Über die so genannte Wende gibt es nur wenig Erhellendes zu berichten. Wohl auch deswegen ist sie bislang noch nicht geschrieben worden – die endgültige Geschichte des Mauerfalls, der Trabbikolonnen vor Helmstedt und des gemeinschaftlichen Austickens in Ost und West. Sie existiert vorerst nur als Stasimärchen. Jörg Folta blickt gelangweilt auf 20 Jahre Mauerfall zurück.
Alle Jahre wieder packen die einschlägigen Instanzen – die Investigativpresse, die professionellen Stasijäger Gauck und Birthler und die obligatorischen Bürgerbewegungsleichen – die alte Gysi-Stasi-Kiste aus. Zuletzt im Mai 2008. Die Birthler-Behörde veröffentlichte neue Unterlagen, der „Spiegel“ berichtete, SPD und CDU setzten im Bundestag eine aktuelle Stunde an. Hier durften dann die Hinterbänkler aller Fraktionen – vorzugsweise ostdeutsch und stasiverfolgt – auf den Linksparteiler einschlagen. Da sie wussten, dass sich der ganze Vorgang argumentativ auf dünnem Eis bewegte (so richtig haben sie Gysi noch nicht rangekriegt), verzichteten sie gleich ganz auf Argumente und menschelten, was das Zeug hält.
„Glauben Sie mir, dass es mir nicht leicht fällt, zu diesem Thema zu sprechen, obwohl ich mich in meiner politischen Biografie viel mit der Staatssicherheit auseinandergesetzt habe. Es fällt mir schwer, meine Gedanken und erst recht meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Ich werde das auch gar nicht richtig können“, begann der ostdeutsche SPD-Abgeordnete Stephan Hilsberg – frei von Scham über dieses kindische Pathos – seine Ausführungen. Er nahm damit nicht nur die weitere Art der Auseinandersetzung vorweg, sondern skizzierte zugleich das Niveau, das Ostintellektuelle und Bürgerrechtler vor und nach 1989 auszeichnete. Viel ist von ihnen glücklicherweise nicht übrig geblieben, sie wurden in der Regel abserviert. Lediglich beim Alle-gegen-die-Stasi-Spiel werden Pfarrer Eppelmann, Bärbel Bohley, Lutz Rathenow usw. noch einmal ausgegraben; nur hier dürfen sie noch mitmachen. Und so unangenehm der Linkspartei-Schmierlappen Gysi auch ist, man empfindet doch irgendwie Mitleid mit ihm. Von einem Mob dieser Couleur angegriffen zu werden – das hat wirklich niemand verdient. Vor allem aber lassen Vorkommnisse dieser Art unangenehme Erinnerungen an die so genannte „Wende“ wach werden, als derlei an der Tagesordnung war.
Im Herbst jährt sich der Mauerfall nun zum 20. Mal, und auch ohne die penetrante Dauerpräsenz von Bohley & Co. fällt es schwer, das Jubiläum zu ignorieren. Denn eines wird jetzt schon klar: Das Gedenken an die „Wende“ wird sich am Lieblingssujet der ostdeutschen Bürgerbewegung und des westdeutsche Politik- und Medienklüngels kristallisieren: der „Staatssicherheit“ sowie der Staats- und Parteispitze der damaligen DDR – den kampflos erlegenen Gegnern der zweiten „friedlichen Revolution“ in Deutschland seit 1933.
Und so ist bis zum Jubiläum des Mauerfalls sicher noch die eine oder andere Stasiräuberpistole zu erwarten. Die Zeitgeschichtsredaktionen von ARD und ZDF senden schon seit Jahresbeginn allerhand Erinnerungskitsch, der vor allem eines offenbart: Der Gegenstand der Erinnerung ist weniger die eigentliche Wende, soll heißen: die Zeit zwischen den ersten Montagsdemonstrationen 1989 und der Vereinigung im folgenden Jahr. Im Zentrum des Gedenkens steht vielmehr die Tristesse der davorliegenden Monate, die romantisch in eine Epoche der großen Verfolgung kleiner, aber tapferer Bürgerrechtler umgelogen wird. Hier können sich ost- und westdeutsche Stasigegner (also irgendwie alle) nicht nur an einem längst erledigten Gegner abarbeiten und zum x-ten Mal ihr Mütchen kühlen. Insbesondere die früheren Bürgerrechtler können einer Epoche nachtrauern, in die sie sich zurückzusehnen scheinen – die Zeit, in der sie aus dem Überwachungsaufwand der Stasi irrtümlicherweise auf ihre eigene Bedeutung schließen konnten, ihre intellektuellen Wortführer im Westen massenhaft Bücher und Bilder verkauften, und sie zumindest halbwegs ernst genommen wurden.
