Am 9. November wurde auf dem Universitätsplatz eine kleine Bodenplatte eingeweiht, die an die Bücherverbrennung durch die hallische Studierendenschaft und zahlreiche Mitglieder des Lehrkörpers erinnern soll. Einen Tag später, am 525. Geburtstag Luthers, lud die Universitätsleitung zu einem größeren Festakt ein. Der Anlass der Feierstunde war, so verkündete es eine offizielle Pressemitteilung der Universität, die Verleihung des Namens „Martin-Luther-Universität“ vor 75 Jahren. Im Jahre 1933 brannten in Halle nämlich nicht nur hunderte Bücher, Hermann Göring höchstpersönlich verlieh der hallischen Universität im November zudem den Namen, den sie bis heute trägt. Die Namensurkunde mit Görings Unterschrift wurde auf den 10. November 1933 datiert. Diesen 10. November 1933, genauer gesagt seinen 75. Jahrestag, wollte die Universitätsleitung zünftig begehen und lud zum „Festakt“ mit musikalischem Programm und „Festvortrag“. Nur die Schnittchen fehlten. Dafür hatte man sich aber extra einen Aufsatz bestellt, der längst widerlegte und wissenschaftlich unhaltbare Thesen mit wissenschaftlich äußerst fragwürdigen Methoden zu untermauern sucht. Hauptthese des Aufsatzes ist die ehrenrettende Behauptung, dass die Umbenennung der Universität als christlich-oppositioneller Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime zu deuten sei. Die Ergüsse des ideologischen Nachwuchskaders Silvio Reichelt, die selbstverständlich 2009 in einem Jubiläumsband erscheinen werden, wurden jedoch von kompetenter Seite zerpflückt und widerlegt – und das ausgerechnet auf dem absurden Festakt selbst. Nachdem antifaschistische Studierende die Feier als „pietätlose Veranstaltung“ öffentlich skandalisiert, und berechtigterweise nach dem offensichtlich äußerst fragwürdigen Geschichtsverständnis der Universitätsleitung gefragt hatten, wurde letztere ausgerechnet von ihrem eigenen „Festredner“ brüskiert. Der Historiker Jürgen John stellte zu Beginn seines Vortrages – gegen einige protestierende Studierende war seitens der Universität bereits ein Hausverbot ausgesprochen worden – klar, dass er die Veranstaltung eines „Festaktes“ für mehr als irritierend halte. Diese Irritation, so John, teilten offensichtlich die protestierenden Studenten. Er wolle eine historisch-kritische Untersuchung der Namensgebung versuchen. Die folgenden Ausführungen dürften den anwesenden Gästen kaum gefallen haben. Verschiedene Behauptungen, wonach beispielsweise der Name „Alfred-Rosenberg-Universität“ verhindert worden, oder wonach die Namensgebung ein oppositioneller Akt der Akademiker, allen voran der protestantischen Theologen gewesen sei, verwies John ins „Reich der Mythen“. Als Mythos bezeichnete er damit also auch den Narrativ, der von universitärer Seite seit längerem gepflegt wird – jüngst hatte Reichelt ihm einen akademischen Anstrich verpassen wollen. Die Mehrheit der Studierenden und der Professoren sei den Nationalsozialisten gegenüber positiv eingestellt gewesen. Gegen kritische Wissenschaftler wie den Theologen Dehn sei schon vor 1933 ein regelrechtes Kesseltreiben durchgeführt worden. Der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von der Mehrheit geteilte Lutherentwurf sei der des „deutschen Luther“ gewesen, völkisch und nicht zuletzt rassisch extrem aufgeladen. Dies war aufgrund seiner antisemitischen Schriften auch nicht schwierig. Die Namenswahl, so betonte auch John, muss als deutliches Zeichen der Kooperationsbereitschaft seitens der Uni-Eliten an das nationalsozialistische Regime verstanden werden. So sie nicht selbst NS-Aktivisten waren, standen sie dem Regime zumindest wohlwollend gegenüber. Der neue Name der Universität – der Name des „deutschen Reformators“ und ersten Antisemiten Martin Luther – versicherte dies schließlich allen Beteiligten.
Irritierender Festakt
24. Dezember 2008 von bonjour tristesse
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Hier ist euch wohl ein Fehler unterlaufen:
„Die Namensurkunde mit Görings Unterschrift wurde auf den 10. November 1933 datiert. In der Nacht zuvor waren in ganz Deutschland jüdische Wohnhäuser und Geschäfte verwüstet, Synagogen angezündet, tausende Juden verschleppt und Hunderte ermordet worden.“
Die „Nacht zuvor“ bezieht sich sicher auf den 9. November – die Reichspogromnacht…nur diese war 1938!
Danke. Der Satz wurde erst einmal entfernt.
Zur Rechtfertigung unseres Autors: Es ist ein wenig peinlich, kann aber im Eifer der Auseinandersetzung schon mal passieren. Wer schon mal einen Text geschrieben hat, weiß, dass man, wenn man nur lange genug daran sitzt, betriebsblind wird. Schlimmer als diese Betriebsblindheit ist es, dass wir als Redaktion alle noch mal über den Text drübergelesen haben – und nichts bemerkt haben. Peinlich, peinlich. Aber schön, dass wir so aufmerksame Leserinnen und Leser haben. In diesem Sinn noch mal danke!
Der Satz meint, aus der Sicht von heute: „Die Namensurkunde mit Görings Unterschrift wurde auf den 10. November 1933 datiert. In der Nacht vor dem 10. November wurden 1938 in ganz Deutschland jüdische Wohnhäuser und Geschäfte verwüstet, Synagogen angezündet, tausende Juden verschleppt und Hunderte ermordet.“ Vielleicht kann das ja dahingehend geändert werden.
@Autor: Das ist aber ein schwacher Zusammenhang, dass beide Ereignisse um den 10 Nov. geschehen sind.
Die Tatsache der Namensänderung zur Zeit des Nationalsozialismus, der Beteiligung Görings, der Zusammenhang von Luther als Namensgeber und NS, sowie der heutige positive Bezug der Universitätsvertreter auf diesen Namen und die Namensgebung ist widerlich genug und braucht gar nicht verstärkend den Verweis auf die Reichspogromnacht.
ein blogger schreibt über seinen lebensfrust in halle. ein köstlicher surftipp! http://fm4.orf.at/stories/1601360/