Das Kabarett ist ein Volksspielhaus für Kleinkunst. Eine Ideologieschleuder für vergreiste Bildungsbürger, kultureller Treffpunkt der Stammwählerschaft der SPD und Verdienstmöglichkeit für gescheiterte Theaterschauspieler. Ein unangenehmer Ort also, an dem flache Namensanspielungen und Doppeldeutigkeiten – „Pfeffermühle“ (Leipzig), „Wühlmäuse“ (Berlin), „Denkzettel“ (Erfurt) – zu Hause sind. Erhöht man nun das Alter der Besucher und verringert ihren Bildungsgrad, ersetzt „Sozialdemokratie“ durch „Linkspartei“ und begreift das Kabarett nicht als Verdienstmöglichkeit für Laienschauspieler, sondern als Vollzeitarbeitsstätte engagierter Regionalpolitiker, befindet man sich im politisch-satirischen Kabarett Magdeburgs: der „Zwickmühle“. Im letzten Spielplan sprachen die Kabarettisten den einfachen Geistern Magdeburgs aus der Seele. Auf dem Deckblatt des Programmheftes war Roland Koch mit einer angedeuteten SS-Uniform abgebildet. Im Hintergrund standen drei Kabarettisten unter der abgewandelten Inschrift des Eingangstores von Auschwitz: „Hartz IV macht frei“. Nachdem der „Grünen“-Stadtratsabgeordnete Sören Herbst seine geschmacklichen Vorbehalte gegenüber diesem Vergleich äußerte und damit eine Diskussion über die Grenzen der Satire auslöste, antwortete ihm der Gründer und Besitzer der „Zwickmühle“, Hans-Günther Pölitz, in einem offenen Brief. Er beharrte auf der Narrenfreiheit der Kunst und rechtfertigte das Deckblatt folgendermaßen: „Diese Collage soll in keiner Weise die Opfer des Holocaust verhöhnen […], sondern vielmehr ein Schutz der Hartz-IV-Betroffenen sein, die unfreiwillig in diese Lage geraten sind, aber von der Politik immer mehr an den Rand des ‚werten Lebens‘ gedrängt werden.“ Die Collage solle vor allem verdeutlichen, „welchen Leuten“ – gemeint waren offensichtlich Neonazis – die Argumentation Roland Kochs dienen würde und welche Konsequenzen aus ihr folgen könnten. Nun gründet sich in der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts nach fast 70 Jahren doch noch ein Ableger der „Weißen Rose“. Mit spezieller Prägung. So bedarf es doch eines ganz besonderen Geschichtsbewusstseins, um mit den von den Deutschen ermordeten Juden auf das Schicksal der Arbeitslosen von Magdeburg hinzuweisen. Der Unterschied zwischen industriellem Massenmord und Sanktionen gegen Arbeitslose ist für die historisierenden Satiriker Magdeburgs die Differenz von Milch und Butter: ein gradueller Unterschied. „Wir finden das neue Programm-Faltblatt sehr gelungen, denn für uns offenbart es, dass auch Hartz-IV eine menschenverachtende politische Maßnahme darstellt, die von deutschen Politikern […] noch als bezahlter Urlaub angesehen wird“, tönen Renate und Helmut Heilmann – nach Selbstauskunft zwei „begeisterte Besucher all Eurer bisherigen und aller zukünftigen Programme“ – im Online-Gästebuch des Kabaretts. Weiter schreiben sie: „Wenn man die Geschichte kennt und weiß, dass die Nazis Tausende Juden unter dem Motto von Erholungsfahrten in die Vernichtungslager trieben, ist wohl der Kreis geschlossen.“ Klare Geschichte: Nach einem verpassten Termin beim Arbeitsamt und nicht erbrachten Eingliederungsleistungen droht die direkte Erschießung der Arbeitsunwilligen in den Magdeburger Wäldern. Historischer Analogkäse. Das Geschichtsbild der Kabarettfreunde aus Magdeburg ist ungefähr so komplex wie der Ortsplan von Pölchow. Doch nicht nur die beiden mitteilungsbedürftigen Heim-Historiker Heilmann & Heilmann fanden Gefallen am Programmheft der „Zwickmühle“. Auch die NPD begeisterte sich für die Darstellung Roland Kochs als „Hartz-Hetzer“. Sie verteidigte die Kabarettisten in einer Pressemitteilung gegen die Kritik des „roten“ Stadtrats. Warum Hans-Günther Pölitz’ Warnung vor den deutschen Neonazis, denen – wir erinnern uns – diese „Argumentation wirklich dienen könnte“, dermaßen ihr Ziel verfehlte, bleibt sein persönliches Geheimnis. (haj)
Satire mach dumm
28. Juni 2010 von bonjour tristesse
Veröffentlicht in Zeitung | 1 Kommentar
Eine Antwort
Hinterlasse einen Kommentar Antwort abbrechen
Ausgaben (pdf)
bonjour tristesse #25 (Sonderausgabe 2022)
bonjour tristesse #24 (Sonderausgabe 2019)
bonjour tristesse #23
bonjour tristesse #22
bonjour tristesse #G20 (Sonderausgabe 2017)
bonjour tristesse #21
bonjour tristesse #20
bonjour tristesse #19
bonjour tristesse #17/18
bonjour tristesse #16
bonjour tristesse #15
bonjour tristesse #14
bonjour tristesse #13
bonjour tristesse #12
bonjour tristesse #11
bonjour tristesse #10
bonjour tristesse #9
bonjour tristesse #8
bonjour tristesse #7
bonjour tristesse #6
bonjour tristesse #5
bonjour tristesse #4
bonjour tristesse #3
bonjour tristesse #2
bonjour tristesse #1-
Aktuelle Beiträge
- Halles unentdeckte Documenta. Über einen ausgebliebenen Antisemitismusskandal.
