Andreas Halberstädter
Alle reden von „1968“ – die „Bonjour Tristesse“ redet mit. Aber weder im Stile derjenigen, die sich zugute halten, Deutschland in Folge der Studentenrevolte modernisiert zu haben, noch im Stil derer, die 1968 den Untergang des Abendlandes befürchteten. In den Auseinandersetzungen um Götz Alys Achtundsechziger-Bashing ergreifen wir dementsprechend weder die Partei Alys noch die Partei der Ditfurths, Schneiders und Cohn-Bendits. Mit einer Besprechung von Götz Alys Buch „Unser Kampf“ eröffnet die „Bonjour Tristesse“ ihre Kultur- und Rezensionskolumne.
Es war zu erwarten: Kaum stellt jemand den anerkannten Meinungskanon über „1968“ öffentlich in Frage, ist die Empörung groß. So kann zwar inzwischen jeder Unsinn über die Protestbewegung verbreitet werden: Die Achtundsechziger seien naive Romantiker mit einer „gefährlichen Blindheit“ gegenüber dem Totalitarismus (Wolfgang Kraushaar), auf der Suche nach Spiritualität (Rainer Langhans) oder einfach nur anmaßend (Bettina Röhl) gewesen. Nur eins darf man im Jubiläumsjahr, in dem selbst die Bundeszentrale für politische Bildung erklärt, dass die Republik in Folge von „1968“ demokratisiert wurde, nicht sagen: „1968“ war ein nationalrevolutionärer Aufbruch in der Tradition von „1933“. Wer es dennoch tut, zieht nicht nur den Zorn derjenigen auf sich, die „dabei“ waren: der Veteranen und Apo-Opas, die inzwischen in den Redaktionen der großen Tageszeitungen, in Ministerien oder auf Biohöfen in der Toskana untergekommen sind. Er stellt zugleich seine berufliche Reputation aufs Spiel. Als der hiesige Heimatsender MDR Ende Februar über Götz Alys Buch „Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück“ berichtete, ließ er nicht nur, wie sonst bei seinen Low-Budget-Kultursendungen üblich, den Autor und den zuständigen Redakteur zu Wort kommen. Er bat zugleich den Berufs-Achtundsechziger Peter Schneider um eine kritische Stellungnahme. Dieses Signal war eindeutig: Alys Buch ist unseriös und bedarf dringend einer Kommentierung. Die Zustimmung zu dieser Aussage vereint inzwischen Jutta Ditfurth mit Redakteuren des „Deutschlandradios“, die „Junge Welt“ mit der „Süddeutschen Zeitung“ und die „Taz“ mit den „Frankfurter Heften“.
Dabei ist Alys zentrale Aussage weder neu noch besonders originell: „Die revoltierenden Kinder der Dreiunddreißiger-Generation“, so verrät der Klappentext, „waren ihren Eltern auf elende Weise ähnlich.“ Tatsächlich gehört kein großes historisches Wissen dazu, um Gemeinsamkeiten zwischen dem nationalsozialistischen Aufbruch und der Studentenbewegung der sechziger Jahre zu erkennen. Wie die NS-Bewegung begriff sich auch die Studentenbewegung von 1968 primär als jugendliche Aufbruchsbewegung. Ihr Kampf galt den letzten Resten von Bürgerlichkeit. Das Alte und Morsche sollte vom Sockel gestoßen, „Ich“ sollte durch „Wir“ ersetzt werden, und die Begeisterung ihrer Vordenker galt der Kuhwärme kleiner Gemeinschaften, Völkern und anderen Kampfkollektiven.
