Joachim Krauses Brille sitzt etwas tief auf der Nase, er muss den Kopf heben, nachdem er mich aufgefordert hat, mich hinzustellen. Er schaut mir kurz ins Gesicht. „Deine große Unterlippe steht für Ernährung, die schmale Oberlippe für Bewegung. Ja, hier sieht man auch ganz deutlich die Bewegung“, Joachim Krause tippt mit einem Finger auf meine Unterlippe. Dann setzt er seine Zeigefinger an meine Stirn, in die Mitte. Zieht sie links und rechts am Haaransatz hinunter bis auf Augenhöhe. „Die obere Gesichtshälfte steht ganz klar für die Empfindung. Du wägst ab, bevor Du entscheidest.“ Mmh ja, gut möglich.
Ich stehe mit Krause in einer großen hallischen Buchhandlung, in der Abteilung für Medizin, in der der Mittfünfziger den ganzen Tag „Antlitzdiagnosen“ durchführt und Interessierte über ihre viel sagende und unumstößliche Physiognomie unterrichtet. Der Andrang ist groß, trotz Anmeldung eine Stunde warten. Ich hatte Instrumente zur Schädelvermessung erwartet, einen Kittelträger und ein dickes Buch „Von A wie Auge bis Z wie Zahn – Lexikon der Gesichtsmerkmale“, in dem jeder Stirn-, Nasen- und Kinnform eine Charaktereigenschaft zugeschrieben wird. Stattdessen Krause: rundes Gesicht, lächelt immer ein wenig, sieht etwas müde aus, trägt ein rotes Poloshirt und eine Jeans. Er duzt von Beginn an. Krause braucht kein Buch, er bestimmt das Naturell einer Person fast mit geschlossenen Augen. Er ist der geborene Antlitzexperte.
Von den Augen streicht Krause mit seinen Zeigefingern hinab zum Kinn. „Hier sehe ich wieder die Bewegung. Und hier erst“, seine Hände umfassen nun meine Beckenknochen. „Du hast ein großes Becken, du versuchst alles mit Bewegung zu lösen“, sagt er. Erst abwägen und dann doch bewegen ohne nachzudenken? Ich bin verwirrt, aber es spricht alles dafür: Ich habe eine komplexe Persönlichkeit. Krause gibt mir einen Spiegel und erklärt mir meine Nase: Sie ist nicht ganz gerade, ihre Spitze tendiert nach links – das steht wieder fürs Handeln. Viel wichtiger ist der kleine Huckel auf der Nase. Er zeigt mein starkes Ego, sagt Krause und nickt. Gut, dass ich keine Nasenkorrektur habe vornehmen lassen. Der Gesichtsanalyst packt wieder meine Beckenknochen und rüttelt nun an ihnen. „Auch hier erkennt man ganz klar dein starkes Ego. Bewegung und Ego.“ Komplex und stark – ich werde immer begeisterter von mir.
Die Lehre von der Physiognomie kennt drei Grundtypen (ich bin anscheinend ein Mischtyp aus allen dreien): Ernährung, Empfindung, Bewegung. Das hat mir Krause anhand eines Gesichterdiagramms beigebracht. Acht Gesichter, oben der Idealtyp, dessen Stirn weder zu fliehend noch zu hoch, dessen Gesicht weder zu rund noch zu kantig ist. Er denkt nicht zuviel und nicht zuwenig, er isst nicht zuviel und bewegt sich nicht nur. Er ist blond, er ist Harmonie. So steht’s in Krauses Diagramm und der hat nachgelesen bei Carl Huter, der die Physiognomik zum „pädagogischen“ Konzept ausbaute. Der Disharmonie-Typ hingegen sieht schon unsympathischer aus: Ist es wegen der fliehenden Stirn oder der dunklen Haare? Ist es, weil er aussieht wie Paul Muni als Mafioso in „Scarface“ von 1932: berechnender kaltblütiger Blick, verschlagenes listiges Lächeln?
Die Farben, die im Kreis-Inneren des Diagramms stehen, helfen eindeutig zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Von der Mitte, „Absolut neutrales Grau“, zeigt ein Pfeil – erst steht an ihm „helleres Grau“, dann „Weiß“ – zum blonden Harmonietyp. Ähnlich bei der fiesen Mafiosovisage: „Absolut neutrales Grau“, „Dunkleres Grau“ und schließlich „Schwarz“. „Ah, das kenne ich“, rufe ich, als Lehrmeister Krause auf den Typ Disharmonie zeigt, „jemand mit einer fliehenden Stirn ist kriminell, wird doch gesagt.“ „Das kann man so nun auch nicht sagen“, Krause weicht aus, „die Physiognomie wurde in der Vergangenheit auch oft ausgenutzt.“ „Natürlich, natürlich“, sage ich. Sein Schweigen bedarf keiner weiteren Erklärung.
Krause bittet mich um eine 180-Grad-Drehung. Er legt Daumen und Zeigefinger an meinen Hinterkopf – doch ein Schädelvermesser. „Aber irgendwie machst Du etwas, das Deinem Naturell widerspricht“, sagt Krause nachdenklich. „Ich gehe arbeiten.“ „Ach Du“, sagt er, schüttelt mich und lacht. Er hebt meine Haare und tastet die Region hinter dem linken Ohr ab. „Ah ja. Hier haben wir es. Du bist sehr schlagfertig.“ Krause ist ein Genie.
