Alljährlich lädt Sachsen-Anhalt zum „Landestag“. Jens Schmidt besuchte die Stadt „am Fuße des Bodetals“ und berichtet über Folklore, Bratwurst und die Reaktionen des antifaschistischen Deutschland.
Ebenso wie in Bayern, Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommern findet auch in Sachsen-Anhalt ein Mal im Jahr ein so genannter Landestag statt. Die Choreografie ist stets die Gleiche: Der Landesvater hält eine sprachlich wie rhetorisch beeindruckende Rede. Die wenigen großen Arbeitgeber der Region – die Hasseröder-Brauerei, die Halberstädter Würstchenfabrik und das Arbeitsamt Magdeburg – stellen sich vor und verteilen kostenlose Kugelschreiber. Und die Schnauzbart-Freunde und Kaltwellen-Liebhaberinnen, die das Fest regelmäßig zu Tausenden anzieht, schikanieren ihren Nachwuchs aus Frustration über die horrenden Bier- und Bratwurstpreise. Der Höhepunkt des Festes ist in jedem Jahr der historische Festumzug. Dieser Aufmarsch, für den sich die Mitglieder unzähliger Heimat-, Trachten- und Traditionsvereine immer wieder aufs Neue in die immergleichen historischen Kostüme zwängen, wird meist von Germanen angeführt; es folgen Heinrich und Otto I., Martin Luther und Georg Friedrich Händel, und irgendwann wird die Mauer symbolisch eingerissen. So funktioniert regionale Identitätsbildung, so soll dem traditionsärmsten und arbeitslosenreichsten Bundesland, das vor 1990 nur von 1945 bis 1952, der kurzen Zeitspanne zwischen der Auflösung Preußens und der Gründung der DDR-Bezirke Magdeburg und Halle, bestand, eine mehr als tausendjährige Geschichte gebastelt werden: Wenn die Brieftasche leer ist, schlägt die Stunde der kollektiven Identität. Nichts Besonderes also. Mit einer Ausnahme: Während in den Jahren zuvor bestenfalls die Regionalzeitungen und die kostenlosen Sonntagsblätter über den Auftrieb berichteten, sorgte das Fest in diesem Jahr bundesweit für Schlagzeilen. „Spiegel“, „Focus“, „Welt“, „Financial Times Deutschland“ und andere überregionale Blätter berichteten. Selbst das „Pforzheimer Tageblatt“, dessen Redaktionsstuben rund 500 Kilometer südwestlich von Thale, dem diesjährigen Austragungsort des „Sachsen-Anhalt-Tages“, entfernt sind, brachte eine Meldung. Der Grund: Mitglieder eines militärhistorischen Vereins aus Dessau waren beim Festumzug in Wehrmachts- und SS-Uniformen aufgetreten. Justizministerin Angela Kolb (SPD) sprach von einer „ganz bewussten Provokation“; der notorische Wulf Gallert, Fraktionschef der „Linken“ im Landtag, bezeichnete den Auftritt als „Skandal“ und versuchte, politisches Kapital aus dem Fall zu ziehen: Die Staatskanzlei von Ministerpräsident Böhmer (CDU), offiziell die Veranstalterin des „Sachsen-Anhalt“-Tages, solle sich für den Auftritt verantworten. Ein Nachwuchskommentator der „Mitteldeutschen Zeitung“ wollte schließlich sogar einen Zusammenhang zwischen dem Marsch auf Thale und der Begeisterung der Landesjugend für die Ausländerhatz – Sachsen-Anhalt liegt bei rechten Straftaten bundesweit immer noch an der Spitze – erkennen.
Nun lässt sich zwar darüber streiten, ob Wehrmachts- und SS-Uniformen in der Öffentlichkeit gezeigt werden müssen. Auch dürften Menschen, die sich in ihrer Freizeit in Militärmäntel zwängen, Panzer pflegen und Schießen spielen, nicht gerade zu den angenehmsten Zeitgenossen gehören. Seine Skurrilität gewann der Fall aber weniger aus dem Auftritt von Thale als aus der parteiübergreifenden Empörung, die dem Dessauer Kostümverein von der großen Koalition aus CDU, SPD, Linkspartei, Medien und Leserbriefschreibern entgegengebracht wurde. Denn während in Thale maximal zehn Leute in Uniformen des „Dritten Reichs“ aufliefen, bevölkern Wehrmacht, SA und SS die Bahnhofsbuchhandlungen, die Illustrierten und, neben der obligatorischen Stöhn- und „Ruf-mich-an!“-Werbung, auch die Nachtprogramme des Fernsehens. Ganze TV-Sender ziehen ihre Existenzberechtigung aus der Ausstrahlung wissenschaftlich hochwertiger Formate über Hitlers Krieg, Hitlers Frauen und Hitlers Hund. Mit anderen Worten: Mit Ausnahme der Jahre 1933 bis 1945 dürfte Hitler in der deutschen Öffentlichkeit nie so präsent gewesen sein wie in den letzten Jahren. So viel Hitler war nie.
Vor diesem Hintergrund ist die Vermutung angebracht, dass aus der Empörung über den Auftritt von Thale nicht nur das Bedürfnis sprach, einmal mit den Guten tuten zu können. Der Skandal scheint vielmehr darauf basiert zu haben, dass die Dessauer Trachtenfreunde der Wahrheit über die Konstitution des „Dritten Reiches“ und seiner Nachfolgestaaten mit ihrer Darstellung gefährlich nahe gekommen waren: Denn im Unterschied zu den Produktionen des ideellen Gesamtgeschichtslehrers Guido Knopp machten sie weder eine Trennung zwischen der „sauberen Wehrmacht“ und der verbrecherischen SS auf. Noch präsentierten sie die Wehrmachtssoldaten als Opfer ihrer Vorgesetzten, einer boshaften Bande von Österreichern oder einfach nur der Umstände: „Mutter Putze, Vater Pils“. Wehrmacht und SS liefen in Thale vielmehr einträchtig nebeneinander her, wirkten weder zweifelnd noch leidend, sondern gut gelaunt und winkten freundlich in die Bratwurstmeute. Der Dessauer Trachtenverein beging mit anderen Worten den Fehler, und das dürfte der zentrale Grund der allgemeinen Empörung gewesen sein, ein offenes Geheimnis öffentlich zu verraten. Er demonstrierte unfreiwillig, was jeder aus Opas Feldpostbriefen auf dem Dachboden weiß, um des postfaschistischen Friedens Willen aber nicht ausspricht: Die positive historische Traditionsbildung, zu der historische Festumzüge und Feierstunden nun einmal beitragen sollen, ist in Deutschland nicht ungebrochen möglich. Sie funktioniert nur auf der Grundlage von offener Lüge oder Auslassung. Je deutlicher diese Lüge als Lüge kenntlich gemacht wird, umso empörter reagiert die Gemeinschaft auf den Verrat – und umso verbissener muss der antifaschistische Widerstand nachgeholt werden, der von den eigenen Eltern und Großeltern im „Dritten Reich“ irgendwie versäumt worden war.
Jens Schmidt
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