Spätestens als revoltierende Studenten den israelischen Botschafter Asher Ben-Natan im Juni 1969 in Frankfurt mit den Worten „Zionisten raus aus Deutschland!“ begrüßten, war sogar eine enorme Verdrängungsleistung notwendig, um sich nicht an ähnliche Parolen aus der NS-Zeit erinnert zu fühlen. Mit der Hetze gegen Ben-Natan und der etwa zur gleichen Zeit ausgegebenen Parole „Schlagt die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot!“ hatte der Furor der Studenten auch zum zentralen Hassobjekt der Nazis zurückgefunden. Theodor W. Adorno kommentierte in einem Brief an Herbert Marcuse: „Die Gefahr des Umschlags der Studentenbewegung in Faschismus nehme ich viel schwerer als Du. Nachdem man in Frankfurt den israelischen Botschafter niedergebrüllt hat, hilft die Versicherung, das sei nicht aus Antisemitismus geschehen, und das Aufgebot irgendeines israelischen Apo-Mannes nicht das mindeste.“
Wenn frühere Beteiligte Aly vor diesem Hintergrund entgegnen, dass sie niemanden aus jener Zeit kennen, „für den nicht die Jahre zwischen 1933 und 1945 der Auslöser für sein politisches Engagement waren“ (so der ehemalige SDS-Funktionär Klaus Behnken in der „Jungle World“), mögen sie zwar Recht haben. Sie verzichten allerdings auf die Frage: Was begriffen die Studenten unter der nebulösen Formel „die Jahre zwischen 1933 und 1945“? Trotz einiger hervorragender Faschismusanalysen, die im Umfeld der Apo erstellt wurden, kam das Faschismusverständnis der protestbewegten Öffentlichkeit kaum über die – gelegentlich psychoanalytisch aufgepeppte – Demo-Parole „Hinter dem Faschismus steht das Kapital“ hinaus. Der Nationalsozialismus wurde, ähnlich wie in der DDR, als Diktatur des Kapitals begriffen. In der Bevölkerung sei hingegen, wie Rudi Dutschke 1968 behauptete, „eine dumpfe (durch den Krieg vermittelte) antikapitalistische Stimmung“ vorhanden gewesen. Selbst der immer wieder zur Ehrenrettung der Achtundsechziger bemühte Frankfurter SDS-Theoretiker Hans-Jürgen Krahl, der seit Jahren als Gegenbild zum Nationalrevolutionär Dutschke herhalten muss, sprach gern von einer „Manipulation“ der Bevölkerung. Das deutsche Proletariat galt dementsprechend als Opfer des Nationalsozialismus, seine willige Integration in die Volksgemeinschaft wurde geleugnet.
Vor allem aber war der Faschismus, den die Protestbewegung regelmäßig beschwor, ein Faschismus ohne Auschwitz. Die große Bibliographie, die Rudi Dutschke für den SDS erstellte, kam ohne einen einzigen Titel über den Holocaust aus. Und auch in den wichtigsten linken Theoriezeitschriften dieser Zeit – dem „Argument“, der „Neuen Kritik“ oder dem „Kursbuch“ – muss man lange nach einer Auseinandersetzung mit Auschwitz suchen.
Während die Studenten nichts mehr von der deutschen Tat Auschwitz wissen wollten, entdeckten sie überall auf der Welt neue Nazis, Konzentrationslager und Vernichtungskriege. Besonders gern aber bei den früheren Befreiern. So richtig der Protest gegen den Vietnamkrieg war, so berechtigt ist inzwischen die Frage, ob sich die Protestbewegung tatsächlich über das viehische Vorgehen der US-Army in Vietnam empörte. Begriffen die revoltierenden Studenten den Kampf des Vietcong nicht viel eher als nachträgliche Rache für Dresden, Hamburg und die Niederlage im Zweiten Weltkrieg? Zumindest diente ihnen der Vietnamkrieg als große Projektionsfläche zur Relativierung der Verbrechen, die ihre Eltern und größeren Geschwister in den „Jahren zwischen 1933 und 1945“ begangen hatten. Der Name des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon wurde auf Transparenten regelmäßig mit Hakenkreuzen verziert, der Schlachtruf „USA-SA-SS“ wurde auf jeder zweiten Demonstration skandiert. 1967 berichtete „Konkret“ unter der Überschrift „SS in Vietnam“ über eine amerikanische „Killertruppe, die den Sondereinheiten der SS in nichts nachsteht“, wie es im redaktionellen Vorspann hieß. Wenn Zeitungen wie die nationalbolschewistische „Junge Welt“ solche Relativierungen auch heute noch als Versuch abtun, Konsequenzen aus der deutschen Geschichte zu ziehen, dann signalisieren sie nur, dass ihnen angesichts von My Lai immer noch in guter revisionistischer Tradition Auschwitz einfällt.
