energien bei Teilen der NSDAP setzte dann den Prozess in Gang, den ich ‚kumulative Radikalisierung’ nenne.“ Hans Mommsen: Ständige Radikalisierung (Interview), in: Focus 38/1996.
7) Peter Sodann gehört hier zu den wenigen Ausnahmen: Er ließ Curt Goetz’ Emanuel Striese in seiner Zeit als Intendant des „Neuen Theaters“ Halle nicht nur ein kleines Denkmal bauen. Er forderte zugleich immer wieder, dass Theater unterhaltsam sein müsse. An dieser Forderung ist nichts falsch, außer der Tatsache, dass Sodann das Raunen des örtlichen Rentnerstammtischs der Linkspartei mit Unterhaltung verwechselt.
Schöner Text!
eine wohltat, diesen text zu lesen.