Ähnlich wie ich können auch andere Menschen ihr Naturell nicht ausleben. Krause kommt auf Amokläufer zu sprechen: „Ich würde gern mal einen Amokläufer analysieren“. Nein, natürlich ist das Kriminelle, Mörderische nicht in ihren Wangenknochen festgeschrieben. Ich stutze. Und das sagt der Antlitzleser? „Siehst Du, die Gesellschaft beeinflusst die Menschen …“, so weit, so lapidar, „… und sie können dadurch ihr Naturell nicht ausleben. Und dann reagieren sie so.“ Natürlich, das ist die richtige Lösung. Vielleicht sollte man jeden 14- bis 21-Jährigen zu einem Antlitzdiagnostiker schicken. Vielleicht sähe die Welt ja dann ganz anders aus, würde jeder sein vererbtes „Naturell“ kennen.
Kurz vor Ende gibt er mir noch Gesundheitstipps. Im Gesicht kann ein Antlitzdiagnostiker nicht nur alle Krankheiten, bevor sie überhaupt da sind, erkennen. Er kann zur Heilung beitragen. „Das Kinn zeigt, dass du was am Herzen hast, die kleinen Fältchen auf den Lippen, dass etwas mit der Milz nicht stimmt“, sagt er schnell, die Antlitz-Lese-Stunde ist fast vorüber. Das Schüßler-Salz Nummer Fünf, Kalium Phosphoricum, empfiehlt er mir. Alle Krankheiten sind im Gesicht erkennbar, alle Krankheiten sind mit Mineralien erfolgreich zu bekämpfen. „Alle Krankheiten“, frage ich etwas erstaunt, schaue auf die vielen dicken Medizinbücher hinter ihm und denke an die vielen AIDS-Toten, die mit Natrium oder Magnesium hätten gerettet werden können. Ja, alle. Er weist darauf hin, dass er natürlich kein Arzt sei. Aber wer muss das schon sein, um zu heilen. Die Stunde ist zu Ende, Krause muss sich noch vorbereiten. Er wird noch einen Vortrag in der Buchhandlung halten. Vielleicht blicken seine Zuhörer diesmal nicht auf die Wälzer der Medizinabteilung, sondern auf Märchenbücher.
Mandy S. Dzondi
Funny… or rather not. Zumindest ist der erzählerische Stil genau die richtige Form mit einem Gegenstand umzugehen der sich Kritik gegenüber, und mag sie auch noch so polemisch formuliert sein, sowieso resistent verhalten wird. Hohe Stirn, kleine Augen, lange, spitze Hakennase, das sind, lasst mich raten, wohl die physigionomischen Merkmale des Kritikers…? Immerhin kann man dem das querulantenhafte Dasein nicht verübeln, wenigstens lebt er nach seinem Naturell. Ach, ja…
„Wenn also einem Menschen gesagt wird: du (dein Inneres) bist dies, weil dein Knochen so beschaffen ist, so heisst es nichts anderes, als ich sehe eine Knochen für deine Wirklichkeit an. […] -hier müsste die Erwiderung eigentlich so weit gehen, einem, der so urteilt, den Schädel einzuschlagen, um gerade so greiflich, als seine Weisheit ist, zu erweisen, dass ein Knochen für den Menschen nichts an sich, viel weniger seine wahre Wirklichkeit ist“ Hegel, 1807; Phänomenologie des Geistes; Kapitel V.c. (S.276)
Am Gesicht bzw am Gesichtsausdruckkann man einiges ablesen, da ist aber keine Hexerei dabei.
Tiefliegende, dunkle Augen? Da schläft jemand nicht gut (tief genug), gerne durch Magenprobleme (oder andere chronische Schmerzen, es müssen nicht mal Schmerzen, es reicht ein latentes Unwohlsein) verursacht.
Leicht schiefes Gesicht von Mundwinkeln zu Jochbein? Zahnprobleme im Oberkiefer.
Medizinisch gesehen kann man am Gesicht die eine oder andere Krankheit erkennen, an der Körperhaltung aber auch.
Jeder gute Arzt kann sowas zur Diagnose nutzen, aber nur „Wunderheiler“ übertreibens da gerne mal.
Der mir bekannte beste Fall war der, als ein alter Arzt mal jemanden nur nach Anschauen und Anriechen in die Uniklinik gejagt hat, von dort kam die Antwort „wie vermutet beginnende Leukämie, aber wenn wir nicht genau danach gesucht hätten, hätten wir keinen Verdacht darauf gehabt und es auch nicht gefunden“.
[…] Reportage: Mandy S. Dzondy über Schädelvermessung im Buchladen. […]
Tja was man so alles über sich herausfinden kann, gell. Ich persönlich bin mir aber unsicher ob meine Nasenkorrektur die mich eigentlich sehr glücklich gemacht hat auch wirklich meinem Ego geschadet hat ^^. Ich bin ja kein Anhänger der These das mein Körper so was verrät. Obwohl wer zu viel ist wird dick..mhmmm ok ein paar Dinge lassen sich wohl erkennen.
Naja, das liest sich ja alles sehr wage, für mich etwas zu wage. Ich bin eher Wissenschaftsgläubig und nicht Fan von Pseudowissenschaften. Mich würde ja mal interessieren, wie es in den Gesichtern von Botox-Behandelten lesen will. Kann man nach einer Lippenaufspritzung etwas über den über Nacht gewandelten Menschen sagen??? Sophia Loren hat mal gesagt: „Nicht die Schönheit entscheidet, wen wir lieben, die Liebe entscheidet, wen wir schön finden.“ (Zitat hier)