Auch wenn Aly das Entlastungsbedürfnis, das sich hinter solchen Vergleichen verbirgt, pointiert herausarbeitet, ist „Unser Kampf“ kein gutes Buch. Aber eben nicht – und das kann gar nicht genug betont werden –, weil der Autor darauf verweist, dass die Achtundsechziger nicht nur in biologischer Hinsicht die Kinder ihrer Eltern waren. Sein Buch ist misslungen, weil er ebenso auf die Wiedergutwerdung der Deutschen fixiert ist wie die Mehrheit seiner Kritiker. Aly ist kein Gegner dessen, was sich die inzwischen arrivierten Protestler immer wieder zugute halten. Er ist, genau wie das Gros der früheren Haschrebellen, SDSler und Mao-Freaks, ein Freund des neuen, „linken“ und „multikulturellen“ Deutschlands, das aus der Geschichte gelernt hat und „wegen Auschwitz“ nach mehr internationaler Verantwortung verlangt. (Immerhin gehörte er zu denjenigen, die 1999 unter Verweis auf die deutsche Geschichte und ihre „Aufarbeitung“ an vorderster Front für den Einsatz der Bundeswehr in Jugoslawien trommelten.) Während der Durchschnitts-Achtundsechziger die Modernisierung der Republik allerdings als Verdienst seiner Generation ausgibt, meldet Aly Einspruch an: Die Protestbewegung, so lautet die Kernaussage von „Unser Kampf“, beförderte den unverkrampften Umgang mit der Vergangenheit nicht. Sie verzögerte ihn. Glaubt man Aly, dann hatte das bis dahin einvernehmliche Beschweigen der Vergangenheit schon Mitte der sechziger Jahre ein Ende gefunden – in einer Zeit also, in der ehemalige Nazis wie Globke, Oberländer und Kiesinger zum politischen Personal der Bundesrepublik gehörten und Adenauers Westbindung auch innerhalb seiner eigenen Partei immer wieder angefeindet wurde. In dieser Situation seien die Achtundsechziger aufgetreten und hätten dazu beigetragen, dass sich für etwa zehn Jahre neue Formen der Verdrängung herausbildeten. Weil der jungen Bundesrepublik die „kohäsiven Kräfte“ fehlten, seien die aufbegehrenden Neuerer zum „totalitären Spiegelbild“ ihrer Eltern geworden.
Diese Klagen über mangelnde „kohäsive Kräfte“ oder, an anderer Stelle, den „fehlenden ideellen Kern“ der alten Bundesrepublik klingen nicht nur staatstragend. Sie sind es auch. Alys zentraler Vorwurf an die revoltierenden Studenten liest sich dementsprechend wie aus dem Ankündigungstext eines nationalen Selbstfindungskurses: „Statt sich ihrer prekären Selbstzerrissenheit und den Problemen des moralischen Wiederaufbaus in Deutschland zu stellen, wählten sie die konsequente, scheinbar erlösende Verneinung.“ Kurz: Der Wiederschein der NS-Revolte im Protest von 1968, den Aly dankenswert klar herausarbeitet, hatte seine Ursache im fehlenden Bekenntnis zu Deutschland, seiner Geschichte und dem Wiederaufbau. Hätten die Studenten größeres Verständnis für das Leiden ihrer Eltern in den Bombenächten und bei der Vertreibung aufgebracht, so deutet Aly allen Ernstes an, hätte die Aufarbeitung der Geschichte weitaus konfliktfreier funktioniert. Dann hätte nicht nur die „Berliner Republik“ zehn Jahre früher ausgerufen werden können. Auch die von Aly beklagten „schweren Langzeitschäden des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges“ – nein, nicht für die überlebenden Juden, sondern: „für Deutschland“ – hätten nicht erst 60 Jahre nach dem Krieg als überwunden gelten können.