Denn der Triumph der Wende entpuppte sich schnell als ein sehr resignativer. Schon in den ersten Wochen und Monaten nach dem Mauerfall erwies sich die Rede von der „friedlichen Revolution“ als völlig haltlos. Die Wende war kein spektakulärer Umbruch, sie brachte weder große Persönlichkeiten noch dauerhafte Dokumente hervor. Es machte lediglich eine Vielzahl aberwitziger Parteien und skurriler Initiativen – vom „Neuen Forum“, über den „Demokratischen Aufbruch“, „Demokratie Jetzt“ und die „Vereinigte Linke“ bis zur „Biertrinkerunion“ – ihre Schrebergartenvisionen vom besseren Leben lautstark publik. Sie boykottierten, denunzierten und verurteilten einander, gründeten neue Abspaltungen, zerfielen und fusionierten – dabei ganz im Glauben, die Speerspitze einer nach Freiheit dürstenden Volksbewegung zu sein. Das Ganze wirkte wie ein Spiel, wie eine Karikatur vom politischen Leben Westdeutschlands, aufgeführt von erbärmlich eitlen und rührend ahnungslosen Gestalten, denen ihre eigene Überflüssigkeit in keiner Weise bewusst war.
Statt einer historischen Veränderung wurde eine neue Runde im ewig gleichen Spiel eingeläutet. Das, was 1989 mit dem Ostblock geschah, war – wie Wolfgang Pohrt 1992 schrieb – nicht mit Begriffen wie Umwälzung, Niederlage, Zusammenbruch oder Zerfall zu fassen. Es erinnerte vielmehr „an die Verwandlung von Gregor Samsa oder an die Schlussszene in Oscar Wildes ‚Das Bildnis des Dorian Gray’, und es bewies, dass nicht Entwicklung, sondern Mutation auf der Tagesordnung stand“. Die Geschichte wurde umso überflüssiger, je penetranter darauf hingewiesen wurde, dass man gerade dabei sei, Geschichte zu schreiben. Und so erscheint die Geschichte der Wende in der Erinnerung als ein bizarres Defilee längst vergessener „historischer Momente“: von der Maueröffnung bis zur Erstürmung der Stasizentrale von Kleinpaschleben. Übrig blieben peinliche Augenblicke ostdeutscher Selbstfindung, Familienväter, die sich am Kurfürstendamm um Gratiszigaretten prügelten, die „Deutsche Sexpartei“, Demonstrationsparolen wie „Egon rück die Westmark raus, die Sachsen kommen im Dauerlauf“, ein Thüringer Pfaffe, der sich aus Angst vor Stasi-Verwanzung alle Zähne ziehen lies, unsäglich erbärmliche Prosa und Lyrik von Stephan Krawczik bis Lutz Rathenow, Ostalgie und zuletzt das Witzbild vom hässlichen Zoni – heute längst common sense und genauso öde wie sein Gegenstand.
Diese Ahnung um den wahren Charakter der Wende jenseits von Gegenwart und Geschichte scheint auch die verschiedenen Akteure der Erinnerungsindustrie zu umschleichen. Sicher wird man der Clique ostdeutscher Bürgerrechtler auch diesmal wieder die Gelegenheit bieten, mit der friedlichen Revolution zu prahlen und sich die Wende, die die völlig ahnungslosen Ost-Intellektuellen überrollte, auf ihre Fahne zu schreiben. Letztlich aber wird man sich auf Gemeinsamkeiten besinnen und – wie bereits 1989 ff. – kollektiv auf den am Boden liegenden Gegner einprügeln.
Die Geschichte der Wende ist noch nicht geschrieben worden. Sie existiert bislang nur als verschwommenes ostdeutschen Revolutionsmärchen à la „Das Wunder von Bern/Lengede“ usw. Den einzigen ernstzunehmenden Versuch, ein Wendebuch zu schreiben, haben Wiglaf Droste und Gerhard Henschel 1996 mit ihrem „Barbier von Bebra“ in Form eines Trashromans unternommen – tatsächlich eine angemessene Art, sich dem Thema zu nähern.
Jörg Folta
[…] Die Wende. Ein Stasimärchen. Jörg Folta mit einem Beitrag gegen den Jubiläumskitsch rund um dem sogenannten Mauerfall. […]
Die Mauer ist so hart wie früher. Viele und auch ich hatten keine Chance als Nichtorganisierte.
LG Schade
[…] Die Wende. Ein Stasimärchen. Jörg Folta mit einem Beitrag gegen den Jubiläumskitsch rund um dem sogenannten Mauerfall. […]