- Der Stein des Anstoßes. Ein Diskussionsbeitrag zur Spontandemonstration gegen die Auflösung der AG Antifa.
- Editorial
- Der Exorzismus der Andersdenkenden. Judith Butler und die Folgen
- Von Transexualität zu Transgender. Über die Konsequenzen eines begrifflichen Wandels
- Offener Brief an Radio Corax zur Mobilisierung gegen die Vortrags- und Diskussionsveranstaltung der AG Antifa mit Vojin Saša Vukadinović und Hannah Kassimi am 17. September 2021
- Stellungnahme zur Podiumsveranstaltung am 17.09.2021
- Self-ID und Penisfetisch. Über frauen-, schwulen- und lesbenfeindliche Tendenzen im Queerfeminismus
- Der Triumph der Gleichheit. Vom Verschwinden der Geschlechter
- Stellungnahme zum Auflösungsantrag
- Zu einigen der Vorwürfe gegen die AG Antifa
- Diese rote Linie ist ein Phantasiekonstrukt, um uns loszuwerden
- Wen wollt ihr eigentlich verarschen?
- Geschäftsmodell Racial Profiling
- Solidaritätsbekundungen
- Bericht zur Demonstration „Raise your Voice against TERFs“
- Klara Stock und Co.: Holocaustrelativierung light
- Interview mit dem Roten Netzwerk Halle
- M wie Möhre (Kurzmitteilung)
Kommentare
- Anonymous bei Halles unentdeckte Documenta. Über einen ausgebliebenen Antisemitismusskandal.
- Die verfolgende Unschuld | AG »No Tears for Krauts«AG »No Tears for Krauts« bei Bericht zur Demonstration „Raise your Voice against TERFs“
- Anonymous bei Der deutscheste Jude der Welt
- Kurztexte – Teil I | bei Halles unentdeckte Documenta. Über einen ausgebliebenen Antisemitismusskandal.
- Linus bei „Egotronic“ im Interview: „Ich habe mit Hedonismus nichts am Hut!“
- sashakisselkova bei Halles unentdeckte Documenta. Über einen ausgebliebenen Antisemitismusskandal.
- sashakisselkova bei Halles unentdeckte Documenta. Über einen ausgebliebenen Antisemitismusskandal.
- Was heißt Antifaschismus heute? | AG »No Tears for Krauts«AG »No Tears for Krauts« bei Was heißt Antifaschismus heute?
- Presse zur Auflösung des AK Antifa im Stura der Uni Halle | ag antifa Halle bei Der Stein des Anstoßes. Ein Diskussionsbeitrag zur Spontandemonstration gegen die Auflösung der AG Antifa.
- Zum Verbot der AG Antifa. Ein Bericht über die Proteste. — AG »No Tears for Krauts«AG »No Tears for Krauts« bei Der Stein des Anstoßes. Ein Diskussionsbeitrag zur Spontandemonstration gegen die Auflösung der AG Antifa.
-
-
[…] aus der Provinz: Es war einmal ein Kiez, Hauptsache Dreck, Bauer sucht Frau, Barbaren unter sich, Satire macht dumm, Wer solche Feinde hat…, Halles beliebtestes Schimpfwort, Sachsen-Anhalt – Dein Land!, […]