Genau hier, und nicht im Aufzeigen der Kontinuitäten zwischen den Dreiunddreißigern und den Achtundsechzigern, liegt das zentrale Problem von „Unser Kampf“: Wenn Aly der Protestbewegung „konsequente Verneinung“ vorwirft, empört er sich ausgerechnet über das Wenige, das es an „1968“ zu retten gibt. Diese „konsequente Verneinung“ dürfte zwar vor allem eine doppelte Projektion sein: Einerseits fürchteten die früheren Rassekrieger und ihre Freunde trotz der zahlreichen Anbiederungsversuche der Protestbewegung einen tatsächlichen Bruch mit der Vergangenheit. Andererseits scheinen die wenigen Beteiligten, denen es auch heute noch weder um eine Versöhnung mit den Eltern noch um die Rettung ihrer „politischen Identität“ geht, ihr eigenes Politisierungsmotiv – die Parole „Nie wieder Auschwitz“ – auf die gesamte Neue Linke zurückzuprojizieren. Zumindest am äußersten Rand der Protestbewegung dürften, wie Detlev Claussen einmal bemerkt hat, Uschi Obermeier, Dylans „You don’t need a Weatherman to know which way the wind blows“ und Adornos „Minima Moralia“ allerdings tatsächlich für einen kaum wahrnehmbaren Augenblick gut zusammengegangen zu sein. Zumindest hier scheint sich das Kontinuum der Nachkriegsgeschichte für einen kurzen Moment geöffnet zu haben.
Götz Aly: Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008.
lesen, denken!
http://www.wadinet.de/blog/?p=760
[…] was man so Alles stößt, wenn man AD-Blättchen aus Halle liest! „1968“ war ein nationalrevolutionärer Aufbruch in der Tradition von […]
„Während die Studenten nichts mehr von der deutschen Tat Auschwitz wissen wollten,“
Das waren eigentlich die, die ihre Eltern das erstemal damit konfrontierten, aber lügen sie sich nur weiter die Realität so zurecht, dass sie in ihre Logik passt.
„Begriffen die revoltierenden Studenten den Kampf des Vietcong nicht viel eher als nachträgliche Rache für Dresden, Hamburg und die Niederlage im Zweiten Weltkrieg?“
Was für ein Unsinn. Tatsache ist, dass das Ausmaß von Auschwitz damals noch relativ unerforscht war, die wirkliche Beteiligung der breiten Masse der Deutschen daran erst mit dem Historikerstreit öffentlich diskutiert wurde. Hinter diesem Hintergrund kam es eben zu diesen Vergleichen. Im Übrigen hat auch Adorno am Todestag von Benno Ohnesorg sich zur Bemerkung hinreissen lassen, die Studenten wären diese Tage die neuen Juden gewesen. Unterstellen sie ihm jetzt auch Antisemitismus oder Shoah-Relativierung.
„Es war zu erwarten: Kaum stellt jemand den anerkannten Meinungskanon über „1968“ öffentlich in Frage, ist die Empörung groß.“
Eine bemerkenswerte Projektionsleistung, alle Achtung. Zwar wird alle Nase lang die Schuld für jedes Übel auf die 68er geschoben und das nicht nur von Eva Hermann, es gibt jede zweite Woche mindestens ein Diskussion im Fernsehen darüber, wie bösartig die 68er doch waren und wie besonnen doch die BRD war, aber sie sehen auch nur selektiv das, was sie sehen wollen.
darauf warte ich schon die ganze zeit – dass adorno antisemitismus vorgeworfen wird.
uiuiui.
eventuell was für die nächste ausgabe?
[…] Mein Kampf, dein Kampf « bonjour tristesse […]